Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.05.2023, Az.: 5 A 3710/21

StlÜbK; Ausweisung; inlandsbezogene Ausweisung; Rückführungsrichtlinie; Rückkehrentscheidung; Staatenlosigkeit; Ausweisung eines Staatenlosen; Einreise- und Aufenthaltsverbot

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.05.2023
Aktenzeichen
5 A 3710/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 27171
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0510.5A3710.21.00

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 06.03.2024 - AZ: 13 LC 116/23

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Ausweisung stellt selbst keine Rückkehrentscheidung dar (BVerwG, Beschluss vom 9.5.2019 BVerwG 1 C 14.19 , juris) und ist daher nicht an der Rückführungsrichtlinie zu messen (BVerwG, Urteil vom 16.2.2022 BVerwG 1 C 6.21 , juris Rn. 41).

  2. 2.

    Spezialpräventive und generalpräventive Gründe begründen auch bei einer inlandsbezogenen Ausweisung ein berechtigtes öffentliches Interesse an der Ausweisung, selbst wenn diese wegen seiner Staatenlosigkeit keine Auswirkungen auf den Aufenthalt des ausreisepflichtigen Klägers im Bundesgebiet hat.

  3. 3.

    Eine Abschiebungsandrohung, die ohne Bestimmung des Zielstaats und gegen einen Staatenlosen ergangen ist, ist ungeachtet ihrer Bestandskraft keine wirksame Rückkehrentscheidung i. S. des EuGH, Urteil vom 3.6.2021 C 546/19 , juris.

  4. 4.

    Nach der neueren Rechtsprechung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 22.11.2022 C-69/21 , juris) ist der Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie nicht eröffnet, wenn eine Rückkehrentscheidung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht ergehen kann (Abkehr von EuGH, Urteil vom 3.6.2021 - C-546/19 , juris). Infolgedessen steht die Rückführungsrichtlinie einer "inlandsbezogenen Ausweisung" und auch einem daran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht entgegen, das praktisch nur die Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels verhindert (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 19.12.2022 7 K 3853/20 , juris).

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die vorläufige Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. April 2021, mit dem er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von sechs Jahren angeordnet wurde.

Der Kläger ist am G. 1979 in Beirut, Libanon, geboren und reiste am H. 1990 als Minderjähriger mit seinem Vater I. J., geboren 1941 in Beirut, Libanon, und drei Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Großvater väterlicherseits ist nachweislich als türkischer Staatsangehöriger namens K. L. im Register des Standesamts Batman mit der Identifikationsnummer M., geb. am N. 1923, als verheiratet eingetragen. Der Vater des Klägers ist hingegen nicht im türkischen Personenstandsregister eingetragen. Der Vater sowie einige andere Familienangehörige des Klägers leben in Deutschland; in der Türkei leben die Verwandten seines Vaters und im Libanon u. a. seine Mutter und weitere Geschwister.

Die Familie des Klägers meldete sich zunächst als Asylsuchende und erhielt Aufenthaltsgestattungen, erklärte dann aber, keinen Asylantrag gestellt zu haben, sodass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge feststellte, dass kein Asylantrag vorliege und das Asylverfahren einstellte.

Nachdem sein Aufenthalt anschließend aus tatsächlichen Gründen geduldet worden war, erhielt der Kläger aufgrund eines Erlasses des Innenministeriums für Nordrhein-Westfalen ("Altfallregelung") erstmals am 7. November 1996 eine für sechs Monate gültige Aufenthaltsbefugnis, welche fortlaufend verlängert wurde. Nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) bekam der Kläger am 28. Januar 2005 eine bis zum 27. Januar 2007 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Der Kläger stellte dann einen Verlängerungsantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 26. Oktober 2007 ablehnte. Der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stehe § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG entgegen. Mit dem Bescheid setzte die Beklagte auch eine Frist zur freiwilligen Ausreise von einem Monat nach Zustellung der Verfügung und drohte die zwangsweise Abschiebung in das Heimatland an. Aufgrund der Androhung könne er auch in einen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zur Rückübernahme verpflichtet sei. § 59 Abs. 2 AufenthG sehe die Bezeichnung des Zielstaates der Abschiebung nur für den Regelfall vor. Die Staatsangehörigkeit des Klägers sei jedoch ungeklärt. Da eine Abschiebung derzeit aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sei, werde er vorübergehend geduldet, solange die Duldungsgründe gem. § 60a Abs. 2 AufenthG bestünden. Der Bescheid ist seit dem 14. September 2009 rechtskräftig (vgl. VG Hannover, Urteil vom 25.6.2009 - 7 A 5870/07 -; und Nds. OVG, Beschluss vom 14.9.2009 - 11 LA 390/09 -).

Seitdem ist der Kläger vollziehbar ausreisepflichtig, sein Aufenthalt wird aber wegen seiner Passlosigkeit fortlaufend geduldet. Er hat weder den Hauptschulabschluss erworben noch eine Berufsausbildung absolviert. Eine Beschäftigung ist ihm erlaubt. Er war in der Zeit von 2013 bis 2015 in einem Shisha-Shop angestellt. Seit 2015 ist der Kläger überwiegend erwerbslos und bezieht Sozialleistungen. Er bemüht sich aber immer wieder um eine Arbeitsstelle. Am O. 2020 erlitt er als Helfer in einem Baumarkt einen schweren Arbeitsunfall mit Mehrfachfrakturen am rechten Fuß. Er verfügt deswegen mittlerweile nachweislich über einen festgestellten Grad der Behinderung (GdB) von 20. Der Fuß wurde am P. 2022 operiert.

Am 13. März 2012 beantragte der Kläger erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie erstmalig die Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose. Mit Bescheid vom 11. Oktober 2012 lehnte die Beklagte die Anträge des Klägers ab und verwies erneut auf die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts und die Ausweisungsinteressen. Zudem habe der Kläger nicht nachgewiesen, dass er staatenlos sei.

Gegen die ablehnende Entscheidung erhob der Kläger am Q. 2012 Klage (Az. 5 A 1570/21) und legte im Laufe des Verfahrens zahlreiche Nachweise für seine fruchtlosen Bemühungen um den Nachweis einer türkischen Staatsangehörigkeit vor. Zu seiner persönlichen Situation trug er - soweit hier von Bedeutung - ergänzend vor, dass er kurzfristige Arbeitsmöglichkeiten wegen des Duldungsstatus nicht habe antreten können oder zuletzt wegen der Belastung für seinen Fuß habe aufgeben müssen. Es sei ihm derzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht (mehr) möglich, seinen Lebensunterhalt selbst zu sichern. Zudem habe er sich zeitweise in ambulanter Behandlung in der Psychiatrie Wunstorf befunden. Ihn belaste seine Passlosigkeit mittlerweile stark. Er fühle sich in Deutschland gefangen. Er habe seit Jahren seine im Libanon und in der Türkei lebende Familie nicht gesehen. Er habe dadurch angefangen, Kokain zu konsumieren und sei spielsüchtig und kriminell geworden. Nach eigener Aussage habe er fünf Jahre lang jeden Tag 3-4 Gramm Kokain genommen.

Der Kläger tritt seit Jahren regelmäßig strafrechtlich in Erscheinung. Nach drei Jugendstrafen vom 14. November 1997 wegen Diebstahls (zwei Monate Jugendarrest), 18. Dezember 1999 wegen Diebstahls (drei Wochen Jugendarrest) und 15. November 2000 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls (sechs Monate Jugendstrafe) wurde er wie folgt verurteilt:

1. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Frankfurt a. M. vom 13. Juni 2006 wegen einer am 24. Januar 2006 begangenen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen;

2. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts C-Stadt vom 21. Dezember 2006 wegen einer am 24. Oktober 2006 begangenen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen;

3. Mit Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 21. September 2007 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde;

4. Mit Urteil des Amtsgericht C-Stadt vom 30. Januar2008 wegen Betruges - unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts A-Stadt vom 21. September 2007 - zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde;

5. Mit Urteil des Amtsgerichts Frankfurt a. M. vom 6. Juli2011 wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, deren Vollstreckung - im Rahmen der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt - "unter Zurückstellung nicht unerheblicher Bedenken" zur Bewährung ausgesetzt wurde;

6. Mit Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 8. Juli 2013 wegen einer am 7. Oktober 2010 begangenen versuchten Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen;

7. Mit Urteil des Amtsgerichts C-Stadt vom 9. März 2017 wegen des zuletzt am 7. Oktober 2016 begangenen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln (Kokain) in 40 Fällen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen;

8. Mit Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 20. März 2018 wegen eines am 23. September 2017 begangenen Diebstahls in einem besonders schweren Fall zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen; der Kläger hatte die Summe an den geschädigten Betrieb bereits vor der Verurteilung zurückgezahlt, die Geldstrafe wurde überwiegend von einem Freund in Raten gezahlt.

9. Mit Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 17. April 2019 wegen zwischen Februar und Juni 2018 begangenen Diebstahls in vier Fällen in Tatmehrheit mit 42 Fällen des Computerbetrugs in Tatmehrheit mit Raub zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Der Kläger entwendete mehrere EC-Karten, erlangte Kenntnis von den PINs und nutzte diese, um Geld von den Konten der Betroffenen abzuheben. Neben der Freiheitsstrafe wurden die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 13.048,21 Euro und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Zugunsten des Klägers wurde berücksichtigt, dass er geständig, einsichtig und reumütig war, die Taten aufgrund von Spielsucht und Kokainabhängigkeit im Sinne von Beschaffungskriminalität begangen habe und bei einigen Delikten intoxikationsbedingt nicht ausschließbar vermindert schuldfähig war (§ 21 StGB). Zu Lasten des Klägers habe gesprochen, dass er strafrechtlich bereits vielfach, auch einschlägig in Erscheinung getreten sei, teilweise ein erheblicher materieller Schaden eingetreten sei, der Angeklagte als Serientäter eine erhebliche kriminelle Energie gezeigt habe und betreffend der Raubtat eine Eskalation in Bezug auf die sonstige Tatbegehung vorliege.

Ab dem R. 2018 befand sich der Kläger in der Justizvollzugsanstalt S. in Haft, wurde aber in der Entziehungsanstalt im T. -Klinikum in U. untergebracht. Nach Auskunft des Klinikums waren allerdings mehrere Drogentests positiv, der Kläger leugnete die Rückfälle und beschimpfte und bedrohte das Klinikpersonal. Mit Beschluss des Landgerichts A-Stadts vom V. 2020 wurde die zugrunde liegende Maßregel daher für erledigt erklärt. Für eine Aussetzung des Vollzugs der Reststrafe zur Bewährung fehle zudem angesichts der nach wie vor bestehenden Suchterkrankung jeglicher Anhaltspunkt für eine positive Prognose i. S. d. § 57 Abs. 1, Abs. 2 StGB. In einem Bericht aus dem Maßregelvollzug vom 13. August 2020 wurde sodann eine "psychische und Verhaltensstörung durch Kokain - Abhängigkeit, derzeit abstinent unter geschützten Bedingungen sowie pathologisches Spielen" diagnostiziert. Dort berichtete der Kläger auch von einer Beziehung aus dem Jahre 1999. Er habe die Frau "W." im selben Jahr im Libanon geheiratet und im Jahr 2000 einen Sohn bekommen. Die Beziehung sei 2003 gescheitert. 2004 habe er seine Cousine mütterlicherseits kennengelernt und im selben Jahr geheiratet. Die Ehe bestehe bis heute, die Ehefrau habe ihn auch im Gefängnis besucht. Er berichtet auch von seinem Drogenkonsum, seit 2013 bis zur Verhaftung im Juni 2017 habe er insbesondere zunehmend Kokain konsumiert. Am 8. Juli 2020 wurde er in die Justizvollzugsanstalt X. verlegt und zum Y. 2021 entlassen. Im aktuellen Bundeszentralregisterauszug finden sich noch 11 Eintragungen. Demnach steht der Kläger nach vollständiger Verbüßung der Strafe bis 21. April 2026 unter Führungsaufsicht.

Die Führungsaufsicht des Klägers wies gegenüber dem Gericht mit Schreiben vom 12. Juli 2021 im Verfahren 5 A Z. /21 ebenfalls auf die psychische Belastung des Klägers hin und erkundigte sich mehrmals nach dem Sachstand. In einer weiteren Stellungnahme vom 27. August 2022 schilderte die Führungsaufsicht, dass der Kläger mit der nach islamischen Recht angetrauten Ehefrau zusammenlebe. Die Auflagen und Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht würden eingehalten, er halte sehr regelmäßig Kontakt. Er nehme seit 2022 therapeutische Unterstützung in Anspruch. Auch im Rahmen der Rehabilitation seines Fußes habe er psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Es bestünden weiter massive Schmerzen trotz erfolgter Operation im Frühjahr 2022. Eine vollständige Heilung sei laut Ärzten ausgeschlossen.

Im Laufe der gerichtlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht wandte sich der Kläger wiederholt telefonisch an die Beklagte und an das erkennende Gericht und zeigte eine sehr aggressive Haltung bis hin zu einer Bedrohung zum Nachteil des erkennenden Einzelrichters. Mit Strafbefehl vom 5. Oktober 2021 wurde der (dort als "staatenlos" geführte) Kläger wegen dieser Bedrohung vom Amtsgericht C-Stadt zunächst zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten zur Bewährung verurteilt. Nach dem Einspruch des Klägers hat dieser im Rahmen der Hauptverhandlung die Aussagen bestritten und weiterhin behauptet, dass er mit einem falschen Pass in die Türkei und nach Ägypten gereist sei. Daraufhin wurde der Kläger vom Landgericht C-Stadt wegen Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung und einem Geldbetrag von 500 Euro verurteilt. Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre, ein Bewährungshelfer wurde bestellt. Zu Gunsten des Klägers wurde berücksichtigt, dass er sich aufgrund seiner ungeklärten ausländerrechtlichen Situation in einem gewissen Erregungszustand befunden habe. Im Übrigen spreche aber "nichts" für ihn. Die Sozialprognose könne "noch gerade" als günstig angesehen werden, da die Erwartung bestehe, dass sich der Kläger bereits die Verurteilung zur Warnung dienen lasse. Der Kläger hat gegen die Verurteilung Berufung eingelegt, die er letztlich mit Schreiben vom 25. November 2022 zurückgenommen hat.

Im Laufe des Verfahrens hat der Kläger sich - soweit ersichtlich - vom P. 2022 bis zum AA. 2022 stationär im AB., AC. und vom AD. 2022 bis zum AE. 2022 stationär im AB., AF., aufnehmen lassen. Der Arztbrief vom AA. 2022 beinhaltet als Diagnosen: Fuß rechts - Z. n. Lisfranc-Luxationsfraktur, Fraktur Metatarsale-2-Köpfchen sowie Nikotinabusus und anamn. rezidiv. Stressbedingte Angststörung. Der psychosomatische Erstbericht vom AG. 2022 wurde nach Vorsprache am AH., G. und AG. 2022 erstellt. Demnach leide der Kläger unter einer posttraumatischen Verbitterungsstörung. Zudem bestehe eine anhaltende Schmerzstörung, sowie psychische und Verhaltensstörung durch Kokain, Abhängigkeitssyndrom, ggw. abstinent, sowie psychische und Verhaltensstörung durch Nikotin, schädlicher Gebrauch und abnorme Gewohnheiten und Störung der Impulskontrolle.

Im strafrechtlichen Berufungsverfahren vor dem Landgericht C-Stadt hat die Kammer ein psychiatrisches Gutachten zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gem. §§ 20, 21 StGB und zur Frage einer etwaigen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB in Auftrag gegeben. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie AI. hat in seinem Gutachten die bisherigen Unterlagen durchgesehen und den Kläger am AJ. 2022 persönlich untersucht. Nach der Aussage des Klägers habe dieser - mit Ausnahme der Maßregel nach § 64 StGB in der Klinik in U. - nur wegen der Bescheinigungen einige Gespräche wahrgenommen. Eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung sei ansonsten nie erfolgt. Er lebe mit Frau AK. zusammen, einer in Deutschland geborenen türkischen Staatsangehörigen. Eine staatlich anerkannte Eheschließung sei nicht möglich, weil der Kläger keinen Pass besitze. Er sei mehrfach mit einem falschen Pass in den Libanon, in die Türkei und in "100 andere Länder" gereist. Den Drogenkonsum habe er 2018 völlig eingestellt. Der Gutachter geht diagnostisch von einer dissozialen Persönlichkeitsakzentuierung bzw. dem Verdacht einer dissozialen Persönlichkeitsstörung auf der Grundlage einer früh einsetzenden Störung des Sozialverhaltens (F 60.2) bei sicher schwierigen sozialen Rahmenbedingungen nach Übersiedlung aus dem Libanon im 10. Lebensjahr aus. Die dissoziale Persönlichkeitsstörung falle generell durch eine große Diskrepanz zwischen dem Verhalten und den geltenden sozialen Normen auf (wird ausgeführt). Sie gehe in aller Regel mit Suchtmittelmissbrauch einher. Die im Bericht des AB. gestellte Diagnose der posttraumatischen Verbitterungsstörung sei eine relativ neue Störungsidentität und eine pathologische Reaktion auf einschneidende Lebensereignisse. Diese Diagnosestellung würde zwar aktuelle Verhaltensweisen des Klägers beschreiben, die mit dem Verhalten in der eigenen Untersuchung durchaus in Übereinstimmung zu bringen sind, allerdings werde dabei offenbar vom Probanden völlig ausgeblendet, dass wahrscheinlich die vielfältigen strafrechtlichen Vorbelastungen und das eigene Verhalten die bestehenden ausländerrechtlichen Schwierigkeiten zumindest mitbedingen dürften. Die vorliegenden Zuschreibungen an Außenstehende seien typisch für Menschen mit dissozialen Störungen. Der zuvor von der Institutsambulanz AL. einmal als Arbeitsdiagnose angedachte Verdacht für das Vorliegen einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ komme der dissozialen Persönlichkeitsstörung sehr nahe. Die Eingangsvoraussetzungen des §§ 20, 21 StGB ließen sich auf der Grundlage der Untersuchung aber nicht positiv belegen.

Im parallelen Verfahren hat der Einzelrichter mit Urteil vom 22. Dezember 2021 (Az. 5 A 1570/21) den Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2012 aufgehoben, soweit die Beklagte darin die Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose abgelehnt hat, und die Beklagte verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose neu zu entscheiden. Der Kläger habe zwar keinen spruchreifen Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose gem. Art. 28 Satz 1 StlÜbk, weil dieser neben der Staatenlosigkeit ausdrücklich einen "rechtmäßigen" Aufenthalt erfordere und der lediglich geduldete Aufenthalt des Klägers diese Voraussetzung nicht erfülle. Eine Legalisierung seines Aufenthalts in Deutschland habe die Beklagte seit langem nicht mehr in Aussicht gestellt, sondern den Kläger nur aufgrund seiner Passlosigkeit geduldet. Der Kläger habe auch keinen spruchreifen Anspruch auf Erteilung des Reiseausweises im Ermessenswege nach Art. 28 Satz 2 StlÜbk.

Der Kläger sei allerdings staatenlos i. S. v. Art. 1 Abs. 1 StlÜbK. Die Bemühungen seines Vaters um eine Registrierung in den türkischen Registern und den Nachweis seiner Staatsangehörigkeit seien jahrelang erfolglos geblieben und hätten die Stadt AM. und das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen dazu bewogen, die Staatenlosigkeit des Vaters anzuerkennen. Auch die Beklagte sei davon ausgegangen, dass eine Nachregistrierung von Generation zu Generation daher ausgeschlossen sei. Eine generationenübergreifende Nachregistrierung sei nach den Erkenntnissen des Gerichts nicht möglich. Die Abstammungsregelung im tStAG beziehe sich auf die Beziehung eines Kindes zu seinem Vater bzw. seiner Mutter. Daher sei bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nicht (mehr) ersichtlich, welche Schritte der Kläger sinnvoller Weise noch unternehmen könne, um die türkischen Behörden zu veranlassen, ihn als eigenen Staatsangehörigen anzuerkennen. Auch die Beklagte habe nicht dargelegt, welche erfolgversprechenden Mitwirkungshandlungen der Kläger insoweit noch schulde.

Soweit die Beklagte im Übrigen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt hatte, sei der Bescheid nach Ansicht des Einzelrichters rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis, da diesem - neben dem zwischenzeitlich erteilten Einreise- und Aufenthaltsverbot - zwei besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen gem. §§ 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a lit. d) AufenthG entgegenstünden. Durchgreifende Bleibeinteressen, die zum jetzigen Zeitpunkt eine atypische Situation und ein Abweichen von der Regelvermutung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG notwendig erscheinen ließen, seien nicht erkennbar. Der Kläger habe sich vorübergehend besser in die deutschen Lebensverhältnisse integriert und dabei insbesondere eine Arbeitstätigkeit aufgenommen, habe diesen Weg aber verlassen und sichere derzeit weder seinen Lebensunterhalt, noch habe er seitdem Integrationsleistungen aufgezeigt. Der Kläger habe außer einer kurzen Zeit der Erwerbstätigkeit nicht gearbeitet, obwohl ihm dies mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit gestattet sei. Soweit er auf die Unsicherheiten durch die ungeklärte Staatsangehörigkeit und seine Krankengeschichte hinweise, so stünden diese einem Leben innerhalb des deutschen Rechtsrahmens nicht entgegen und schlössen eine Arbeitsaufnahme oder anderweitige Integrationsleistungen nicht aus. Die Aufnahme einer Therapie sei zu begrüßen, könne aber derzeit noch keine Gewähr für die dauerhafte Straflosigkeit bieten. Auch gegenüber dem Gericht habe sich der Kläger mehrmals aggressiv verhalten. Zusammen mit den weiteren Straftaten ergäben sich damit zahlreiche Vorfälle, die sich - trotz wiederholter Vorhalte der Beteiligten auf Klägerseite - nicht nur mit einer Suchtproblematik erklären ließen. Gegen das Urteil des Einzelrichters haben der Kläger und die Beklagte Berufungszulassungsanträge gestellt, über die bisher noch entschieden wurde (Az. 13 LA 35/22).

Nach Anhörung mit Schreiben vom 12. Juni 2020 wies die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom AN. 2021 aus dem Bundesgebiet aus und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von sechs Jahren an. Der Kläger sei vollziehbar ausreisepflichtig, da ihm mit Bescheid vom 26. Oktober 2007 die Abschiebung in das Heimatland oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zur Rücknahme verpflichtet sei, angedroht worden sei. Im Bescheid vom 9. April 2021 geht die Beklagte weiterhin von einer ungeklärten Staatsangehörigkeit aus. Nach aktuellem Stand sei er kein türkischer Staatsangehöriger. Daher kämen auch die besonderen Voraussetzungen für türkische Staatsangehörige gem. § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zur Anwendung. Es lägen zwei besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen i. S. v. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a lit. d) AufenthG vor. Ein besonders schweres oder schweres Bleibeinteresse sei nicht gegeben, da der Kläger weder familiäre noch sonstige Bindungen im Bundesgebiet habe. Zwar gäben er und die türkische Staatsangehörige Frau AK. an, islamisch verheiratet zu sein. Allerdings lägen dazu keinerlei Nachweise vor. Zudem habe der Kläger zuvor gegenüber der Beklagten nicht angegeben, verheiratet zu sein. Aus den Straftaten des Klägers und seinem gesamten Verhalten werde eine erhebliche kriminelle Energie deutlich. Weitere Straftaten seien zu befürchten, sodass die Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen geboten sei. Die Ausweisung sei auch durch generalpräventive Gründe gerechtfertigt. Zugunsten des Klägers sei ein fast 31-jähriger Aufenthalt im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Der Kläger habe seine Lebensgrundlage jedoch nicht im Bundesgebiet gefunden und sich in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht verwurzelt, was sich vor allem an den Straftaten zeige. Art. 6 Abs. 1 GG könne mangels Nachweises einer islamischen Vermählung nicht berücksichtigt werden. Auch im Falle einer bestehenden familiären Lebensgemeinschaft überwiege das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung angesichts der erheblichen Verstöße gegen die Rechtsordnung. Die Ausweisung sei auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig. Der Kläger sei im Libanon geboren, habe dort die ersten Jahre seines Lebens verbracht und beherrsche die arabische Sprache. Verwandte lebten im Libanon und der Türkei. Die (Re-)Integration in das Heimatland könne daher zugemutet werden. Eine vollständige Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse sei nicht gelungen. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen sei. Zudem sei die Aufenthaltsbeendigung trotz Art. 8 EMRK möglich, wenn die zugrundliegende Straftat - wie hier - besonders schwer wiege. Die Ausweisung sei auch geeignet, erforderlich und unter Abwägung der Belange angemessen. Das gem. § 11 AufenthG zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot sei unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles auf sechs Jahre festzusetzen. Eine langjährige Wirkung sei notwendig und keine Umstände ersichtlich, die zu einer kürzeren Bemessung der Frist führen würden.

Der Kläger hat gegen den Bescheid vom 9. April 2021 rechtzeitig Klage erhoben und führt zur Begründung an:

Im Rahmen der Prognoseentscheidung habe die Beklagte nicht berücksichtigt, dass die relevanten Straftaten des Klägers in den Jahren 2017 und 2019 begangen bzw. abgeurteilt worden seien. Dabei sei der Kläger aufgrund seiner Drogenabhängigkeit aber vermindert schuldfähig gewesen. Das Bemühen um eine Aufenthaltserlaubnis habe ihn in die Drogenabhängigkeit geführt. Nach einer erfolgreichen Therapie sei der Kläger aber nicht mehr drogenabhängig. Es bestünden keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass ein Handel mit Betäubungsmitteln oder deren Gebrauch erneut drohe. Ein allgemeines Erfahrungswissen dürfe nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen. Vielmehr müsste die Entscheidung den Umständen des Einzelfalls gerecht werden. Die Beklagte habe auch den langjährigen Aufenthalt des Klägers und den daraus folgenden Schutz der EMRK nicht ausreichend berücksichtigt. Alleine aus den bisherigen Straftaten könne nicht auf die in der Zukunft zu erwartenden Straftaten geschlossen werden. Die letzten - nicht drogenbezogenen - Straftaten aus den Jahren 2007 bis 2011 seien ohnehin für die Prognose nicht mehr von Bedeutung. Eine relevante Wiederholungsgefahr lasse sich nur auf Grundlage einer breiteren Tatsachengrundlage bejahen, etwa mithilfe eines Sachverständigengutachtens oder bei fortbestehender konkreter Gefahr für höchstrangige Rechtsgüter. Soweit die Prognose auf angeblich bedrohliches und beleidigendes Verhalten gegenüber Mitarbeitern der Beklagten und die Ankündigung, sich einen gefälschten Pass zu besorgen, gestützt werde, zeige sich, dass die Beklagte völlig irrelevante Überlegungen in die Entscheidung einfließen lasse. Es gelte insoweit die Unschuldsvermutung. Der Kläger habe ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Des Weiteren habe die Beklagte die persönlichen Bindungen des Klägers unberücksichtigt gelassen. Der Kläger sei seit 2004 nach islamischem Recht mit Frau AK. verheiratet. Die Ehe unterfalle gem. Art. 13 Abs. 4 EGBGB als hinkende Ehe dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG und habe eine erhebliche Bedeutung. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK seien verletzt. Zudem sei Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers verletzt. Die Ausweisung sei unter Berücksichtigung der Umstände unverhältnismäßig.

Der Kläger gibt an, dass er seine Straftaten bereue und um Verzeihung bitte. Das Gefängnis sei eine Lehre für sein ganzes Leben gewesen. Er habe auch gemerkt, dass die Drogen einen Teufelsweg darstellten, und danke für sein zweites Leben. Einen Teil der Schuld trage auch die Ausländerbehörde. Er bitte um eine Chance, wie zwischen 2013 und 2015, als er seinen Laden gehabt habe und seine gute Seite gezeigt habe. Er wolle einen Lebensmittelladen oder ein Restaurant aufmachen. Er hat weitere Unterlagen sowie eine eidesstattliche Versicherung von Frau AK. vom 17. Januar 2023 vorgelegt, wonach sie am 22. Dezember 2004 in AM. islamisch geheiratet hätten. Er hat zahllose weitere Unterlagen eingereicht, die seine Erwerbstätigkeit zwischen 2013 und 2015 und während weiterer kurzer Zeiträume sowie weitere Bemühungen um eine Arbeitsstelle zeigen, unter anderem ein Schreiben vom 11. März 2020 der Firma AO. mit der Absage einer Stelle wegen des fehlenden Aufenthaltstitels. Zudem hat er Auskünfte der Rentenversicherung für sich und Frau AK. sowie zahlreiche medizinische Unterlagen hinsichtlich seines Arbeitsunfalls aus dem Jahre 2020 eingereicht. Hinsichtlich eines aktuellen Betäubungsmittelkonsums hat der Kläger im Parallelverfahren 5 A 1570/21 das Ergebnis eines Drogenscreenings vom AP. 2021 vorgelegt. Danach gebe es keinen Anhaltspunkt für eine gewohnheitsmäßige Aufnahme von Drogen in dem Zeitraum, welcher der untersuchten Haarlänge von fünf Zentimetern entspreche. Es sei von einer mittleren Haarwachstumsgeschwindigkeit von einem Zentimeter im Monat auszugehen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 9. April 2021 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Bescheid sei rechtmäßig. Der Kläger erfülle mehrere der in § 54 AufenthG normierten Ausweisungsinteressen, sein Aufenthalt im Bundesgebiet begründe sowohl aus spezialpräventiven als auch generalpräventiven Gründen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Es sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger auch zukünftig Straftaten begehen werde. Ergänzend zu dem ausgesprochenen Hausverbot weist die Beklagte darauf hin, dass der Kläger am 9. Juli 2015 und auch während des gerichtlichen Verfahrens bedrohlich und beleidigend gegenüber Mitarbeitern aufgetreten sei. Nach Haftentlassung sei er wegen Bedrohung verurteilt worden und habe den Mitarbeiter der Beklagten wiederholt beleidigt. Zudem habe er wiederholt angekündigt, sich einen falschen Pass zu besorgen. Unter Berücksichtigung dieser Umstände biete die ausgesprochene Absicht, eine Therapie zu absolvieren, keine Gewähr für die dauerhafte Straflosigkeit. Der Kläger habe auch unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens weitere Straftaten begangen. Er trete immer wieder wegen Eigentums-, Vermögens- und Beleidigungsdelikten in Erscheinung. Der Kläger schreibe die Schuld für seine psychische Erkrankung, seine Suchterkrankung und seine Straftaten im Wesentlichen der Beklagten zu. Es sei nicht ersichtlich, dass er sich mit seinen Straftaten hinreichend auseinandergesetzt habe. Es sei keine Zäsur eingetreten, aufgrund derer ein dauerhaft rechtstreues Verhalten des Klägers zu erwarten sei. Vielmehr zeigten die bereits in der Jugend beginnenden Verstöße gegen die Rechtsordnung eine deutlich verfestigte kriminelle Energie. Auch die seit 2004 nach islamischem Recht bestehende Ehe werde ihn nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung stünden keine durchgreifenden Bleibeinteressen gegenüber. Auch auf eine Rechtsstellung als faktischer Inländer könne sich der Kläger nicht berufen. Es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass er in die hiesigen Lebensverhältnisse eingebunden oder gar sozial engagiert sei. Er gehe keiner Arbeitstätigkeit nach. Zudem sei der Aufenthalt des Klägers seit 2007 nicht rechtmäßig, sodass eine schutzwürdige Verwurzelung seitdem nicht habe entstehen können.

Einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag vom 10. März 2023 hat die Beklagte unter Verweis auf die bestrittene Staatenlosigkeit des Klägers abgelehnt. Sie hat dazu zwei (weitere) Rückmeldungen des türkischen Generalkonsulats in AC. vom 4. Februar 2022 bzw. 11. März 2022 vorgelegt, wonach eine Nachregistrierung des Vaters des Klägers beim zuständigen Generalkonsulat in AM. durchgesetzt werden müsse. Anschließend müsse der Kläger mit einem Gerichtsbeschluss türkischer Gerichte über die Abstammung beim türkischen Generalkonsulat in AC. vorsprechen. Im Anschluss hat der Kläger den Beklagtenvertreter und den Berichterstatter unzählige Male angerufen und zahlreiche Sprachnachrichten hinterlassen. Den Inhalt der Anrufe hat der Beklagtenvertreter im Schreiben vom 17. April 2023 dargestellt und die gespeicherten Sprachnachrichten zur Gerichtsakte übersandt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Sie alle waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat keinen Erfolg.

Der Bescheid vom 9. April 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage hinsichtlich der Ausweisungsentscheidung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, juris Rn. 11).

a) Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Die Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib in Deutschland erfolgt dabei nach der Intention des Gesetzgebers nicht auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen eines der Ausländerbehörde eröffneten Ermessens, sondern auf der Tatbestandsseite einer nunmehr gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit gerichtlich voll überprüfbar. Die Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG setzt eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls voraus, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird und gem. § 53 Abs. 2 AufenthG die näher dargelegten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen hat.

Ein darüber hinaus gehender besonderer Ausweisungsschutz gem. § 53 Abs. 3 AufenthG kommt dem Kläger nicht zu. Gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzt, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Doch weder der Kläger noch dessen Vater sind in dem Sinne türkische Staatsangehörige, dass die Republik Türkei sie als eigene Staatsangehörige anerkennen und behandeln würde, sodass der Kläger und sein Vater bereits nicht in den persönlichen Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) fallen. Insoweit geht auch die Beklagte - unabhängig von der Frage einer noch möglichen Nachregistrierung - davon aus, dass der Anwendungsbereich des ARB 1/80 erst dann eröffnet ist, wenn eine türkische Staatsangehörigkeit nachgewiesen und von den Behörden der Republik Türkei anerkannt ist.

Der Anwendungsbereich der § 53 Abs. 3a und Abs. 4 AufenthG ist ebenfalls nicht eröffnet, weil der Kläger keinen Asylantrag gestellt hat.

Auch aus Art. 31 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954 - StlÜbk - folgen keine weitergehenden materiellen Anforderungen an die Ausweisung. Der Kläger fällt auch bei dieser Vorschrift schon nicht in den persönlichen Anwendungsbereich, weil er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Die in Art. 31 StlÜbk aufgestellten Maßstäbe sind im Übrigen in den §§ 53 bis 55 AufenthG bereits berücksichtigt (vgl. Vor 53.5.7 AllgVwV zum AufenthG, 31.10.2009).

b) Am Maßstab des § 53 Abs. 1 AufenthG gemessen, ist die Ausweisung rechtlich nicht zu beanstanden. Ohne Rechtsfehler ist die Beklagte zu dem Ergebnis gekommen, dass der weitere Aufenthalt des Klägers sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen auch gegenwärtig eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit i. S. d. § 53 Abs. 1 AufenthG darstellt und den für eine Ausweisung sprechenden Interessen überwiegendes Gewicht zukommt.

aa) Die strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers erfüllen unter mehreren Aspekten die Anforderungen an besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungsinteressen i. S. v. § 54 AufenthG, die weiterhin fortdauern.

Der Kläger wurde wegen zwischen Februar und Juni 2018 begangener Diebstähle in vier Fällen in Tatmehrheit mit 42 Fällen des Computerbetrugs in Tatmehrheit mit Raub zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Verurteilung erfüllt die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, da sie mehr als zwei Jahre betrug, und des § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. d) AufenthG, da die zugrunde liegende Tat mit mehr als 1 Jahr bei einer im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe bewehrt und gegen das Eigentum gerichtet war. Eine im Mindestmaß erhöhte Strafandrohung ergibt sich für den Raub aus § 249 Abs. 2 StGB und für den gewerbsmäßigen Computerbetrug aus § 263a Abs. 1, 2 i. V. m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB. Ob sich die um das gesetzliche Mindestmaß der zeitigen Freiheitsstrafe von einem Monat (vgl. § 38 Abs. 2 StGB) erhöhte Mindeststrafe bereits aus dem Grunddelikt (vgl. etwa § 249 StGB), aus Schärfungen für besonders schwere Fälle (vgl. etwa § 243 StGB) oder aus Qualifikationen (vgl. etwa § 244 StGB) ergibt, ist gefahrenabwehrrechtlich ohne Belang, da das Merkmal allein der ausweisungsrechtlichen Erfassung von Straftaten mit einem deutlich erhöhten sozialen Unrechtsgehalt zu dienen bestimmt ist (vgl. Fleuß in: BeckOK, Ausländerrecht, Stand 1.10.2022, Rn. 35 m. w. N.). Zugleich begründen die sonstigen strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers schwerwiegende Ausweisungsinteressen im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3, Nr. 4 und Nr. 9 AufenthG.

Die Ausweisung eines Ausländers aus spezialpräventiven Gründen dient der Vorbeugung gegen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die nach Würdigung seines bisherigen Verhaltens und seiner Gesamtpersönlichkeit von ihm selbst gegenwärtig und in Zukunft ausgehen. Hat der Ausländer Rechtsverstöße begangen, hängt die Rechtfertigung der Ausweisung von einer Gefahrenprognose, insbesondere der Einschätzung der Wiederholungswahrscheinlichkeit, ab. Die Gefährdung bemisst sich nach den im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten Grundsätzen (BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, juris Rn. 23). Bei der eigenständigen Prognose der Gerichte sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe einer verhängten Strafe, die Schwere einer konkret begangenen Straftat und die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (Nds. OVG, Urteil vom 6.5.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 38 m. w. N.). Für bestimmte Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte sind an den Grad der Wiederholungsgefahr nur geringe Anforderungen zu stellen. Zu diesen Fallgruppen gehören neben schweren Gewalt- und Eigentumsdelikten vor allem auch schwere Betäubungsmitteldelikte, wie das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, vor allem mit harten Drogen (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 23.11.2020 - 2 B 314/20 -, juris Rn. 20; Urteil vom 14.8.2019 - 2 B 159/19 -, juris Rn. 11). Eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nach unten ist jedoch auch bei schwersten Schäden nicht zulässig. Erforderlich, aber auch ausreichend für die Begründung eines spezialpräventiven Ausweisungsinteresses ist bei schwerwiegenden Gefahren bereits die "ernsthafte Möglichkeit" einer Wiederholung (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 23.11.2020 - 1 B 314/20 -, juris Rn. 20 m. w. N.). Im Rahmen der Prognoseentscheidung ist zu berücksichtigen, dass es im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren - jedenfalls soweit sich die Ausweisung regelmäßig auf die Beendigung des Aufenthalts richtet - um die Frage geht, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft des Staates der Staatsangehörigkeit des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zugrundeliegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat auch in den Blick zu nehmen, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen (BVerwG, Urteil vom 15.1.2013 - BVerwG 1 C 10.12 -, juris Rn. 19).

Hieran gemessen ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger auch künftig Straftaten im Bereich der Eigentums-, Vermögens- und Ehrdelikte begehen wird. Zwar hat die Kammer hinsichtlich der Betäubungsmittelstraftaten aus dem Jahre 2007 und 2017 und die zwischendurch bestehende Betäubungsmittelabhängigkeit - auch vor dem Hintergrund des ärztlichen Berichtes über die Drogenfreiheit und der sonstigen vielfachen Erkenntnisse - trotz der geringeren Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit nicht die Überzeugung gewinnen können, dass erneute Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität oder Beschaffungskriminalität ernsthaft drohen. Insoweit kann die Kammer zwar die latent bestehende Rückfallgefahr nicht verneinen, da der Kläger bisher keine Therapie gemacht hat und das Problembewusstsein nur teilweise vorhanden zu sein scheint. Dass bei periodischem Rückfall allerdings tatsächlich strafrechtliche Verurteilungen im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität folgen, kann die Kammer nicht mit der hinreichenden Sicherheit prognostizieren. Eine ähnlich positive Prognose kann die Kammer jedoch trotz aller Beteuerungen des Klägers nicht für drohende Eigentums-, Vermögens- und Ehrdelikte treffen. Der Kläger hat in der Vergangenheit durch seine Straftaten eine erkennbare kriminelle Energie und die grundsätzliche Bereitschaft gezeigt, sich über Normen und Gesetze hinwegzusetzen. Er ist seit seiner Volljährigkeit zunächst mit Diebstählen, später wiederholt mit Beleidigungen und Betrugsstraftaten strafrechtlich aufgefallen. Die dem Urteil vom 17. April 2019 zugrundeliegenden Betrugstaten haben zahlreiche Personen finanziell in erheblicher Weise geschädigt. Hinsichtlich der Eigentums- und Vermögensdelikte zeugt die strafrechtliche Historie mit wiederholten Diebstahls- und Betrugstaten sowie einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung von einem verfestigten Verhaltensmuster des Klägers, sich auf Kosten anderer unrechtmäßig finanzielle Vorteile zu sichern. Als noch größer erachtet die Kammer die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger auch aufgrund seiner Persönlichkeitszüge und der insoweit für die Kammer nachvollziehbar diagnostizierten Verbitterungsstörung dazu neigt, seinen Unmut in unsachlicher Weise zu äußern und damit andere Personen - auch Mitarbeiter der Polizei, der Behörden und der Justiz - zu verunglimpfen, zu bedrohen oder zu beleidigen. Soweit sich diese Taten gegen den Staat und seine Einrichtungen richten und deren Arbeit beeinträchtigen, berühren sie damit zugleich ein Grundinteresse der Gesellschaft. Eine Zäsur ist weder durch die Inhaftierung des Klägers eingetreten, noch sind andere substantielle Anhaltspunkte für eine Änderung seiner Verhaltensmuster ersichtlich. Die bestehende Wiederholungsgefahr wurde vielmehr im Verlaufe des Verfahrens wiederholt bestätigt und führte unter anderem zu einer Verurteilung wegen Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung und Zahlung eines Geldbetrags von 500 EUR.

Neben dem spezialpräventiven Ausweisungsinteresse begründen die Straftaten des Klägers auch ein andauerndes generalpräventives Ausweisungsinteresse, das nach dem Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG (wonach bereits eine Gefahr durch den "Aufenthalt" des Ausländers ein Ausweisungsinteresse begründet) berücksichtigungsfähig ist und auch durch Zeitablauf nicht zurücktritt, weil die Tilgungsfristen des § 46 BZRG noch nicht abgelaufen sind. Im Bundeszentralregister sind gegenwärtig die angeführten 11 Verurteilungen geführt. Der Kläger hat durch seine wiederholten Straftaten nicht nur die Grundrechte verschiedener Betroffener aus dem privaten und öffentlichen Bereich verletzt, sondern - wie bereits erwähnt - auf die Arbeit der staatlichen Institutionen eingewirkt. Es bedarf einer wirksamen und sichtbaren Sanktion, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Wie stark dieses generalpräventive Interesse im Einzelfall zu gewichten ist, ist im Rahmen der Abwägung gem. § 53 Abs. 2 AufenthG zu klären.

bb) Den spezial- und generalpräventiven Ausweisungsinteressen steht kein besonders geschütztes Bleibeinteresse i. S. v. § 55 AufenthG entgegen. Der Kläger ist nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis und vollziehbar ausreisepflichtig. Er lebt nicht in familiärer Lebensgemeinschaft mit deutschen Familienangehörigen. Seine Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland sind als einfache Bleibeinteressen gem. § 53 Abs. 2 AufenthG in die Abwägung einzustellen.

cc) Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Gemessen an diesem Maßstab überwiegt auch nach Ansicht der Kammer das Ausweisungsinteresse gegenüber dem Bleibeinteresse.

Dem besonders schweren Ausweisungsinteresse steht kein von Gesetzes wegen gleichrangiges Bleibeinteresse gegenüber. Zugunsten des Klägers ist zwar sein langer Aufenthalt in Deutschland zu berücksichtigen, der allerdings nur zeitweise durch eine Aufenthaltserlaubnis legalisiert war. Der Kläger hat es nicht geschafft, sich in die hiesigen Lebensverhältnisse zu integrieren oder über einen längeren Zeitraum einer gesicherten Arbeit nachzugehen. Die nach islamischem Ritus geschlossene Ehe mit Frau AK. ist zwar nach Ansicht der Kammer glaubhaft dargelegt, steht aber ohne staatliche Anerkennung nicht unter dem Schutz von Art. 6 GG (vgl. Nds. OVG, 1.2.2005 - 2 ME 1326/04 -, juris). Zugunsten des Ausweisungsinteresses spricht dagegen die durchgehende Straffälligkeit des Klägers mit der erheblichen Gefahr erneuter Straftaten, die sowohl nach dem dem Ausweisungsinteresse gesetzlich beigemessenen Gewicht als auch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls die einfachen Bleibeinteressen überwiegen.

Dem steht nicht entgegen, dass es sich im Falle des Klägers angesichts seiner (zumindest) ungeklärten Staatsangehörigkeit um eine rein "inlandsbezogene" Ausweisung handelt. Die "inlandsbezogene Ausweisung" kann und soll nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung führen, sondern folgt ausschließlich dem (zulässigen) Zweck, eine Aufenthaltsverfestigung des Ausländers zu verhindern (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.7.2017 - BVerwG 1 C 12.16 -, juris Rn. 23). Weitere praktische Auswirkungen auf den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet hat die Ausweisung nicht. Der Wegfall des tatsächlichen Abschiebungshindernisses - also der Erwerb oder der Nachweis einer durch Geburt erworbenen (türkischen) Staatsangehörigkeit - ist nach Auffassung der Kammer praktisch ausgeschlossen, sodass sich der Kläger dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten wird. Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisung keine Aufenthaltserlaubnis und ist im Bundesgebiet nur aufgrund der Passlosigkeit geduldet (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Gegen den Kläger können auf Grund der Ausweisung auch keine Maßnahmen nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG angeordnet werden, weil kein besonders schweres Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG gegeben ist. Die damit - auch nach Ansicht der Beklagten - allein inlandsbezogen wirkende Ausweisung ist möglich (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 2.1.2023 - 12 S 1841/22 -, juris und Urteil vom 15.4.2021 - 12 S 2505/20 -, juris; VG Sigmaringen Urteil vom 12. Juli 2022 - 14 K 1888/21 -, juris; VG Freiburg Urteil vom 17. Mai 2022 - 10 K 5070/19 -, juris). Sie ist auch und schon dann von einem Ausweisungsinteresse getragen, wenn durch die Ausweisung kein bereits erteilter Titel erlischt, sondern das Ziel, die weitere Verfestigung des Aufenthalts eines bereits vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers zu verhindern, die durch die mit den Nebenentscheidungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG einhergehende Titelerteilungssperre erreicht wird.

Die (inlandsbezogene) Ausweisung ist die ausländerrechtliche Konsequenz der wiederholten Straftaten des Klägers und des überwiegenden Ausweisungsinteresses. Der Gesetzgeber hat die Ausweisung als gebundene Entscheidung ausgestaltet, die von der Ausländerbehörde zu treffen ist, wenn der Tatbestand erfüllt ist. Eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne und damit der Grad der Eignung im Verhältnis zur Intensität der Rechtsbeeinträchtigung zu prüfen wäre, ist gerade nicht vorgesehen. Die Entscheidung trägt zu einer verhaltenslenkenden Wirkung bei und soll andere Ausländer von der erneuten Begehung weiterer Straftaten abhalten. Diese Wirkungen der Ausweisung sind nach Auffassung der Kammer auch im vorliegenden Fall einer inlandsbezogenen Ausweisung noch ausreichend, um von einem berechtigten öffentlichen Interesse an der Ausweisung des Klägers ausgehen zu können.

Der Ausweisung selbst steht auch vorrangiges Unionsrecht schon deshalb nicht entgegen, weil die Ausweisung als solche keine Rückkehrentscheidung darstellt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9.5.2019 - BVerwG 1 C 14.19 -, juris) und daher nicht an der Rückführungsrichtlinie zu messen ist (BVerwG, Urteil vom 16.2.2022 - BVerwG 1 C 6.21 -, juris Rn. 41).

Auch die Schutzwirkungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stehen der Ausweisung nicht per se entgegen und begründen auch kein überwiegendes Bleibeinteresse. Der Kläger hat keine familiären Bindungen dargelegt, die unter dem Schutz des Art. 6 GG stehen würden. Auch unter Berücksichtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens i. S. d Art. 8 Abs. 1 EMRK ergibt sich kein gleichrangiges privates Interesse des Klägers daran, von der Ausweisung verschont zu bleiben. Im Hinblick auf den Schutzbereich des Privatlebens kommt einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung eine Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EMRK nur dann zu, wenn durch sie ein Privatleben im Bundesgebiet tatsächlich beendet zu werden droht. Kommt wie bei der inlandsbezogenen Ausweisung eine Aufenthaltsbeendigung von vornherein nicht in Betracht, liegt schon kein Eingriff in die Rechte des Art. 8 Abs. 1 EMRK vor; einer Rechtfertigung nach den Maßgaben des Art. 8 Abs. 2 EMRK bedarf es in diesem Fall nicht. Im Übrigen kann sich der Kläger schon auf eine Rechtsstellung als "faktischer Inländer" nicht berufen, weil eine nach Art. 8 EMRK schutzwürdige Verwurzelung im Bundesgebiet grundsätzlich nur während Zeiten entstehen kann, in denen der Ausländer sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28.2.2018 - 8 ME 1/18 -, juris Rn. 17 m. w. N.; Beschluss vom 10.11.2017 - 13 ME 190/17 -, juris Rn. 27 m. w. N.). Bereits der überwiegend illegale Aufenthalt des Klägers steht der Berücksichtigung der Integrationsleistungen deshalb dem Grunde nach entgegen; zudem sprechen bereits die wiederholten Straftaten, seine Aussage, sich hier gefangen zu fühlen, sowie die wiederholte Ankündigung, das Land mit einem falschen Pass zu verlassen, gegen eine Verwurzelung im Bundesgebiet.

2. Die eigentliche Wirkung der inlandsbezogenen Ausweisung und die Beschwer für den Kläger ergibt sich erst durch das im Bescheid der Beklagten vom 9. April 2021 mit der Ausweisung erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot und die damit einhergehende Titelerteilungssperre, sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sechs Jahre ab dem Tag der beabsichtigten Abschiebung/Ausreise.

Auch diese Entscheidung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung und der Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist ebenfalls die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.7.2017 - BVerwG 1 C 28/16 -, juris, Rn. 16).

a) Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Im Falle einer Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Die tatbestandlichen Voraussetzungen sind mit der zugleich ergangenen Ausweisung erfüllt; ein Ermessen ist der Beklagten insoweit nicht eröffnet.

Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Entscheidung über die Länge der Frist erfolgt gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen. Dieses ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich nur dahingehend überprüfbar, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG darf die Frist außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten. Sie soll gemäß § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.

b) Nach diesem Maßstab ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sechs Jahre nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Länge der Frist in ihrem Ermessen steht und dieses ausgeübt. Sie hat die erhebliche Straffälligkeit und die sonstigen Umstände des Einzelfalls in die Abwägung eingestellt. Dabei ist nunmehr ergänzend zu berücksichtigen, dass seit dem Erlass des Bescheides bereits zwei Jahre vergangen sind. Auf der anderen Seite ist der Kläger jedoch auch nach Bescheiderlass wegen Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung und einem Geldbetrag von 500 Euro verurteilt worden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frist von sechs Jahren, die sich deutlich unter der von gem. § 11 Abs. 5 AufenthG grundsätzlich vorgesehenen Höchstfrist von zehn Jahren bewegt, nicht unverhältnismäßig. Die mit dem Einreise- und Aufenthaltsverbot einhergehende Titelerteilungssperre beginnt - auch nach Ansicht der Beklagten - mit der Bestandskraft des Bescheides und würde damit mit Rechtskraft dieses Urteils zu laufen beginnen.

c) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist auch mit höherrangigem Unionsrecht vereinbar; insbesondere die Richtlinie 2008/115/EU - Rückführungsrichtlinie - steht weder seinem Erlass noch der Befristung entgegen. In Art. 3 Nr. 6 der Richtlinie wird der Begriff "Einreiseverbot" definiert als "die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht". Eine solche Rückkehrentscheidung im unionsrechtlichen Sinne stellt die dem Kläger gegenüber ergangene, bestandskräftige Abschiebungsandrohung vom 26. Oktober 2007 dar.

Diese Abschiebungsandrohung erfüllt zwar nicht die unionsrechtlichen Anforderungen, weil sie ohne Bestimmung des Zielstaats der Abschiebung ergangen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 24.2.2021 - C-673/19 - juris Rn. 39), und ist nach dem Verständnis der Kammer demzufolge ungeachtet ihrer Bestandskraft nicht "wirksam" im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil der 4. Kammer vom 3.6.2021 - C-546/19 -, juris). Eine in diesem Sinne wirksame Rückkehrentscheidung kann infolge der Staatenlosigkeit des Klägers auch auf absehbare Zeit nicht ergehen. Das hat indes nicht zur Folge, dass das Unionsrecht nunmehr dem Einreise- und Aufenthaltsverbot entgegenstünde.

Nach dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22.11.2022 (- C-69/21 -, juris Rn. 84 f.) beziehen sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung. Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie ist dagegen schon sachlich nicht eröffnet, wenn aus tatsächlichen Gründen gar keine Rückkehrentscheidung ergehen kann, da die Richtlinie nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Entsprechend regelt die Rückführungsrichtlinie weder die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist, noch die Folgen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden kann.

Eine Verpflichtung, einem illegal im Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn ihm gegenüber eine Rückkehrentscheidung in einen Drittstaat erlassen werden kann, begründet die Richtlinie nach der ausdrücklichen Feststellung des Gerichtshofs nicht (- a. a. O. -, Rnn. 85, 87). Nur eine solche Verpflichtung hätte indes im Widerspruch zu der mit dem Einreise- und Aufenthaltsverbot einhergehenden Titelerteilungssperre gestanden; wie das Einreise- und Aufenthaltsverbot selbst regelt auch die Titelerteilungssperre in dieser Fallgruppe lediglich die (von der Rückführungsrichtlinie nicht berührten) Folgen, die sich im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik aus dem illegalen Aufenthalt des Klägers ergeben, und die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 19.12.2022 - 7 K 3853/20 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.4.2021 - 12 S 2505/20 -, juris Rn. 141 ff. und Urteil vom 2.1.2023 - 12 S 1841/22 -, juris).

Angesichts dessen ergeben sich auch aus dem Urteil der Vierten Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 3. Juni 2021 (- C-546/19 -, juris) keine unionsrechtlichen Einwände gegen ein mit der inlandsbezogenen Ausweisung ausgesprochenes Einreise- und Aufenthaltsverbot (mehr). Während die Vierte Kammer davon ausgegangen war, dass die Rückführungsrichtlinie auf jedweden illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen anwendbar sei (- a. a. O. -, Rn. 44) und es zugleich Art. 6 der Richtlinie zuwiderliefe, das Bestehen eines Zwischenstatus von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befänden und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterlägen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr bestehee (- a. a. O. -, Rn. 57), ist die Große Kammer des Gerichtshofs von beiden Prämissen ausdrücklich abgerückt. Infolgedessen ist auch die auf diesen Prämissen beruhende Auffassung der Vierten Kammer des Gerichtshofs nicht mehr tragfähig, dass die Rückführungsrichtlinie einem Einreise- und Aufenthaltsverbot entgegenstehe, das ein Mitgliedstaat gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen verhängt habe, gegen den eine wirksame Rückkehrentscheidung nicht (mehr) bestehe. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - eine Rückkehrentscheidung aus tatsächlichen oder zwingenden rechtlichen Gründen auf absehbare Zeit gar nicht ergehen kann.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

4. Die Kammer lässt gem. § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Berufung zu, weil sie der Frage grundsätzliche Bedeutung beimisst, ob die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, wenn dieses ohne vollziehbare Abschiebungsandrohung erlassen wird und wegen Staatenlosigkeit inlandsbezogen wirkt (hier verneint).