Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.12.2010, Az.: 4 LA 51/10
Ausübung eines in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag vereinbarten Kündigungsrechts durch eine Gemeinde erst nach pflichtgemäßem Ermessen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.12.2010
- Aktenzeichen
- 4 LA 51/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 33793
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:1228.4LA51.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs. 1 SGB VIII
- § 4 Abs. 3 SGB VIII
- § 5 SGB VIII
- § 69 Abs. 5 SGB VIII
- § 74 SGB VIII
- § 13 AGKJHG
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Haben die Beteiligten in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag ein Kündigungsrecht vereinbart, kann die Gemeinde von der Befugnis zur Kündigung auch dann nicht uneingeschränkt Gebrauch machen, wenn die Kündigung vertraglich nicht an das Vorliegen besonderer Voraussetzungen geknüpft ist. Vielmehr muss die Gemeinde über die Ausübung des vereinbarten Kündigungsrechts nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Zudem ist sie an etwaige öffentlich-rechtlichen Verbote und Beschränkungen gebunden.
- 2.
Die §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 3, 5 und 74 SGB VIII schließen die Ausübung eines vertraglich vereinbarten Kündigungsrechts eines Kindertagesstättenvertrages nicht aus.
Gründe
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil hat keinen Erfolg, weil die von der Klägerin geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO nicht vorliegen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, mit dem das Verwaltungsgericht die Klage auf Feststellung, dass die Kündigung des Kindertagesstättenvertrages vom 25. August 1997 durch die Beklagte gemäß Schreiben vom 18. Juli 2007 unwirksam ist, abgewiesen hat.
Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Beklagte den Kindertagesstättenvertrag wirksam zum Ende des Kindergartenjahres 2007/2008 gekündigt habe. Die Kündigung sei nicht nur formell, sondern auch materiell-rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte sei nach § 9 des Kindertagesstättenvertrages zu dessen ordentlicher Kündigung berechtigt gewesen. Aus dem Vertrag selbst hätten sich abgesehen vom Erfordernis der Einhaltung der hier beachteten Kündigungsfrist keine Beschränkungen des Kündigungsrechts ergeben. Die Beklagte sei auch nicht aufgrund gesetzlicher Bestimmungen an der Kündigung des Vertrages gehindert gewesen. Insbesondere hätten jugendhilferechtliche Vorschriften der Kündigung nicht entgegengestanden. Die Beklagte sei aufgrund der mit dem Landkreis Soltau-Fallingbostel nach § 69 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. § 13 AGKJHG geschlossenen Vereinbarungen über die Wahrnehmung der Aufgabe "Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen" durch die Gemeinde nicht Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe geworden, weil die Vereinbarung zu keiner Kompetenzverlagerung in jugendhilferechtlicher Hinsicht geführt habe. Daher unterliege die Beklagte keinen Bindungen und Beschränkungen, die sich aus dem SGB VIII für die Tätigkeit eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe ergäben. Da die Kündigung vertraglich nicht an Voraussetzungen geknüpft sei, komme es auch nicht auf die Begründung der Beklagten für die Kündigung an.
Diese Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, so dass die Berufung nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zugelassen werden kann.
Haben die Beteiligten - wie im vorliegenden Fall - in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag ein Kündigungsrecht vereinbart, kann die Gemeinde von der Befugnis zur Kündigung dieses Vertrages auch dann nicht uneingeschränkt Gebrauch machen, wenn die Kündigung vertraglich nicht an das Vorliegen besonderer Voraussetzungen geknüpft ist. Vielmehr muss die Gemeinde über die Ausübung des vereinbarten Kündigungsrechts nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 3.7.1979 - VI S 31.79 -). Außerdem ist sie an etwaige öffentlich-rechtlichen Verbote und Beschränkungen gebunden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.8.1992 - 10 S 816/91 -, NVwZ 1993, 903 [OVG Saarland 25.11.1992 - 8 W 108/92]; OVG Berlin, Beschl. v. 3.7.1979 - VI S 31.79 -).
Ausgehend davon ist die Kündigung des Kindertagesstättenvertrages durch die Beklagte nicht zu beanstanden. Dem Schreiben der Beklagten vom 18. Juli 2007 ist zwar eine Ermessensentscheidung über die Ausübung des Kündigungsrechts nicht zu entnehmen, da das Schreiben lediglich besagt, dass der Gemeinderat am 17. Juli 2007 beschlossen hat, das Vertragsverhältnis nach § 9 des Kindertagesstättenvertrages zum Ende des Kindergartenjahres 2007/2008 fristgerecht zu kündigen. Die Beklagte hat der Klägerin aber mit Schreiben vom 1. Oktober 2007 mitgeteilt, dass der Gemeinderat in seiner Sitzung am 20. September 2007 nochmals über die Kündigung beraten und an seinem Beschluss festgehalten hat, und zugleich die für die Kündigung maßgebenden Erwägungen konkret benannt. Die diesbezüglichen Ausführungen bieten hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte eine Ermessensentscheidung über die Ausübung des Kündigungsrechts unter Abwägung des öffentlichen Interesses an einer sparsamen Haushaltsführung gegen das Interesse der Klägerin an einer Fortsetzung des Vertragsverhältnisses getroffen hat. Da das Schreiben vom 1. Oktober 2007 das Kündigungsschreiben vom 18. Juli 2007 ergänzt, kann entgegen der Annahme der Klägerin keine Rede davon sein, dass die Kündigung des Kindertagesstättenvertrages durch die Beklagte mangels Ermessensausübung unwirksam sei. Da die von der Klägerin betriebene Kindertagesstätte seit Jahren bei gleichem Standard einen höheren Zuschussbedarf als die anderen Kindertagesstätten im Gemeindegebiet gehabt hat, die Beklagte den von ihr angeführten Grundsatz der sparsamen Haushaltsführung auch bei der Bezuschussung von Kindertagesstätten beachten muss und der Klägerin die Möglichkeit verbleibt, sich nach einer neuen Ausschreibung erneut um die Betriebsführung der Kindertagesstätte zu bewerben, erweist sich die Entscheidung der Beklagten, den Vertrag zu kündigen, auch nicht als ermessensfehlerhaft.
Überdies ist die Beklagte auch nicht aufgrund von Bestimmungen des SGB XIII an der Kündigung des Kindertagesstättenvertrages gehindert gewesen. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere die von der Klägerin angeführten §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 3, 5 und 74 SGB VIII die Ausübung des vertraglich vereinbarten Kündigungsrechts nicht ausschließen. Aus§ 3 Abs. 1 SGB VIII, der besagt, dass die Jugendhilfe durch die Vielzahl von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und die Vielzahl von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen gekennzeichnet ist, lässt sich keine Einschränkung des in einem Kindertagesstättenvertrag vereinbarten Kündigungsrechts herleiten. Der in § 4 Abs. 3 SGB VIII enthaltene Programmsatz, dass die öffentliche Jugendhilfe die freie Jugendhilfe nach Maßgabe des SGB VIII fördern und dabei die verschiedenen Formen der Selbsthilfe stärken soll, steht einer sachlich begründeten Kündigung eines Kindertagesstättenvertrages ebenfalls nicht entgegen. Entsprechendes gilt für das in § 5 SGB VIII normierte Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten, da dieses - wie bereits vom Verwaltungsgericht ausgeführt - sich nur auf bestehende Einrichtungen bezieht und einen Anspruch auf die Schaffung von Einrichtungen oder die Erhaltung bestehender Einrichtungen nicht begründet. Schließlich kann auch aus den in § 74 SGB VIII enthaltenen Regelungen über die Förderung der freien Jugendhilfe eine Einschränkung eines vertraglich vereinbarten Rechts zur Kündigung eines Kindertagesstättenvertrages, das wegen eines höheren Zuschussbedarfs als bei anderen Kindertagesstätten ausgeübt wird, nicht hergeleitet werden. Folglich kann dahinstehen, inwieweit die vorstehenden Vorschriften die Beklagte, die aufgrund der mit dem Landkreis Soltau-Fallingbostel nach § 69 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. § 13 AGKJHG getroffenen Vereinbarungen die Aufgabe "Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen" wahrzunehmen hat, selbst aber nicht Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe ist, überhaupt in rechtlicher Hinsicht binden.
Die Berufung kann des Weiteren nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden. Die Klägerin hat zwar zur Begründung ihres Zulassungsantrags ausgeführt, dass die Frage, in welchem Umfang die Kündigung eines Betriebsführungsvertrages zwischen einer Gemeinde und einem freien Träger der Jugendhilfe inhaltlichen Beschränkungen unterliege, klärungsbedürftig sei, weil als nicht hinreichend geklärt angesehen werden müsse, in welchem Umfang Übertragungsverträge auf der Grundlage des § 13 AGKJHG auch eine inhaltliche "Inpflichtnahme" der kreisangehörigen Gemeinden bedeuteten. Diese Frage verleiht der Rechtssache der Klägerin aber keine grundsätzliche Bedeutung. Zum einen kann dahinstehen, in welchem Umfang Übertragungsverträge auf der Grundlage des § 13 AGKJHG auch eine inhaltliche "Inpflichtnahme" der kreisangehörigen Gemeinden bewirken, da die von der Klägerin angeführten Bestimmungen desSGB VIII der Wirksamkeit der von der Beklagten ausgesprochenen Kündigung des Kindertagesstättenvertrages nicht entgegenstehen. Zum anderen bedarf es auch keiner Durchführung eines Berufungsverfahrens, um zu klären, dass Gemeinden nach pflichtgemäßem Ermessen über die Ausübung eines in einem Kindertagesstättenvertrag vereinbarten Kündigungsrechts entscheiden müssen und bei dieser Entscheidung an etwaige öffentlich-rechtlichen Verbote und Beschränkungen gebunden sind.
Schließlich ist die Berufung auch nicht wegen besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten zuzulassen, weil sich die Rechts- und Tatsachenfragen, die in diesem Verfahren entscheidungserheblich sind, ohne besondere, d.h. überdurchschnittliche Schwierigkeiten beantworten lassen.