Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.01.2015, Az.: 13 OB 6/15
Aussetzung; Aussetzungsverfahren; Gebührenordnung; Musterverfahren; Unwirksamkeit
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 29.01.2015
- Aktenzeichen
- 13 OB 6/15
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2015, 45212
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 14.01.2015 - AZ: 6 A 4/15
Rechtsgrundlagen
- § 94 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Eine nachfolgende Aussetzung kann in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommen. Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht bereits vor, wenn eine Rechtsnorm wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig erklärt wird. Vielmehr muss der Normgeber (verfassungsrechtlich) verpflichtet sein, gesetzgeberisch tätig zu werden.
Tenor:
Die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 14. Januar 2015 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
Der Beklagte begehrt die Aussetzung eines vor dem Verwaltungsgericht anhängigen Verfahrens betreffend die Heranziehung der Klägerin zu Gebühren für amtliche Schlachttier- und Fleischuntersuchungen. Der Beklagte rechnet diese Gebühren gegenüber der Klägerin in monatlichen Abschnitten ab. Die Gebührenbescheide werden von der Klägerin vor dem Verwaltungsgericht regelmäßig angefochten. Gegenstand des nach Auffassung des Beklagten auszusetzenden Hauptsacheverfahrens sind die Gebührenbescheide für die Monate Mai bis Dezember 2009.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 17. Juni 2010 (6 A 144/08) die Klage der Klägerin gegen Gebührenbescheide zu früheren Zeiträumen abgewiesen. Der Senat hat mit Beschluss vom 5. März 2012 die Berufung gegen dieses Urteil zugelassen. Daraufhin hat das Verwaltungsgericht die erstinstanzlich noch anhängigen Klageverfahren der Klägerin betreffend ihre Heranziehung zu Schlachttier- und Fleischuntersuchungsgebühren bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in diesem Berufungsverfahren ausgesetzt. Der Senat hat im Berufungsverfahren mit - zwischenzeitlich rechtkräftigem - Urteil vom 20. November 2014 (13 LB 54/12) die streitgegenständlichen Gebührenbescheide in dem (noch) streitigen Umfang aufgehoben, weil es für eine die europarechtliche Mindestgebühr überschreitende Gebührenfestsetzung an der erforderlichen Ermächtigungsgrundlage fehle. Die einschlägigen Regelungen der Gebührenordnung für die Veterinärverwaltung (in der Fassung vom 23. Januar 2014) genügten nicht dem Bestimmtheitsgebot. Klarstellend hat der Senat in diesem Urteil darauf hingewiesen, dass die Klägerin mit einer erneuten - und grundsätzlich zulässigen - rückwirkenden Regelung zu der Erhebung kostendeckender Gebühren rechnen müsse.
Der Beklagte hat dem Verwaltungsgericht unter dem 1. Dezember 2014 mitgeteilt, dass das Niedersächsische Landwirtschaftsministerium nach Vorlage der schriftlichen Fassung des Urteils ein rückwirkendes Änderungsverfahren in diesem Sinne einleiten werde, und beantragt, das erstinstanzlich noch anhängige Gerichtsverfahren bis zum Abschluss des Änderungsverfahrens auszusetzen. Das Verwaltungsgericht hat diesen Antrag zunächst nicht beschieden und das Verfahren unter dem 7. Januar 2015 aufgenommen. Mit Beschluss vom 8. Januar 2015 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, der den Termin zur mündlichen Verhandlung mit Verfügung vom selben Tag auf den 19. Februar 2015 bestimmt hat. Daraufhin hat der Beklagte das Gericht an den Aussetzungsantrag erinnert und eine Entscheidung hierüber vor der mündlichen Verhandlung beantragt. In der Sache habe das Land Niedersachsen erklärt, die rückwirkende Änderung umgehend umzusetzen. Daher sei in Kürze mit der rückwirkenden Heilung „der Formalie“ zu rechnen.
Das Verwaltungsgericht hat den Aussetzungsantrag des Beklagten mit Beschluss vom 14. Januar 2015, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, abgelehnt.
II.
Die hiergegen zulässigerweise erhobene Beschwerde des Beklagten ist unbegründet.
Ohne Erfolg rügt der Beklagte den Aussetzungsbeschluss als verfahrensfehlerhaft, weil das Verwaltungsgericht über den Aussetzungsantrag erst entschieden habe, nachdem es das Verfahren terminiert habe. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs begründet dieses Vorgehen schon deshalb nicht, weil der Aussetzungsantrag des Beklagten überhaupt nicht zwingend durch Beschluss abzulehnen war. Die Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens kann auch im Rahmen der Entscheidung zur Hauptsache erfolgen (Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl., § 94 Rn. 6; Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 94 Rn. 54). Davon abgesehen ist auch nicht erkennbar, dass das Verwaltungsgericht mit seiner ablehnenden Entscheidung nur noch „der Macht des Faktischen“ folgend sein Vorgehen nachträglich legitimiert habe. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO lagen - entgegen der Auffassung des Beklagten - zu keinem Zeitpunkt vor, so dass das Verwaltungsgericht auch vor einer Terminierung zu keinem anderen Ergebnis hätte kommen dürfen.
Nach § 94 VwGO kann ein Gericht anordnen, dass die Verhandlung einer bei ihm anhängigen Klage bis zur Erledigung eines anderen Rechtsstreites auszusetzen ist, wenn seine Entscheidung vom Bestehen eines „Rechtsverhältnisses“ abhängt, das Gegenstand eines anderweit anhängigen Rechtsstreites ist. Diese Voraussetzungen sind hier unmittelbar nicht gegeben, da die Frage der hinreichenden Bestimmtheit der Regelungen der Gebührenordnung für die Veterinärverwaltung (bzw. nunmehr der Gebührenordnung für die Verwaltung im Bereich des Verbraucherschutzes) nicht als „Rechtsverhältnis“ im Sinne von § 94 VwGO anzusehen ist. Vor allem ist diese Frage auch nicht mehr Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtstreites. Das Verfahren 13 LB 54/12, in dem der Senat inzidenter die fehlende Bestimmtheit der einschlägigen Regelungen der Gebührenordnung festgestellt hat, hat mit dem Urteil vom 20. November 2014 seinen - nunmehr - rechtskräftigen Abschluss gefunden.
Der Beklagte begehrt in der Sache daher eine „nachfolgende“ Aussetzung im Hinblick auf eine zu erwartende Rechtsänderung nach Abschluss eines gerichtlichen Verfahrens. Im Grundsatz rechtfertigt eine künftige Änderung der Sach- oder Rechtslage auch in analoger Anwendung des § 94 VwGO nicht die Aussetzung des Verfahrens (Schmid, a.a.O., § 94 Rn. 52; Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: März 2014, § 94 Rn. 18). Eine nachfolgende Aussetzung kann im Hinblick auf das Gebot effektiven (zeitnahen) Rechtsschutzes daher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommen. Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht bereits vor, wenn eine Rechtsnorm wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig erklärt wird. Vielmehr muss der Normgeber (verfassungsrechtlich) verpflichtet sein, gesetzgeberisch tätig zu werden (Schmid, a.a.O, § 94 Rn. 52; Rudisile, a.a.O., § 94 Rn. 34; so im Ergebnis auch die von dem Beklagten zitierte Kommentarstelle in Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl., § 94 Rn. 4a, wonach eine Aussetzung in den zitierten Fällen bis zu einer „erforderlichen“ gesetzlichen Neuregelung geboten sei). Eine solche Konstellation liegt vor, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Neuregelung unter Fristsetzung anmahnt, weil der angenommene Verfassungsverstoß nur durch einen Neuregelung beseitigt werden kann (z.B. BVerfG, Beschl. v. 30.05.1990 - 1 BvL 2/83 -, BVerfGE 82, 126, juris Rn. 99 ff.). Eine Aussetzung ist auch geboten, wenn in einem gegen normgeberisches Unterlassen gerichteten Verfahren ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG gerade in dem Fehlen von Satzungsregeln gesehen wird (z.B. BVerwG, Urt. v. 07.09.1989 - 7 C 4.89 -, DVBl 1990, 155). In diesen Fällen dient eine Aussetzung bis zum Erlass einer rechtmäßigen Regelung der Rechtsverwirklichung. Das ist im Falle der „bloßen“ Feststellung der Unwirksamkeit einer Norm aber nicht die Regel.
Nach diesen - bereits vom Verwaltungsgericht dargestellten Maßstäben - kann der Beklagte die Aussetzung des Verfahrens nicht beanspruchen. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der Senat die einschlägige Vorschrift der Gebührenordnung nicht nach § 47 VwGO allgemein verbindlich für unwirksam erklärt hat. Vielmehr hat er die Vorschrift im Rahmen eine Anfechtungsklage inzident überprüft und wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot in der Sache für unanwendbar erklärt. Die Nichtanwendbarkeit des hier einschlägigen Gebührentatbestandes führt zudem zu keinem rechtswidrigen Zustand. Eine rechtliche Verpflichtung des insoweit zuständigen Niedersächsischen Landwirtschaftsministeriums, einen kostendeckenden Gebührentatbestand (mit Rückwirkung) in Kraft zu setzen, besteht nicht, und hat der Senat auch in keiner Weise formuliert. Er hat im Urteil vom 20. November 2014 lediglich klarstellend auf die rechtliche Möglichkeit verwiesen, auch rückwirkend eine hinreichend bestimmte Regelung zu der Erhebung kostendeckender Gebühren zu treffen. Dass das Landwirtschaftsministerium - nach Angaben des Beklagten - das Urteil des Senats zum Anlass nimmt, von dieser Möglichkeit einer Rechtsänderung Gebrauch zu machen, zwingt das Verwaltungsgericht in keiner Weise dazu, von einer zurzeit möglichen Sachentscheidung abzusehen. Es bleibt in der Sache eine „lediglich“ beabsichtigte Rechtsänderung, die zudem nur den Beklagten begünstigen dürfte. Auch die von den Beteiligten diskutierten Fragen, ob es dem Verordnungsgeber voraussichtlich gelingen wird, eine den Anforderungen der Entscheidung des Senats entsprechenden Regelung (rückwirkend) in Kraft zu setzen, und wann mit einer solchen Rechtsänderung zu rechnen ist, sind für die Aussetzungsentscheidung ohne rechtlichen Belang.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).