Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 20.07.2012, Az.: L 9 AS 563/12 B ER

Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
20.07.2012
Aktenzeichen
L 9 AS 563/12 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 23436
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2012:0720.L9AS563.12B.ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 09.05.2012 - AZ: S 46 AS 1049/12 ER

Fundstelle

  • NZS 2013, 80

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greift bei EU-Bürgern dann ein, wenn diese noch keine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt haben.

  2. 2.

    Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verstößt weder gegen europäisches Primärrecht (Art. 18, 21, 45 AEUV) noch gegen europäisches Sekundärrecht (Art. 4 EGVVerordnung (EG) Nr. 883/2004). Diese Rechtsauffassung hat hinsichtlich des europäischen Sekundärrechts auch vor dem Hintergrund der zum 1.5.2010 in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 883/2004 weiterhin Gültigkeit.

  3. 3.

    Ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland kann sich im Rahmen der Geltendmachung von SGB II-Leistungen nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 Europäisches Fürsorgeabkommen berufen, weil die Bundesregierung mit Vorbehaltserklärung vom 15.12.2011, in Kraft ab 19.12.2011 (Bekanntmachung des Auswärtigen Amtes vom 31.1.2012, BGBl II 2012, 144), einen wirksamen Anwendungsausschluss ausgesprochen hat.

  4. 4.

    Die Vorbehaltserklärung der Bundesregierung umfasst jedoch nicht Leistungen nach dem Europäischen Fürsorgeabkommen in Verbindung mit den Regelungen des Dritten Kapitels des SGB XII.

  5. 5.

    Der Gesetzgeber hat mit § 23 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB XII keine Abweichung von den Regelungen des Europäischen Fürsorgeabkommens vorgenommen.

  6. 6.

    § 21 S. 1 SGB XII steht einem Anspruch nach dem Europäischen Fürsorgeabkommen in Verbindung mit den Regelungen des Dritten Kapitels des SGB XII nicht entgegen, wenn der Hilfebedürftige wegen der Regelung in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II keine Leistungen nach dem SGB II beanspruchen kann. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 9. Mai 2012 - S 46 AS 1049/12 ER - aufgehoben.

Die Beigeladene wird im Wege einstweiligen Rechtsschutzes dem Grunde nach verpflichtet, dem Antragsteller zum einen für die Zeit vom 16. März 2012 bis zu einer bindenden Entscheidung über dessen Antrag vom 10. November 2011 vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt sowie zum anderen auf dessen Antrag vom 25. Oktober 2011 vorläufig ein Darlehen zur Anschaffung eines Passes als Darlehen jeweils unter Berücksichtigung der bislang vorläufig von dem Antragsgegner erbrachten Leistungen zu gewähren.

Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beider Rechtszüge.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. aus G. als Prozessbevollmächtigten bewilligt.

Gründe

1

I. Der Antragsteller und Beschwerdegegner begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung existenzsichernder Leistungen.

2

Der am 13. Oktober 1967 geborene Beschwerdegegner ist Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland. Er war - nach eigenem Vortrag - 27 Jahre Berufssoldat in der britischen Armee, befand sich sodann vier Jahre in Haft und hat von September 2009 bis März 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezogen. Im März 2011 zog er aus einer Bedarfsgemeinschaft mit einer weiteren Person aus, war zunächst wohnungslos und ist seit dem 8. Mai 2012 gegen eine Gebühr von monatlich 159,- EUR in der Unterkunft der Stadt G. - Fachbereich Planen und Stadtentwicklung/Stadterneuerung und Wohnen - untergebracht.

3

Mit Schreiben des Betreuers des Beschwerdegegners vom 21. Oktober 2011, bei dem Antragsgegner und Beschwerdeführer am 25. Oktober 2011 eingegangen, beantragte der Beschwerdegegner die Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung eines Passes in Höhe von 176,-EUR beim Britischen Konsulat. In der Verwaltungsakte des Beschwerdeführers findet sich ein als "Entwurf" überschriebenes, nicht unterschriebenes und nicht mit einem Absendevermerk versehenes Schreiben ohne Rechtsbehelfsbelehrung, in dem der Beschwerdeführer den Antrag auf Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung eines Passes ablehnt.

4

Mit Schreiben des Betreuers des Beschwerdegegners vom 1. November 2011, bei dem Beschwerdeführer per Fax am 10. November 2011 eingegangen, beantragte der Beschwerdegegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und hielt seinen Antrag auf Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung eines Passes aufrecht.

5

Soweit ersichtlich hat der Beschwerdeführer bislang zumindest nicht über den Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom 10. November 2011 entschieden.

6

Der Beschwerdegegner hat am 16. März 2012 bei dem Sozialgericht (SG) Hannover einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.

7

Das SG hat den Beschwerdeführer mit Beschluss vom 9. Mai 2012 im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Beschwerdegegner ab dem 16. März 2012 bis zur Feststellung einer eventuellen Erwerbsunfähigkeit oder bis zum Bezug von Einkommen, längstens bis zum 30. September 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des Regelbedarfs für Alleinstehende nach den §§ 19, 20 SGB II, ab dem 1. Juni 2012 zusätzlich Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II und ein Darlehen zur Beschaffung eines Passes nach § 24 SGB II zu gewähren. Der Beschwerdegegner habe neben dem Anordnungsgrund auch einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Trotz der vorgetragenen Alkoholabhängigkeit des Beschwerdegegners sei im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zumindest bis zu einer anderslautenden Feststellung des Beschwerdeführers nach § 44a SGB II davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II sei. Der Beschwerdegegner sei auch im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II erwerbsfähig, weil ihm als EU-Bürger nach § 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizüG/EU) eine Beschäftigung rechtlich erlaubt werden könnte. Der Beschwerdegegner sei darüber hinaus hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II, weil er seinen Bedarf nicht mit einem ihm zur Verfügung stehenden Einkommen oder Vermögen decken könne. Der Leistungsanspruch sei auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R -) nicht anwendbar, wenn sich der Hilfebedürftige auf Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) berufen könne. Dieses sei vorliegend der Fall. Durch die gegenüber dem Generalsekretär des Europäischen Rates am 19. Dezember 2011 abgegebene Erklärung der Bundesregierung sei diesem keine neue Rechtsvorschrift im Sinne des Art. 16b Satz 2 EFA mitgeteilt worden. Zudem handele es sich bei dem SGB II nicht um eine "neue" Rechtsvorschrift im Sinne des Art. 16b Satz 2 EFA, weil es schon lange vor Abgabe der Erklärung vom 19. Dezember 2011 existent sei. Die Entscheidung des BSG vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - stelle keine "neue" Rechtsvorschrift im Sinne des Art. 16b Satz 2 EFA dar. Es sei auch nicht "gleichzeitig" im Sinne des Art. 16b Satz 2 EFA mit der Mitteilung einer neuen Rechtsvorschrift ein Vorbehalt erklärt worden. Art. 16b EFA sehe nicht vor, dass ein Vorbehalt auch dann wirksam erklärt werden kann, wenn der Vertragsstaat Jahre nach Erlass eines Gesetzes erkenne, dass er die Konsequenzen der Anwendung des EFA auf dieses Gesetz nicht tragen wolle. Außerdem habe das EFA als völkerrechtlicher Vertrag durch innerstaatliche Umsetzung den Rang eines Parlamentsgesetzes im Sinne des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) und ein solches könne durch eine bloße Erklärung (der Bundesregierung) nicht eingeschränkt werden; auch insoweit bedürfe es eines Parlamentsgesetzes. Der Anspruch auf Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung eines Passes sei nach § 24 SGB II gegeben, weil die Kosten für die Anschaffung eines Passes "andere Waren und Dienstleistungen" im Sinne der Abteilung 12 des § 5 Abs. 1 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz seien und damit von der Regelleistung umfasst seien.

8

Der Beschwerdeführer hat gegen den ihm am 11. Mai 2012 zugestellten Beschluss am 15. Mai 2012 Beschwerde zum Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt und unter anderem beantragt, die Vollstreckung aus dem Beschluss des SG vom 9. Mai 2012 auszusetzen.

9

Mit Beschluss vom 30. Mai 2012 hat der Senat die Vollstreckung aus dem Beschluss des SG vom 9. Mai 2012 gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgesetzt. Dieses hat der Beschwerdeführer zum 1. Juli 2012 umgesetzt.

10

Der Beschwerdeführer trägt hinsichtlich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durch Bezugnahme auf die Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg vom 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER - sinngemäß vor, dass er keine Zweifel an der Europarechtskonformität der Regelung habe. Hinsichtlich der Anwendung des EFA trägt er vor, dass für ihn der Wille der Bundesregierung, aber auch des Gesetzgebers klar ersichtlich sei. Danach sei davon auszugehen, dass die Bundesregierung wisse, wann, wo und in welchem Umfang sie sich vertraglich auf europäischer Ebene gebunden habe.

11

Mit Beschluss vom 11. Juli 2012 hat der Senat die Region G. als Träger der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) gemäß §§ 75 Abs. 1, 106 Abs. 3 Nr. 6 und 153 SGG beigeladen.

12

Der Beschwerdeführer beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

13

1. den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 9. Mai 2012 - S 46 AS 1049/12 ER - aufzuheben und

14

2. den Antrag Beschwerdegegners auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.

15

Der Beschwerdegegner hat einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. aus G. als Prozessbevollmächtigten gestellt und beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

16

die Beschwerde des Beschwerdeführers zurückzuweisen.

17

Er trägt mit Schriftsatz vom 13. Juni 2012, am gleichen Tag per Fax beim LSG Niedersachsen-Bremen eingegangen, zum einen unter Verweis auf die Entscheidungen des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 11. August 2011 - L 15 AS 188/11 B ER -) und des Schleswig-Holsteinischen LSG (Beschluss vom 14. September 2011 - L 3 AS 155/11 B ER -) vor, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zum 1. Mai 2010 nicht mehr europarechtskonform sei. Zum anderen fände der von der Bundesregierung ausgesprochene Vorbehalt, wonach das EFA hinsichtlich der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nicht für Staatsangehörige des Königreichs von Großbritannien und Nordirland gelte, vorliegend keine Anwendung. Es gehe um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für einen Zeitraum vor dem Ausspruch des Vorbehalts durch die Bundesregierung, so dass lediglich eine Aufhebung nach § 40 SGB II i.V.m. § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) in Betracht käme. Zudem würde er nicht entsprechend dem Sinn des Vorbehalts, eine Einwanderung in die Sozialsysteme zu unterbinden, der Zielgruppe dieses Vorbehalts unterfallen, weil er sich bereits seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte.

18

Die Beigeladene ist der Auffassung, dass sich kein Leistungsanspruch nach dem SGB XII ergebe. Der Beschwerdegegner gehöre zu dem nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II genannten leistungsberechtigten Personenkreis und sei danach gemäß § 21 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II. Folglich greife hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB XII der Ausschlussgrund des § 21 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Daran ändere auch eine etwaige Zugehörigkeit zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB II nicht, denn die Leistungsberechtigung dem Grunde nach ergebe sich allein aus Satz 1 der Regelung des § 7 Abs. 1 SGB II, was auch an der Definition im Klammerzusatz ("erwerbsfähige Leistungsberechtigte") ergebe. Im Übrigen sei die Vorbehaltserklärung der Bundesregierung mit europarechtlichen Regelungen unvereinbar und deshalb wirkungslos. Aber selbst wenn man von einem wirksamen Ausschluss ausginge, so würde sich ein solcher auch aus § 23 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB XII ergeben. Es sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber weder Leistungen nach dem SGB II noch nach dem SGB XII habe einräumen wolle. Hinsichtlich der Kosten für die Anschaffung eines Passes fehle es an einer für die Übernahme nach § 73 SGB XII erforderlichen atypischen Bedarfslage und die Vergleichbarkeit mit den Leistungsvoraussetzungen des 5. bis 9. Kapitels des SGB XII liege nicht vor.

19

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes, insbesondere den weiteren umfangreichen Vortrag der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beschwerdeführers, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist, Bezug genommen.

20

II. Die zulässige Beschwerde des Beschwerdeführers ist insoweit begründet, als im Wege einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b Abs. 2 SGG nicht der Beschwerdeführer nach dem SGB II, sondern die Beigeladene verpflichtet ist, dem Beschwerdegegner vorläufig zum einen für die Zeit vom 16. März 2012 bis zu einer bindenden Entscheidung über dessen Antrag vom 10. November 2011 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem EFA i.V.m. den Regelungen des Dritten Kapitels des SGB XII und zum anderen ein Darlehen zur Anschaffung eines Passes nach dem EFA i.V.m. § 73 SGB XII jeweils unter Berücksichtigung der bislang vorläufig von dem Beschwerdeführer erbrachten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

21

Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 SGG sind erfüllt.

22

Danach ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis vorzunehmen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund, dass heißt die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, als auch ein Anordnungsanspruch, dass heißt die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs, glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweg genommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG), ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, Juris Rn. 25, 26).

23

Unter Beachtung dieser Maßgaben hat der Beschwerdegegner neben dem Anordnungsgrund, der sich aus der existenzsichernden Funktion der begehrten Leistungen ergibt, auch einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Zu letztem Folgendes:

24

Der Anordnungsanspruch ergibt sich nicht aus dem SGB II. Insoweit ist der Beschwerdeführer zu Unrecht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet worden, dem Beschwerdegegner für die Zeit ab dem 16. März 2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren (hierzu unter 1.]).

25

Zwar ist der ursprüngliche Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gerichtet auf die Zahlung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Doch mit dieser Einschränkung wäre das Begehren des Beschwerdegegners nicht umfassend gewürdigt, denn er will Zahlung von Sozialleistungen zur Sicherung seines existenziellen Bedarfs unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt erreichen. Deshalb kann sein Begehren nicht allein auf mögliche Anspruchsgrundlagen aus dem SGB II gestützt werden.

26

Danach ergibt sich der Anordnungsanspruch vielmehr aus dem EFA i.V.m. den Regelungen des Dritten Kapitels des SGB XII und § 73 SGB XII, dessen Voraussetzungen der Beschwerdegegner hinreichend glaubhaft gemacht hat. Die vorläufige Leistungsverpflichtung der Beigeladenen wird nach § 75 Abs. 5 SGG in entsprechender Anwendung ausgesprochen (hierzu unter 2.]).

27

1. Anspruchsgrundlage für das Begehren des Beschwerdegegners im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist die Regelung des § 7 SGB II.

28

Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig sind (Nr. 2), hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4).

29

Diese Voraussetzungen sind nach summarischer Prüfung erfüllt. Der Beschwerdegegner hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altergrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig sowie nach den vorliegenden Vorgängen hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in G. und damit in der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem SG ist insbesondere davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner trotz der vorgetragenen Alkoholabhängigkeit jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bis zu einer anderslautenden Feststellung des Beschwerdeführers erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II ist. Der Beschwerdegegner unterfällt zudem als Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland gemäß § 2 Abs. 2 FreizügG/EU der unbeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit (vgl. zum Meinungsstreit hinsichtlich der Anforderungen an die Möglichkeit der Erlaubnis einer Beschäftigungsaufnahme vor Inkrafttreten des § 8 Abs. 2 Satz 2 SGB II zum 1. April 2011 Hackethal in: jurisPK-SGB II, 3. Auflage 2012, § 8, Rn. 33 m.w.N.), und ist damit auch erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 23. Mai 2012 - L 9 AS 47/12 B ER, abrufbar unter Juris).

30

Dem begehrten Leistungsanspruch des Beschwerdegegners steht jedoch nach Auffassung des Senats der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegen.

31

Danach sind vom anspruchsberechtigten Personenkreis die Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Der Beschwerdegegner hält sich nach der gebotenen summarischen Prüfung allein aus dem Zweck der Arbeitssuche im Bundesgebiet auf. Ein anderer Zweck ist weder vorgetragen (und hinreichend glaubhaft gemacht) worden noch ansonsten ersichtlich.

32

§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II verstößt auch nicht gegen höherrangiges europäisches Primär- oder Sekundärrecht.

33

Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest. Weder Art. 18 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) noch Art. 21 Abs. 1 AEUV werden unbegrenzt gewährleistet; die Leistungsfähigkeit der Systeme der sozialen Sicherung als legitimes Ziel des Mitgliedstaats rechtfertigt die Ungleichbehandlung (vgl. Beschluss des Senats vom 2. August 2007 - L 9 AS 447/07 ER -, abrufbar unter Juris; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. März 2012 - L 29 AS 414/12 B ER -, Juris Rn. 34 ff. und LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER -, Juris Rn. 29 ff.; instruktiv: SG Osnabrück, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - S 16 AS 711/11 ER -; abrufbar unter Juris).

34

In Fortführung dieser Rechtsprechung kann die Beschränkung des Rechts auf soziale Teilhabe aus wirtschaftlichen Gründen unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des EuGH jedoch nur dann angenommen werden, wenn noch kein Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt besteht (so bereits SG Osnabrück, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - S 16 AS 711/11 ER -, Juris Rn. 40). Denn der EuGH hat in seinem Urteil vom 4. Juni 2009 - C-22/08 - und - C-23/08 - in dem Verfahren Vatsouras - (dort Rn. 38) zwar ausgeführt, dass es sich bei den Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende wohl nicht um Sozialhilfeleistungen nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ("Unionsbürgerrichtlinie") handeln dürfte, die Ausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vom Gleichbehandlungsgebot also möglicherweise nicht anzuwenden sei. Allerdings sei es legitim, wenn der Mitgliedsstaat die Leistung davon abhängig mache, dass eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt des Mitgliedsstaates besteht.

35

Diese Rechtsauffassung hat hinsichtlich des europäischen Sekundärrechts auch vor dem Hintergrund der zum 1. Mai 2010 in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 883/2004 weiterhin Gültigkeit (aufgrund dessen nunmehr im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes eine Folgenabwägung vornehmend: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. August 2011 - L 15 AS 188/11 B ER - m.w.N., Juris Rn. 24).

36

Nach Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 haben Personen im Anwendungsbereich der Verordnung die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit die Verordnung selbst nichts anderes bestimmt.

37

Zunächst ist festzustellen, dass das Diskriminierungsverbot aus Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 nicht unbeschränkt gilt.

38

Der EuGH hat zu der Problematik der sozialen Sicherung von Arbeitslosen ausgeführt, dass es der Grundsatz der Gleichbehandlung im Geltungsbereich der Verordnung eine Ungleichbehandlung nicht ausschließe, wenn sie sich aus der Anwendung des Art. 61 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ex-Art. 67 Verordnung [EWG] Nr. 1408/71) ergebe. Im konkreten Fall hat der EuGH ausgeführt, dass es möglich sei, dass der zuständige Träger bei der Berechnung der zurückgelegten Versicherungszeiten die Zeit eines in einem anderen Mitgliedstaat abgeleisteten Pflichtwehrdienstes unberücksichtigt lasse, obwohl die Berücksichtigung in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, vorgesehen ist, wenn sich diese Lösung aus der Anwendung des Art. 61 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ex-Art. 67 Verordnung [EWG] Nr. 1408/71) ergebe. Art. 61 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei eine besonderen Bestimmung, die den Anspruch eines Arbeitnehmers auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit regele (vgl. EuGH, Urteil vom 11. November 2004 - C-372/02 [Adanez-Vega] - Slg, I-10761). Dementsprechend verstoßen Ungleichbehandlungen von EU-Bürgern gegenüber den Staatsangehörigen des Mitgliedsstaats nicht gegen das in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 niedergelegte Diskriminierungsverbot, wenn sich die Ungleichbehandlung aus der Anwendung des Art. 61 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergibt (vgl. ausführlich m.w.N.: Greiser in: Eicher/Schlegel, Art. 61 EGVO 883/04, Rn. 11 f.).

39

Die Leistungen bei Arbeitslosigkeit sind - im Gegensatz zu anderen Bereichen des europäischen Sozialrechts - lückenhaft geregelt (siehe dazu umfassend: Greiser/Kador in: ZFSH/SGB 2011, 507 ff.). Ein umfassender Schutz des Wanderarbeitnehmers gegen Arbeitslosigkeit ist nicht vorgesehen. Eine weitergehende Absicherung wurde zwar bereits häufig gefordert (siehe beispielsweise: Eichenhofer in: ZIAS 1991, S. 162 ff., S. 184 ff.; Gagel in: Festschrift zum 40-jährigen Bestehen der Landessozialgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, S. 383 ff.), Reformanstrengungen (beispielsweise: KOM [1998]) 779 endg., ABl. C 38 vom 12. Februar 1999) hatten aber jeweils keinen Erfolg. Auch durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist die Lückenhaftigkeit des Schutzes nicht abgeschafft (Karl in: Das neue Sozialrecht der EU, S. 39, 52 f.).

40

Unabhängig davon hat sich durch die Einführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 bezüglich der Einordnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II keine Veränderung ergeben.

41

Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 trat zum 1. Mai 2010 in Kraft. Die Aufnahme der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erfolgte aber bereits in den Anhang IIa der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zum 28. April 2006. Zwar folgt aus einer solchen Eintragung nach der Rechtsprechung des EuGH nicht mehr zwingend, dass es sich um eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung handelt (vgl. EuGH, Urteil vom 8. März 2001 - C-215/99 [Jauch] - Slg. 2001, I-1901; anders noch: EuGH vom 4. November 1997 - C-20/96 [Snares] - Slg. 1997, I-6082), allerdings liegt auch materiell-rechtlich betrachtet eine beitragsunabhängige Geldleistung vor (vgl. dazu: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R -).

42

Daraus folgt aber, dass im Zeitpunkt der von den Beschwerdegegner angeführten Entscheidung des EuGH in dem Verfahren Vatsouras am 4. Juni 2009 (- C-22/08 - und - C 23-08 -) die Grundsicherung für Arbeitssuchende bereits als beitragsunabhängige Geldleistung im Anhang IIa der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eingetragen war und der EuGH einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 aber gerade nicht gesehen hat. Dabei ist zwar zu berücksichtigen, dass hierzu keine der vorgelegten Fragen gestellt war, allerdings hat der EuGH auch zur Arbeitsnehmerfreizügigkeit über die konkreten Fragen hinaus Stellung bezogen und einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz eben nicht festgestellt.

43

Aus den oben dargestellten Grundsätzen ergibt sich danach, dass ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 weder vom EuGH diskutiert wird noch nach Auffassung des Senats vorliegt. Der EuGH sieht die Möglichkeit, Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt regeln sollen, von einem tatsächlichen Zugang zum Arbeitsmark abhängig zu machen. Wenn also in einer solchen Regelung kein Verstoß gegen die primärrechtlichen Regelung der Art. 18 und 45 AEUV gesehen wird, so liegt bei einer derartigen Auslegung nach Ansicht des Senats auch kein Verstoß gegen das sekundärrechtlich geregelte Diskriminierungsverbot des Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vor.

44

Eine danach zu fordernde tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt besteht bei dem Beschwerdegegner hingegen nicht. Eine solche Verbindung kann sich zwar unter anderem daraus ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedsstaat gesucht hat (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009 - C-22/08 - und - C-23/08 - [Vatsouras], Rn. 39 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 23. März 2004 - C 138/02 - [Collins], Slg. 2004, I-2703, Rn. 70). Zu einer solchen Beschäftigungssuche hat der Beschwerdegegner jedoch weder vorgetragen (und diese hinreichend glaubhaft gemacht) noch ergeben sich Anhaltspunkte aus den dem Senat vorliegenden Vorgängen. Der Beschwerdegegner war - nach eigenem Vortrag - 27 Jahre Berufssoldat in der britischen Armee, befand sich sodann vier Jahre in Haft und hat von September 2009 bis März 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezogen. Was der Beschwerdegegner von März 2011 bis zu seiner Antragstellung am 10. November 2011 gemacht hat, ob er sich z.B. überhaupt im Bundesgebiet aufgehalten hat, ist dem Senat nicht bekannt.

45

Etwas anderes ergibt sich - entgegen der Auffassung des SG und des Beschwerdegegners - auch nicht aus dem Umstand, dass das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) unterzeichnet hat. Der Beschwerdegegner kann sich im Rahmen des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 EFA (vgl. hierzu ausführlich: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R -, abrufbar unter Juris) berufen, denn die Bundesregierung hat am 15. Dezember 2011, in Kraft ab 19. Dezember 2011, einen Anwendungsausschluss ausgesprochen.

46

Dieser Anwendungsausschluss stützt sich auf Art. 16b EFA. Danach haben die Vertragsschließenden den Generalsekretär des Europarates über jede Änderung ihrer Gesetzgebung zu unterrichten, die den Inhalt von Anhang I und III berühren (Satz 1). Jeder Vertragsschließende hat dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht ausgeführt sind; gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragsschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden machen (Satz 2).

47

Diesen Vorgaben wird der von der Bundesregierung ausgesprochene Anwendungsausschluss vom 15. Dezember 2011, in Kraft seit 19. Dezember 2011, gerecht.

48

In der Originalerklärung der Bundesregierung heißt es (vgl. "http://conventions.coe.int" &8594; Vollständige Liste der Verträge des Europarates &8594; Nr. 014 Europäisches Fürsorgeabkommen&8594; Übersicht über die Erklärungen, Vorbehalte und andere Mitteilungen &8594; Deutschland; vgl. in deutscher Sprache die Bekanntmachung des Auswärtigen Amtes vom 31. Januar 2012, BGBl. II, 2012, S. 144): "In accordance with Article 16, paragraph b, first sentence, of the Convention, Germany notifies the following new laws not already included in Annex I to the Convention: Annex I - Legislative measures regarding assistance referred to in Article 1 of the Convention: - Book Two of the Social Code - Basic Income Support for Jobseekers - as published on 13 May 2011 (Federal Law Gazette I, p. 850) [ ] In accordance with Article 16, paragraph b, second sentence, of the Convention, the Government of the Federal Republic of Germany does not undertake to grant to nationals of the other Contracting Parties, equally and under the same conditions as to its own nationals, the benefits provided for in Book Two of the Social Code - Basic Income Support for Jobseekers - in the latest applicable version."

49

Die Bundesregierung hat danach mit der Deklaration vom 15. Dezember 2011, am 19. Dezember 2011 bei dem Generalsekretär des Europarates eingegangen, und damit zu diesem Zeitpunkt in Kraft getreten, zum einen (unter anderem) das SGB II als in Anhang I noch nicht aufgeführtes Gesetz benannt und zum anderen einen Vorbehalt (unter anderem) für das SGB II ausgesprochen.

50

Entsprechend dem Wortlaut dieser Erklärung ist ferner entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung auch davon auszugehen, dass sowohl die Benennung des Gesetzes als auch der Ausspruch des Vorbehalts "gleichzeitig" im Sinne des Art. 16b Satz 2 EFA erfolgt ist.

51

Das SGB II ist bezogen auf die Ratifizierung des Vertrages durch die Bundesrepublik Deutschland am 11. Dezember 1953 auch ein "neues" Gesetz im Sinne des Art. 16b Satz 2 EFA. Dass das SGB II - so das SG - schon lange vor Abgabe der Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung existent war, ändert an der rechtlichen Bewertung nichts. Fristen für die Mitteilung von neuen Gesetzen und für Erklärungen von Vorbehalten enthält das EFA nicht.

52

Soweit teilweise vertreten wird, dass der zum 19. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt der Bundesregierung unwirksam sei, weil er nicht "bei" Ratifikation oder Beitritt zu dem Vertrag im Sinne des Art. 19 i.V.m. Art. 2 Abs. 1d der Wiener Vertragskonvention (WVRK), sondern vielmehr nach Ratifikation des EFA ausgesprochen worden sei (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Mai 2012 - L 19 AS 794/12 B ER -, Juris Rn. 8), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Denn ein Verstoß gegen das WVRK scheidet aus, weil diese Vorschriften allein Vorbehalte bei Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages regelt, während Art. 16b Satz 2 EFA ausdrücklich auch nachträgliche Vorbehalte erlaubt. Das Recht, einen nachträglichen Vorbehalt zu dem EFA auszusprechen, beruht unmittelbar auf einer Vorschrift des Abkommens selbst (vgl. auch SG Berlin, Beschluss vom 14. Mai 2012 - S 124 AS 7164/12 ER -, Juris Rn. 32). Für diese Ansicht spricht auch die Erklärung zu Art. 16b Satz 2 EFA, wenn es dort heißt (vgl. "http://conventions.coe.int" &8594; Vollständige Liste der Verträge des Europarates &8594; Nr. 014 Europäisches Fürsorgeabkommen&8594; Erläuternder Bericht &8594; Art. 16): "[ ] 27. According to Article 16 (b), the Contracting Parties can make reservations not only at the time of ratification, but also at a later date.[ ]".

53

Für den von der Bundesregierung ausgesprochenen Vorbehalt bedarf es entgegen der Auffassung des SG und des Beschwerdegegners keines Zustimmungsgesetzes (offengelassen: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Mai 2012 - L 19 AS 794/12 B ER -, Juris Rn. 9).

54

Nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes.

55

Die Erklärung eines Vorbehalts ermöglicht es gemäß Art. 2 Abs. 1d WVRK der Partei eines völkerrechtlichen Vertrages, die Rechtswirkungen einzelner Vertragsbestimmungen für diese Vertragspartei auszuschließen oder zu ändern. Es handelt sich dabei um eine einseitige Willenserklärung völkerrechtlicher Art, auf die sich nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. Urteil vom 18. Dezember 1984 - 2 BvE 13/83 -, Juris Rn. 132 ff zur verfassungsgemäßen Zustimmung der Bundesregierung zur Aufstellung von Mittelstreckenraketen ohne spezielle Ermächtigung durch den Bundestag vor dem Hintergrund des Nato-Doppelbeschlusses) im Rahmen bestehender zwei- oder mehrseitiger Verträge grundsätzlich nicht einem derartigen Zustimmungserfordernis unterworfen sind (vgl. hierzu ausführlich: SG Berlin, Beschluss vom 14. Mai 2012 - S 124 AS 7164/12 ER -, Juris Rn. 35 und 36 m.w.N.).

56

Bestehen danach unter Berücksichtigung der im Rahmen von - wie hier - streitigen existenzsichernden Leistungen zu beachtenden erhöhten Anforderungen an die Prüfungsintensität und -dichte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hinsichtlich der Erfolgsaussichten in der Hauptsache (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, Juris Rn. 25, 26; ausführlich Düring in: Jansen, SGG, 3. Auflage 2009, § 86b, Rn. 32 und 33 m.w.N. zur umfangreichen Rechtsprechung des BVerfG) für den Senat keine durchgreifenden Zweifel hinsichtlich der Europarechtskonformität des Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und ist die Sachlage in tatsächlicher Hinsicht geklärt, besteht kein Raum für eine Folgenabwägung.

57

2. Der hinreichend glaubhaft gemachte Anspruch des Beschwerdegegners ergibt sich jedoch im Rahmen der Sozialhilfe aus dem EFA i.V.m. den Regelungen des Dritten Kapitels des SGB XII hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt und i.V.m. § 73 SGB XII hinsichtlich der Kosten für die Passbeschaffung. Denn der Beschwerdegegner hält sich tatsächlich in Deutschland auf (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) und es ist - wie bereits ausgeführt - glaubhaft gemacht, dass er seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus seinem Einkommen und Vermögen, bestreiten kann (§ 19 Abs. 1 SGB XII). Der Auffassung der Beigeladenen, dass die darlehensweise Übernahme der Passkosten sich nicht aus § 73 SGB XII herleiten ließen, weil es insofern an einer atypischen Lebenssituation fehle und die Vergleichbarkeit mit den Leistungsvoraussetzungen des 5. bis 9. Kapitels des SGB XII nicht vorliege, vermag sich der Senat ebenfalls nicht anzuschließen (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 2. Dezember 2010 - L 8 AY 47/09 B - Juris Rn. 9; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Mai 2011 - L 20 AY 19/08 -, Juris Rn. 31 ff). Dem Leistungsanspruch auf der Grundlage der hier aufgezeigten Anspruchsgrundlagen ist auch nicht von der Bundesregierung mit dem Anwendungsausschluss vom 15. Dezember 2011, in Kraft seit 19. Dezember 2011, ausgeschlossen worden, weil dieser im Rahmen des SGB XII nur die Regelungen zur Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 bis 69 SGB XII) umfasst.

58

Diesem Anspruch steht auch nicht, wie die Beigeladene meint, die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB XII entgegen, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich - wie hier - allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben. Nach Auffassung des Senats ist mit § 23 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB XII keine Abweichung von den Regelungen des EFA vorgenommen worden. Die von der Beigeladenen sinngemäß vorgetragene Derogation des völkerrechtlich begründeten Anspruchs durch die Schaffung der Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist, soweit es überhaupt Intention des Gesetzgebers gewesen sein soll, jedenfalls nicht hinreichend deutlich durch diesen zum Ausdruck gebracht worden (so bereits LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 - L 8 SO 88/07 ER -, Juris Rn. 48 f; Sächsisches LSG, Beschluss vom 4. Januar 2011 - L 7 SO 28/10 B ER -, Juris Rn. 23 ff; vgl. auch ausführlich Greiser in: juris-PK-SGB XII, Vorbemerkungen SGB XII, Stand 11. Juni 2012, Rn. 55 ff m.w.N.; a.A. ohne nähere Begründung Schlette in: Hauck/Noftz, SGB XII, K, § 23, Rn. 54k).

59

Dem Anspruch steht entgegen der Auffassung der Beigeladenen ferner nicht die Regelung des § 21 Satz 1 SGB XII entgegen, wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten. Denn der Antragsteller ist, wenn er wegen der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keine Leistungen nach dem SGB II beanspruchen kann, von den dort vorgesehenen Leistungen ausgeschlossen und danach gerade nicht "dem Grunde nach leistungsberechtigt" nach dem SGB II (in diesem Sinne bereits auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Juni 2007 - L 9 B 80/07 AS ER -, Juris Rn. 29 ff; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Juni 2012 - L 14 AS 933/12 B ER -, Juris Rn. 20; Eicher in: jurisPK-SGB XII, § 21, Rn. 26 ff).

60

Nach alledem hat die Beigeladene dem Beschwerdegegner ab dem 16. März 2012 vorläufig bis zu einer bindenden Entscheidung über dessen Antrag vom 10. November 2011 die erforderliche Hilfe zum Lebensunterhalt, ab dem 8. Mai 2012 insbesondere auch Leistungen für Unterkunft und Heizung, sowie ein Darlehen für die Anschaffung eines Passes zu erbringen, soweit nicht bereits der Beschwerdeführer Leistungen aufgrund des Beschlusses des SG vom 9. Mai 2012 erbracht hat.

61

III. Der zulässige Antrag des Beschwerdegegners auf Bewilligung PKH ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. aus G. als Prozessbevollmächtigten ist gemäß § 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO begründet, weil dem Beschwerdeverfahren - wie oben ausgeführt - hinreichende Erfolgsaussichten zuzusprechen sind, § 119 Abs. 1 ZPO.

62

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

63

Der Beschluss ist unanfechtbar; § 177 SGG.