Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.01.2015, Az.: 4 LA 232/14

Öffentlichkeit; Urteil; Verfahren; mündliche Verhandlung; öffentliche Verkündung; Zustellung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
26.01.2015
Aktenzeichen
4 LA 232/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45236
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 29.07.2014 - AZ: 5 A 60/13

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein etwaiger Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 EMRK, wonach Urteile, die über Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine strafrechtliche Anklage entscheiden, öffentlich verkündet werden müssen, begründet nicht einen Verfahrensmangel im Sinne von § 138 Nr. 5 VwGO.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 29. Juli 2014 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Die vom Kläger geltend gemachten Berufungszulassungsgründe des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör) sowie des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 5 VwGO (Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens) liegen nicht vor bzw. sind nicht hinreichend dargelegt worden.

Die Berufung ist nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

Art. 103 Abs. 1 GG verlangt von einem Gericht, den Sachvortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass dies bei der Entscheidungsfindung geschehen ist. Das gilt auch dann, wenn einzelne Ausführungen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen nicht gewürdigt worden sind. Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt nicht die Pflicht des Gerichts, jedes Vorbringen im Einzelnen zu bescheiden und auf sämtliche Tatsachen und Rechtsansichten, die im Laufe des Verfahrens vorgebracht werden, einzugehen. Um einen Verfahrensmangel anzunehmen, müssen im Einzelfall vielmehr besondere Umstände deutlich machen, dass der Sachvortrag eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen worden ist (BVerwG, Beschl. v. 22.5.2006 - 10 B 9.06 -, NJW 2006, 2648 m.w.N.).

Derartige Umstände ergeben sich aus dem Vorbringen des Klägers, dass das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die einzelnen von ihm geschilderten Anknüpfungstatsachen für die Gefahr einer politischen Verfolgung bei einer Rückkehr in den Sudan - etwa seine Zugehörigkeit zum Volk der Nubier, die Herkunft seiner Eltern aus Süd-Kordofan sowie aus dem Gebiet Blauer Nil, die Entlassung seines Vaters 2004 als Staatssekretär im Finanzministerium, seine früheren Kontakte zur Partei SPLM sowie seine im Bundesgebiet entfalteten exilpolitischen Aktivitäten - jeweils nur separat, nicht aber im Rahmen der gebotenen Gesamtschau gewürdigt habe, nicht. Der Senat hat bereits Bedenken, ob dieser Vortrag überhaupt geeignet ist, eine Gehörsrüge zu stützen. Denn der Sache nach macht der Kläger damit nicht geltend, dass das Verwaltungsgericht Teile seines Sachvortrags nicht in Erwägung gezogen hat, sondern das Vorbringen läuft darauf hinaus, dass das Verwaltungsgericht sehr wohl den gesamten Vortrag erwogen, aber anhand eines Maßstabes bewertet hat, der den Vorgaben des einschlägigen Fachrechts nicht entspricht. Jedenfalls aber kann der Senat den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nicht entnehmen, dass das Verwaltungsgericht die einzelnen vom Kläger vorgetragenen Umstände des von ihm behaupteten Verfolgungsschicksals nur isoliert voneinander und nicht - wie es geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.07.1983 - 9 B 10542/83 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 10; Urteil vom 27.06.1989 - 9 C 1.89 -, BVerwGE 82, 171) - im Rahmen einer Gesamtbetrachtung in Erwägung gezogen hat. Dass das Verwaltungsgericht in dem Urteil neben der Abhandlung der einzelnen vom Kläger geschilderten Anknüpfungstatsachen, die für ihn die Gefahr einer politischen Verfolgung begründen sollen, nicht ausdrücklich auch eine zusammenfassende und zusammenschauende Gesamtbewertung vorgenommen hat, ist in entsprechender Anwendung des oben formulierten Maßstabes, wonach nicht jedes Vorbringen ausdrücklich beschieden werden muss, unerheblich. Insbesondere in Fällen, in denen das Gericht - wie hier - in den Entscheidungsgründen in nachvollziehbarer Weise ausführt, dass die einzelnen vom Kläger geschilderten verfolgungsrelevanten Tatsachen zum Teil unglaubhaft, zum Teil aus Rechtsgründen unbeachtlich sind und im Übrigen nicht die Gefahr einer politischen Verfolgung begründen, ergibt sich aus den Urteilsgründen, auch wenn dies nicht ausdrücklich ausgeführt wird, ohne weiteres zugleich, dass das Gericht auch in einer Gesamtschau eine dem jeweiligen asylrechtlichen Prognosemaßstab genügende Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht zu erkennen vermag.

Die Berufung ist auch nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 5 VwGO zuzulassen.

Einen rügefähigen Verfahrensmangel sieht § 138 Nr. 5 VwGO, auf den § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG verweist, nur für den Fall vor, dass „das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind“, das heißt, wenn die mündliche Verhandlung unter Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz stattgefunden hat. Die Zulassung der Berufung auf der Grundlage dieser Vorschrift kommt hingegen nicht auch dann in Betracht, wenn der Öffentlichkeitsgrundsatz bei der Urteilsverkündung verletzt worden ist. Diese im Wortlaut des § 138 Nr. 5 VwGO angelegte Einschränkung der Rügebefugnis rechtfertigt sich dadurch, dass sich eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei der Urteilsverkündung nicht auf die Entscheidungsfindung auswirken kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.08.1980 - 6 CB 29.80 -, DÖV 1981, 969; Beschl. v 23.11.1989 - 6 C 29.88 -, NJW 1990, 1249).

Hieran gemessen kann das Vorbringen des Klägers, das Verwaltungsgericht habe gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 EMRK verstoßen, indem es das angefochtene Urteil nicht öffentlich verkündet, sondern von der Möglichkeit der Urteilszustellung nach § 116 Abs. 2 VwGO Gebrauch gemacht hat, nicht zur Zulassung der Berufung führen. Denn der damit geltend gemachte Verfahrensfehler betrifft ausschließlich die öffentliche Verkündung des Urteils und nicht die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung (vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 04.05.2011 - 14 ZB 11.30142 -).

Es kommt deshalb nicht darauf an, ob der von der Klägerin (im Anschluss an Bergmann, ZAR 2011, 41, 44 ff.) vertretenen Ansicht zu folgen ist, wonach sich der Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK entgegen der bisherigen allgemeinen Auffassung (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 30.03. 1998 - 3 L 29/98 -, NVwZ 1998, 1100 mit Nachweisen zur Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 18; Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl. 2014, § 1 Rn. 16; Schmidt-Aßmann/Schenk, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, Stand: 26. Ergänzungslieferung 2014, Einleitung Rn. 135) unter dem Einfluss unionsrechtlicher Vorgaben nunmehr auch auf asylrechtliche Klageverfahren erstreckt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG, § 152 Abs. 1 VwGO).