Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.12.2010, Az.: 9 ME 128/10

Pflicht zur Ausschöpfung aller denkbaren Vollstreckungsmöglichkeiten vor dem Erlass eines Duldungsbescheids

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.12.2010
Aktenzeichen
9 ME 128/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 29537
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:1207.9ME128.10.0A

Fundstellen

  • FStNds 2011, 181-183
  • ZfIR 2011, 260-261

Amtlicher Leitsatz

Ein allgemeiner Grundsatz der Subsidiarität der Inanspruchnahme eines Duldungspflichtigen in dem Sinne, dass vor dem Erlass eines Duldungsbescheids gegenüber dem Steuerschuldner alle denkbaren Vollstreckungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen, besteht nicht.

Gründe

1

Durch Bescheid vom 3. November 2009 hat die Antragsgegnerin den Antragsteller verpflichtet, die Vollstreckung in seinen Grundbesitz "B. Straße 120/122" wegen rückständiger Grundsteuerforderungen des Voreigentümers des Grundstücks in Höhe von 9.260,28 EUR zu dulden. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage angeordnet. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, zwar lägen die Voraussetzungen für den Erlass eines entsprechenden Duldungsbescheids vor. Die Antragsgegnerin habe ihr Ermessen aber fehlerhaft ausgeübt. Eine Inanspruchnahme als Duldungspflichtiger komme grundsätzlich erst dann in Betracht, wenn die Durchsetzung der Steuerforderung beim persönlich Verpflichteten ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen sei, dass eine Forderungsdurchsetzung aussichtslos sein würde. Da das Insolvenzverfahren gegen den vorherigen Eigentümer des Grundstücks noch nicht beendet und eine Insolvenzmasse vorhanden sei, sei nicht auszuschließen, dass die Grundsteuerforderungen abgelöst werden würden. Die Antragsgegnerin habe es versäumt, Ermessenserwägungen dazu anzustellen, weshalb sie nicht die abschließende Verteilung der Insolvenzmasse abwarte, sondern während des noch anhängigen Insolvenzverfahrens ihre Forderungen gegenüber dem nachrangig haftenden Antragsteller durchsetzen wolle. Hinzu komme, dass der Duldungsbescheid keine Ermessenserwägungen darüber enthalte, weshalb die Antragsgegnerin einerseits vor dem freihändigen Verkauf des auf dem Grundstück befindlichen Hotelbetriebs durch den Insolvenzverwalter die Möglichkeit einer zeitnahen Befriedigung ihrer Forderung durch Geltendmachung eines Absonderungsrechts ungenutzt gelassen habe, jedoch andererseits den nachrangig haftenden Duldungspflichtigen vor Abschluss des Insolvenzverfahrens in Anspruch nehme.

2

Im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens hat die Antragsgegnerin ihre Ermessenserwägungen wie folgt ergänzt: Da gegen den Voreigentümer ein Insolvenzverfahren eröffnet worden sei, habe sie davon ausgehen dürfen, dass ihm gegenüber eine Vollstreckung aussichtslos sein würde. Nach den bislang vom Insolvenzverwalter mitgeteilten Informationen könne mit einer Befriedigung der rückständigen Grundsteuerforderungen aus der Insolvenzmasse in Höhe von rd. 5 - 9% gerechnet werden. Dem Erlass des Duldungsbescheids stehe nicht entgegen, dass sie ein Absonderungsrecht nicht ausgeübt habe. Mit der Befugnis zum Erlass eines Duldungsbescheids habe der Gesetzgeber ihr eine Handlungsoption eingeräumt. Diese zu nutzen, könne ihr nicht deswegen verwehrt sein, weil sie andere nur zu einem früheren Zeitpunkt gegebene Befriedigungsmöglichkeiten nicht genutzt habe. Auch aus Gründen der Rechtsklarheit gegenüber dem Erwerber des Grundstücks und Duldungspflichtigen sei es nicht angezeigt, vor Erlass des Duldungsbescheids den Abschluss des Insolvenzverfahrens abzuwarten. Zur Begründung ihrer Beschwerde hat sie auf ihre ergänzten Ermessenserwägungen verwiesen.

3

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist im Wesentlichen begründet. Die im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führen zu der im Tenor vorgesehenen Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts. Im Einzelnen:

4

Die Antragsgegnerin hat ihr Ermessen hinsichtlich des "Ob" einer Inanspruchnahme des Antragstellers als Duldungspflichtigen ausgeübt. Hiervon zeugt bereits die im angefochtenen Bescheid vom 3. November 2009 vorgenommene Abwägung zwischen ihrem - in ordnungsgemäßer Weise am Zweck der Ermächtigungsgrundlage ausgerichteten - Interesse, Steuerausfälle zu vermeiden, auf der einen Seite und den gegen eine Inanspruchnahme streitenden Interessen des Antragstellers auf der anderen Seite. Anders als dieser meint, zwingt der Umstand, dass nach Lage der Akten die Antragsgegnerin nicht erwogen hat, ob sie von einem etwaigen Absonderungsrecht Gebrauch macht, zu keiner anderen Beurteilung. Die Frage, ob ein Absonderungsrecht ausgeübt wird, ist von der hier maßgeblichen Frage zu trennen, ob der Antragsteller als Duldungspflichtiger in Anspruch genommen werden soll.

5

Die Antragsgegnerin hat ihre Ermessenserwägungen in zulässiger Weise ergänzt (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 30.4.2010 - 9 B 42/10 - NVwZ-RR 2010, 550, [...]). Ihr Ermessen hat sie nach summarischer Prüfung im Wesentlichen rechtsfehlerfrei ausgeübt.

6

Das Verwaltungsgericht und mit ihm die Antragsgegnerin in ihren ergänzenden Ermessenserwägungen sind zutreffend davon ausgegangen, dass eine Inanspruchnahme des Duldungspflichtigen, hier des Antragstellers, grundsätzlich erst dann in Betracht kommt, wenn die Durchsetzung der Forderung bei dem Steuerschuldner ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen ist, dass eine Forderungsdurchsetzung aussichtslos sein würde (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 31.8.2009 - 9 LA 419/07 - KStZ 2009, 214 m.w.N.). Allerdings ist dies nicht dahin zu verstehen, dass gegenüber dem Steuerschuldner alle denkbaren Vollstreckungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen, bevor der Erlass eines Duldungsbescheids in Betracht gezogen werden kann. Einen allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der Inanspruchnahme des Duldungspflichtigen in diesem Sinne gibt es nach summarischer Prüfung nicht (vgl. HessVGH, Beschluss vom 22.1.2010 - 5 B 3254/09 - KStZ 2010, 77, [...]; OVG Saarland, Beschluss vom 12.10.2007 - 1 B 340/07 - NJW 2008, 250, [...] Rdn. 10; offen gelassen in BVerwG, Urteil vom 13.2.1987 - 8 C 25/85 - BVerwGE 77, 38, [...] Rdn. 24; in Bezug auf die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners etwa Loose in Tipke/Kruse, AO, Kommentar, Band 2, Stand: Juni 2010, § 191 Rdn. 16, 43; a. A. wohl OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.1.1989 - 6 B 79/88 - NJW 1989, 1878 ).

7

Soweit erkennbar, ist gesetzlich nicht geregelt, ob ein Duldungspflichtiger nur nachrangig gegenüber dem Steuerschuldner in Anspruch genommen werden kann. Lediglich in Bezug auf die - ebenfalls in § 11 Abs. 1 Nr. 4 b) NKAG i.V.m. § 191 AO geregelte - Haftungsschuldnerschaft findet sich in § 11 Abs. 1 Nr. 5 a) NKAG i.V.m. § 219 AO eine Regelung. Nach § 219 Satz 1 AO darf ein Haftungsschuldner auf Zahlung grundsätzlich nur in Anspruch genommen werden, soweit die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Steuerschuldners ohne Erfolg geblieben oder anzunehmen ist, dass die Vollstreckung aussichtslos sein würde. Einen vergleichbaren Rechtsgedanken enthalten die die Vollstreckung von Leistungsbescheiden regelnden Vorschriften des Niedersächsischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes. § 58 Abs. 4 NVwVG regelt für die Vollstreckung in das unbewegliche Vermögen, dass Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung nur beantragt werden sollen, wenn festgestellt ist, dass der Geldbetrag durch Vollstreckung in das bewegliche Vermögen nicht beigetrieben werden kann. Ob die zitierte Regelung für die Haftungsinanspruchnahme für die hier in Rede stehende Inanspruchnahme als Duldungspflichtiger entsprechend herangezogen werden kann, kann hier offen bleiben. Jedenfalls bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass in Bezug auf Duldungspflichtige ein weitreichender Nachrang in dem Sinne gilt, dass vor dem Erlass eines Duldungsbescheids gegenüber dem Steuerschuldner alle Möglichkeiten etwa zur Vollstreckung auch in das unbewegliche Vermögen oder zur Geltendmachung wie hier in Rede stehender Absonderungsrechte ausgeschöpft sein müssen (vgl. auch OVG Saarland, Beschluss vom 12.10.2007 - 1 B 340/07 - NJW 2008, 250, [...] Rdn. 10; HessVGH, Beschluss vom 22.1.2010 - 5 B 3254/09 - KStZ 2010, 77, [...]; Driehaus, KAG, Kommentar, Stand März 2009, Band II, § 8 Rdn. 193 i.V.m. Rdn. 197).

8

Nach diesen Maßgaben lässt die von der Antragsgegnerin getroffene Abwägung Ermessensfehler nicht erkennen. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durfte sie zunächst davon ausgehen, dass mit einer Befriedigung der offenen Grundsteuerforderungen aus dem Vermögen des steuerpflichtigen Voreigentümers nicht ohne Weiteres gerechnet werden konnte. In einer solchen Situation ist die Inanspruchnahme eines Duldungspflichtigen in der Regel ermessensfehlerfrei möglich (so auch OVG Saarland, Beschluss vom 12.10.2007 - 1 B 340/07 - NJW 2008, 250, [...] Rdn. 10). Dies gilt grundsätzlich auch hier. Die Ausführungen der Antragsgegnerin zu der Frage, wieso sie bereits jetzt und nicht erst nach der abschließenden Verteilung der Insolvenzmasse den Duldungsbescheid erlassen hat, geben keinen Anlass zur Beanstandung. Auf die weiteren vom Verwaltungsgericht geforderten Ausführungen dazu, weshalb die Antragsgegnerin nicht versucht habe, ein etwaiges Absonderungsrecht geltend zu machen, kommt es nach den obigen Ausführungen nicht an. Dies gilt, zumal es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die unterlassene Geltendmachung dieses Rechts auf einer vorsätzlichen oder sonstigen besonders groben Pflichtverletzung beruht (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 31.8.2009 - 9 LA 419/07 - KStZ 2009, 214 m.w.N.).

9

Allerdings ist vorliegend noch zu berücksichtigen, dass der Antragsgegnerin im Zeitpunkt des Erlasses des Duldungsbescheids vom 3. November 2009 die zum Verfahren eingereichten Berichte des Insolvenzverwalters u.a. vom 16. Juni 2009 bekannt gewesen sein dürften bzw. bekannt gewesen sein müssten. Infolge der Informationen des Insolvenzverwalters rechnet die Antragsgegnerin mit einer Befriedigung der rückständigen Grundsteuerforderungen in Höhe von rd. 5 - 9%. Diesen Umstand hätte sie nach summarischer Prüfung berücksichtigen und die Höhe der Inanspruchnahme des Antragstellers als Duldungspflichtigen entsprechend begrenzen müssen.

10

Der Senat macht von dem ihm durch § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eröffneten Ermessen Gebrauch und nimmt diese Unzulänglichkeit in der Ermessensausübung zum Anlass, die aufschiebende Wirkung der Klage in Höhe der möglichen Befriedigung der Forderung aus der Insolvenzmasse zuzüglich eines Sicherheitszuschlags und damit in Höhe von insgesamt 10% anzuordnen.