Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.08.2014, Az.: 2 ME 272/14

Förderschule Lernen; Grundschule; Inklusion; inklusive Grundschule; Schule; Schulform; Wahlrecht

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.08.2014
Aktenzeichen
2 ME 272/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42654
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 18.07.2014 - AZ: 6 B 107/14

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zumindest mit Verbindlichkeit für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist davon auszugehen, dass im Fokus des Umsetzungsprozesses der UN BRK das Wohl des einzelnen Kindes und seine Förderung zu stehen hat, wobei die Förderung den bislang erreichten Standard der Förderschulpädagogik nicht unterschreiten darf, denn das würde die Ziele der UN BRK konterkarieren.
In einem etwaigen Hauptsacheverfahren wäre ggfs. die Frage aufzuwerfen, ob der sukzessive Fortfall der Primarstufe der Förderschule Lernen (vgl. § 14 Abs. 4 Satz 2 iVm. 183 c NSchulG) bei gleichzeitiger unzureichender Ausstattung der inklusiven Grundschule verfassungsrechtlichen Anforderungen standhält.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 6. Kammer - vom 18. Juli 2014 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat sie vielmehr zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) verpflichtet, den Antragsteller noch während des Laufs der 1. Klasse an der inklusiven Grundschule mit sofortiger Wirkung in die 2. Klasse der Förderschule Lernen zu überweisen. Der Senat verweist auf die überzeugenden umfangreichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts und macht sie sich zu eigen, um Wiederholungen zu vermeiden (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Da inzwischen ein neues Schuljahr begonnen hat, wandelt sich der Inhalt der einstweiligen Anordnung dahin um, dass der Antragsteller nunmehr in die 3. Klasse der Förderschule zu überweisen ist.

Im Hinblick auf den Beschwerdevortrag der Antragsgegnerin sei nach der in diesem Verfahren nur gebotenen summarischen Prüfung ergänzend lediglich ausgeführt:

Grundsätzlich haben die Eltern ein Wahlrecht hinsichtlich der Schulform (§ 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. 59 Abs. 1 Satz 1 NSchulG). Dies gilt allerdings nur unter Beachtung der zum Bildungsweg (§ 60 NSchulG iVm. den dazu ergangenen Verordnungen) bestehenden Vorgaben. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin können die Vorgaben in der Durchlässigkeits- und Versetzungsverordnung (idF. v. 10.5.2012, NdsGVBl. 2012, 122, DVVO) der Überweisung aber voraussichtlich nicht entgegen gehalten werden. Denn in der DVVO werden im Wesentlichen leistungsbedingte Klassen- und Schulformänderungen geregelt, während es vorliegend um eine sonderpädagogisch-förderbedingte Überweisung geht (Brockmann/Littmann/Schippmann, Nds. SchulG, Stand: März 2014, § 60 Anm. 3.2). Diese förderungsbedingte Überweisung lässt sich in die Terminologie der DVVO nicht einordnen, worauf bereits das Verwaltungsgericht hingewiesen hat (BA S. 9). Zu berücksichtigen ist zudem, dass an Förderschulen häufig - so auch vorliegend - in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen gearbeitet wird, was einer rein formellen „Klassenbetrachtung“ entgegensteht.

Unabhängig davon enthält § 59 Abs. 5 Satz 1 NSchulG (idFd. Gesetzes zur Einführung der inklusiven Schule v. 23.3.2012, NdsGVBl 2012, 34) eine besondere Rechtsgrundlage für eine auf sonderpädagogischen Überlegungen beruhende förderungsbedingte Überweisung an eine Förderschule. Auch diese Vorschrift gibt indes für die Auffassung der Antragsgegnerin, generell sei ein Wechsel aus einer 1. Klasse einer Grundschule nur in eine 1. Klasse einer Förderschule zulässig, nichts her. Einer derartig formellen Betrachtung stände auch Sinn und Zweck einer sonderpädagogisch förderungsbedingten Überweisung entgegen, die sich in erster Linie an dem Wohl des betreffenden Kindes, und damit konkret an den jeweils gegebenen individuellen Verhältnissen zu orientieren hat (vgl. Brockmann/Littmann/Schippmann, Nds. SchulG, Stand: März 2014, § 59 Anm. 6.1, § 60 Anm. 3.2 - 3.5). Dies gilt unabhängig davon, ob die Landesschulbehörde - wovon § 59 Abs. 5 NSchulG als Regelfall ausgeht - im Wege der Eingriffsverwaltung gegen den Willen der Erziehungsberechtigten eine Überweisung verfügt oder ob die Behörde (wie hier) auf Antrag des Betroffenen durch eine einstweilige Verfügung dazu verpflichtet wird. Soweit Auslegungszweifel verbleiben mögen, stellt der Senat diese wegen der Eilbedürftigkeit der Sache zurück, um eine weitere Verfestigung eines möglicherweise verfassungsfernen Zustandes zu vermeiden.

Die individuellen Besonderheiten rechtfertigen die Überweisung unmittelbar in die 2. (nunmehr 3.) Klasse der Förderschule; denn die 1. Klasse der Förderschule Lernen wurde seit dem Schuljahr 2013/2014 nicht mehr vorgehalten (gleiches gilt mittlerweile für die 2. Klasse) und gegenüber dem Verbleib in der inklusiven Grundschule oder einer auch erwogenen erneuten befristeten stationären Unterbringung entspricht der Besuch der Förderschule dem Kindeswohl.

Nach Auswertung der vorliegenden Gutachten (u.a. St. des Heilkindergartens, der Grundschul-Klassenlehrerin und des Förderlehrers der Förderschule Lernen, Berichte des AWO-Psychiatriezentrums, dort war der Antragsteller stationär vom 26.11.2013 - 28.1.2014 aufgenommen) war/ist wegen der gravierenden Defizite (u.a. sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörung, unterdurchschnittliche Intelligenz, Störung aus dem Autismus-Spektrum) der Wechsel auf die Förderschule derzeit die einzige Möglichkeit, dem Recht des Antragstellers auf Bildung und auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit so weitgehend wie möglich zu entsprechen; denn der Antragsteller benötigt - was in allen vorliegenden Gutachten übereinstimmend zum Ausdruck kommt - kleine Lerngruppen, einen überschaubaren sozialen Rahmen und eine intensive Förderung im kognitiven Bereich. Die inklusive Grundschule, die der um ein Jahr zurückgestellte Antragsteller seit dem Schuljahr 2013/2014 mit Unterbrechungen besucht, kann diese Anforderungen mit den dort nur gegebenen Förderungsmöglichkeiten nicht erfüllen, was aus den Berichten der Grundschule deutlich wird. In dem Fördergutachten wurde/wird zudem der Übergang direkt in die 2. Klasse als vertretbar angesehen. Dafür, dass für diese Empfehlung andere Gründe als die des Kindeswohls maßgebend waren (etwa eigene Interessen der Förderschule an ihrem Bestand), liegen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

Die Ausführungen der Antragsgegnerin in der Beschwerdeschrift, es sei nicht belegt, dass der Antragsteller an der Grundschule nicht bedarfsgerecht gefördert werden könne, überzeugen den Senat nicht.

Sie stehen zum einen im Widerspruch zu den Gutachten, ohne dass die Antragsgegnerin sich hiermit zureichend auseinandersetzt. Sie stehen zum anderen auch im Widerspruch zum bisherigen Vortrag der Antragsgegnerin selbst. So hat diese in ihrer sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf feststellenden Verfügung vom 18. März 2014 u.a. festgehalten, der Antragsteller benötige seinem Lernprofil angepasste Lehrgänge in den Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik jeweils mit Kleinschrittigkeit und einem auf ihn passenden Materialeinsatz; er benötige intensive Zuwendung beim Aufbau situationsangemessener Toleranz, bei einer umfassenden Umwelterschließung, beim Erlernen von Schul- und Gruppenregeln sowie beim Erkennen der eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse anderer; er binde ständig Aufmerksamkeit, störe vielfältig den Unterricht, provoziere Konflikte und löse diese auch mit aggressiven Mitteln. Nach einer Stellungnahme der Grundschule im erstinstanzlichen Verfahren attackiert er Lehrer mit Tritten, würgt und kneift Mitschüler, wirft mit Stühlen, so dass die Schule mittlerweile Ordnungsmaßnahmen (Androhung eines Unterrichtsausschlusses) ergriffen hat. Der Senat teilt bezogen auf das vorliegende Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wonach diese gegenüber dem Verhalten im Heilkindergarten deutlich gesteigerte Aggression auf einer gravierenden Überforderung des Antragstellers an der Grundschule beruhen dürfte.

Wie die Schule diese Überforderung durch die ihr auch nach Darstellung der Antragsgegnerin in der o.a. Verfügung (nur) zur Verfügung stehenden Mittel (letztlich kann die Grundschule einmal pro Woche Mathematik-Förderunterricht und eine Förderstunde zum Bereich Lesen anbieten; der in der Verfügung weiter erwähnten Möglichkeit der Lehrer, jeweils zusätzlich zu dem allen Schülern zu erteilenden Unterricht auch noch individuell auf den Antragsteller einzuwirken, sind ersichtlich Grenzen gesetzt) auffangen soll, erklärt die Antragsgegnerin nicht, sondern macht im Gegenteil deutlich, weitere pädagogische (Lehr-)Kräfte könnten an der Grundschule nicht zur Verfügung gestellt werden. Mit ihrer weiteren Argumentation im Beschwerdeverfahren, die gravierenden Auffälligkeiten des Antragstellers lägen zu einem großen Teil außerhalb des festgestellten sozialpädagogischen Förderbedarfs Lernen und müssten daher über die Jugendhilfe (z.B. durch einen Schulbegleiter) aufgefangen werden, teilt sie das Krankheitsbild nach derzeitiger Einschätzung in unzulässiger Weise auf. Ursache und Wirkung lassen sich indes nicht in dieser (schlicht) behaupteten Weise voneinander trennen, (vorliegend hat der Landkreis die Übernahme von Kosten unter Hinweis auf den sonderpädagogischen Förderungsschwerpunkt abgelehnt; zu dieser Problematik vgl. Esser, Schulbegleitung, Kostenübernahme durch Sozialhilfeträger oder Aufgabe der Schulverwaltung, RdLH 2014, 30 ff; Axmann; Welchen Einfluss haben die Schulgesetze auf den Kernbereich der pädagogischen Arbeit, RdLH 2014, 77 f).

Die Antragsgegnerin verkennt in ihrer Argumentation wesentliche Elemente der Ausrichtung des Schulsystems auf eine inklusive Beschulung iSd. UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Mit der Einführung der inklusiven Schule wird nach den Gesetzesmaterialien das Ziel verfolgt, dass alle Schülern (behindert und nicht behindert) an jedem Lernort ihren Bedürfnissen und Ansprüchen entsprechend lernen können, die notwendige Qualität und der erforderliche Umfang an Unterstützung für alle Schüler gesichert sind und sonderpädagogische Bildungsangebote ein qualitativ hochwertiges gemeinsames Lernen ermöglichen. Es soll eine bestmögliche Förderung erfolgen, zugleich sollen Kinder vor einem Scheitern mit folgender Lernunlust und einem nachfolgenden völligen Schulversagen durch Über- oder Unterforderungen geschützt werden. Zudem soll „das Kindeswohl (berücksichtigt werden), wie es in Artikel 7 Abs. 2 der UN-BRK und Artikel 3 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (BGBl. 1992, Teil II, S. 990) gefordert wird und wie es auch der Bundestag von den Ländern in der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erwartet (Beschluss des Bundestages vom 08.97.2011, BT-DrS. 17/4862 und 17/6155“ (LT-DrS 16/4137 S. 6, 12, 13.). Im Fokus des Umsetzungsprozesses hat mithin das Wohl des einzelnen Kindes und seine Förderung zu stehen, wobei die Förderung allerdings den bislang erreichten Standard der Förderschulpädagogik nicht unterschreiten darf (vgl. hierzu auch Dr. Faber, Die Umsetzung der Inklusion durch das Neunte Schulrechtsänderungsgesetz in Nordrhein-Westfalen, NWVBl 2014, 8 ff); denn das würde die Ziele der UN-BRK konterkarieren. Die Antragsgegnerin kann daher nicht einerseits auf eine (grundsätzlich) vorhandene inklusive Beschulungsmöglichkeit an der Grundschule verweisen, obgleich die Grundschule diese Aufgabe bezogen auf die individuellen Bedürfnisse des Antragstellers ersichtlich nicht ohne eine (ausdrücklich nicht zu erwartende) Zuweisung weiterer sonderpädagogischer (Lehr-)Kräfte erfüllen kann, andererseits aber eine Zuweisung in die im Zeitpunkt des Beschlusses noch vorhandene 2, nunmehr 3. Klasse der Förderschule Lernen - von einem vorrangigen Bedarf im Bereich emotionale und soziale Kompetenz geht (auch) die Antragsgegnerin zur Zeit nicht aus - verweigern, obgleich die vorliegenden Gutachten eine Mitarbeit des Antragstellers in der der Förderschule Lernen als aussichtsreich bewerten. In einem etwaigen Hauptsacheverfahren wäre daher die Frage aufzuwerfen, ob der sukzessive Fortfall der Primarstufe der Förderschule Lernen (vgl. § 14 Abs. 4 Satz 2 iVm. 183 c NSchulG) bei gleichzeitiger unzureichender Ausstattung der inklusiven Grundschule verfassungsrechtlichen Anforderungen standhält. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Antragsgegnerin sich auch nicht etwa auf fehlende Ressourcen an der inklusiven Grundschule unter Hinweis auf Art. 4 Abs. 2 UN-BRK zurückziehen kann; denn der dort aufgenommene „Vorbehalt der progressiven Realisierung“ (Brockmann/Littmann/Schippmann, Nds. SchulG, Stand: März 2014, § 4 Anm. 1; Dr. Faber, Die Umsetzung der Inklusion durch das Neunte Schulrechtsänderungsgesetz in Nordrhein-Westfalen, NWVBl 2014, 8 ff) trifft nicht den vorliegende Fall, dass mangels zureichender Ausstattung die Förderung an der inklusiven Grundschule hinter dem schon erreichten Förderungsstand an der Förderschule Lernen zurückbleibt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Es war der volle Auffangwert anzusetzen, weil das Verfahren letztlich die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnimmt.