Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 11.08.2011, Az.: L 15 AS 188/11 B ER

Zweifel an der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für arbeitsuchende Unionsbürger führen im Eilverfahren zu einer den Antragsteller begünstigenden Folgenabwägung; Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Anordnungsgrund bei der Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
11.08.2011
Aktenzeichen
L 15 AS 188/11 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 23676
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2011:0811.L15AS188.11B.ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 02.05.2011 - AZ: S 26 AS 568/11 ER

Fundstelle

  • NZS 2012, 274

Redaktioneller Leitsatz

Die bestehenden gravierenden Bedenken gegen die Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für arbeitsuchende Unionsbürger führen dazu, dass eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren als offen zu bezeichnen ist. Bei dieser Sachlage ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, die zugunsten des Antragstellers ausfallen muss, wenn im Falle der Ablehnung des Antrags existenzielle Nachteile drohen. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 2. Mai 2011 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe

1

I. Der Antragsgegner wendet sich mit seiner Beschwerde gegen einen Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bremen vom 2. Mai 2011, mit dem er verpflichtet worden ist, den Antragsstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) zu gewähren.

2

Die K. geborene Antragstellerin zu 1., ihr L. geborener Partner (Antragsteller zu 2.) und ihr M. geborener Sohn (Antragsteller zu 3.) sind N. Staatsangehörige. Der Zeitpunkt ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland lässt sich den vorliegenden Akten nicht entnehmen. In ihrer im Rahmen des vorliegenden Verfahrens vorgelegten eidesstattlichen Versicherung vom 5. April 2011 hat die Antragstellerin zu 1. angegeben, sie halte sich seit 2007 "im Rahmen der mir erteilten Freizügigkeit angemeldet in O. auf". Die für sie ausgestellte Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) der Ausländerbehörde O. vom 20. Februar 2009 weist als Zeitpunkt der Anmeldung den 21. August 2007 aus. Mit Datum vom 20. Juni 2009 wurde der Antragstellerin zu 1. eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU erteilt. In der für den Antragsteller zu 2. ausgestellten Freizügigkeitsbescheinigung vom 20. Oktober 2009 wird als Zeitpunkt der Anmeldung der 1. November 2008 angegeben.

3

Die Antragstellerin zu 1. war seit dem 24. Juni 2008 zunächst im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses bei der P. als Reinigungskraft tätig (tägliche Arbeitszeit lt. Arbeitsvertrag 1,25 Stunden bei einem Stundenlohn von 8,15 EUR brutto). Seitdem 1. Juli 2009 war sie bei dieser Firma versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Schreiben vom 15. Oktober 2009 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis wegen unentschuldigten Fernbleibens von der Arbeitsstelle seit dem 14. Oktober 2009 mit sofortiger Wirkung, hilfsweise fristgerecht zum 30. Oktober 2009. Kündigungsschutzklage hat die Antragstellerin zu 1. hiergegen nicht erhoben.

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Soweit aus der Verwaltungsakte ersichtlich, bezogen die Antragsteller zumindest seit Juli 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Den Folgeantrag vom 22. November 2010 für den Bewilligungszeitraum ab dem 1. Januar 2011 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 25. November 2010 unter Hinweis auf den in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II normierten Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger ab. Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 10. Dezember 2010 legten die Antragsteller gegen den "Bescheid vom 9. November 2010" - unter diesem Datum hatte der Antragsgegner den Antragsteller zu 2) zur Vorlage seines aktuellen Aufenthaltstitels aufgefordert - Widerspruch ein. Der Antragsgegner bezog diesen Widerspruch auf seinen Ablehnungsbescheid vom 25. November 2010 und wies diesen - während des laufenden Eilverfahrens - mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2011 als unbegründet zurück. Hiergegen haben die Antragssteller - wie sie auf Anfrage des Berichterstatters mitgeteilt haben - keine Klage erhoben.

5

Nachdem die Antragstellerin zu 1) im Januar 2011 bei dem Antragsgegner wegen der Einstellung der Leistungen mehrfach persönlich vorgesprochen hatte (Aktenvermerke vom 22. und 27. Januar 2011, Bl. 202/203 VA), stellten die Antragsteller mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 5. April 2011 einen Überprüfungsantrag. Mit Schriftsatz vom selben Tag, eingegangen bei dem SG Bremen am 7. April 2011, haben die Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin zu 1. vom 5. April 2011 geltend gemacht, dass die Leistungen zu Unrecht abgelehnt worden seien. Da die Antragstellerin zu 1. über zwei Jahre in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet habe und ihren Arbeitsplatz unverschuldet verloren habe, bestehe ihr Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin weiter mit der Folge, dass sie nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfalle. Mittlerweile hätten sie - die Antragsteller - einen erneuten Antrag auf Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II bei dem Antragsgegner gestellt. Anlässlich einer persönlichen Vorsprache am 5. April 2011 sei der Antragstellerin zu 1. eröffnet worden, dass auch diesem Antrag nicht entsprochen werden könne. Sie - die Antragsteller - seien völlig mittellos und lebten von Verwandten und Bekannten. Aufgrund ihrer desolaten wirtschaftlichen Situation habe die Antragstellerin zu 1. zwischenzeitlich sogar einen Selbstmordversuch unternommen.

6

Der Antragsgegner, der den Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 21. Juni 2011 abgelehnt hat, hat die Auffassung vertreten, dass nach einer völlig untergeordneten und unwesentlichen geringfügigen Beschäftigung der Antragstellerin zu 1. von Juni 2008 bis Juli 2009 lediglich eine viermonatige Erwerbstätigkeit (bis zum 30. Oktober 2009) nachgewiesen worden sei, sodass nur für einen weiteren Zeitraum von sechs Monaten (maximal bis 30. April 2010) ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestanden habe. Da der Aufenthalt der Antragsteller nunmehr allein dem Zweck der Arbeitsuche diene, seien sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

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Mit dem angefochtenen Beschluss vom 2. Mai 2011 hat das SG den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern vorläufig ab dem 7. April 2011 bis zum 7. Oktober 2011, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II zu zahlen. Zu Begründung hat es ausgeführt, den Antragstellern seien Leistungen aufgrund einer Folgenabwägung vorläufig zuzusprechen. Denn die Nachteile, die ihnen entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht stattgegeben werden würde, seien gravierender als die Nachteile des Antragsgegners, wenn den Antragstellern vorläufig Leistungen bewilligt würden. Die Antragsteller seien nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt anderweitig sicherzustellen. Ob vorliegend Leistungen nach dem SGB II aufgrund des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen seien, könne nicht abschließend beurteilt werden. Insoweit hat sich das SG auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg vom 30. November 2010 (L 34 AS 1501/10 B ER, L 34 AS 1518/10 B PKH) bezogen.

8

Gegen den ihm am 2. Mai 2011 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 31. Mai 2011 Beschwerde erhoben. Da die Antragstellerin zu 1) keinen Erwerbstätigenstatus mehr habe, halte sie sich in der Bundesrepublik Deutschland lediglich zum Zweck der Arbeitsuche auf. Damit seien sie und die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft von Leistungen nach dem SGB II nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen.

9

Der Antragsgegner beantragt,

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den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 2. Mai 2011 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

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Die Antragsteller beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

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die Beschwerde zurückzuweisen.

13

Auf Anfrage des Senats haben sie die Lohnsteuerbescheinigungen 2008 und 2009 für die Antragstellerin zu 1. vorgelegt und zu den Gründen für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Q. mitgeteilt, dass die Antragstellerin zu 1. seinerzeit aufgrund erlittener häuslicher Gewalt nicht in der Lage gewesen sei, die Arbeitsstelle aufzusuchen. Dadurch sei es zur Kündigung gekommen. Ferner haben die Antragsteller vorgetragen, dass die Antragstellerin zu 1. zum 1. Juli 2011 ein neues Arbeitsverhältnis als Raumpflegerin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 10 Stunden und einem Stundenlohn von 8,55 EURO brutto eingegangen sei. In diesem Zusammenhang haben sie die Kopie eines Arbeitsvertrags mit der Firma R. vom 29. Juni 2011 vorgelegt.

14

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten verwiesen.

15

II. Die gem. § 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des SG Bremen vom 2. Mai 2011 ist nicht begründet. Das SG hat den Antragstellern zu Recht aufgrund einer Folgenabwägung vorläufig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugesprochen.

16

Der Senat hat das Rubrum von Amts wegen dahingehend berichtigt, dass an dem Beschwerdeverfahren als Beschwerdegegner zu 2. und 3. auch die Antragsteller zu 2. u. 3. des erstinstanzlichen Verfahrens beteiligt sind. Zwar ist in dem Rubrum der Beschwerdeschrift des Antragsgegners vom 31. Mai 2011 (S. 1) nur die Antragstellerin zu 1. aufgeführt. Hierbei handelt es sich aber offenkundig um ein Versehen, da in der Begründung mehrfach von den Antragstellern die Rede ist, so dass auch im Hinblick auf die fehlende ausdrückliche Beschränkung der Beschwerde davon auszugehen ist, dass diese sich auch gegen die vorläufige Zuerkennung von Leistungen für die Antragsteller zu 2. und 3. richtet.

17

Nach § 86 b Abs. 2 und 4 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag durch Beschluss eine einstweilige Anordnung treffen, wenn entweder die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder wenn die Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

18

§ 86 b Abs. 2 SGG unterscheidet damit zwischen Sicherungsanordnungen und Regelungsanordnungen. Während sich die Zulässigkeit einer Sicherungsanordnung gem. § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG darin erschöpft, bestandsschützende Maßnahmen zu treffen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 9. Aufl. 2008, § 86b Rdnr. 25a), gibt das Institut der Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG die weitergehende Möglichkeit, über den bestehenden Zustand hinaus zugunsten des Antragstellers eine formale Rechtsposition erst zu begründen oder zu erweitern, insbesondere Leistungen zuzusprechen, die ansonsten vor einer Auszahlung erst durch Verwaltungsakt des zuständigen Trägers gewährt werden müssten (vgl. Keller, aaO., Rdnr. 25 b). Das Begehren der Antragsteller ist hiernach auf den Erlass einer Regelungsanordnung im Sinne von § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG gerichtet.

19

Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt im Regelfall sowohl das Bestehen des in § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ausdrücklich erwähnten Anordnungsgrundes, d.h. der Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, als auch das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. eines materiellen Rechts als Grundlage für die mit der Regelungsanordnung zuzusprechende formelle Rechtsposition, voraus. Zwar wird die Erforderlichkeit des Anordnungsanspruchs in § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG nicht eigens erwähnt. Sie ergibt sich jedoch einerseits aus dem Umstand, dass bereits der Erlass einer Sicherungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG ein sicherungsfähiges Recht des Antragstellers verlangt, andererseits daraus, dass die für die Regelungsanordnung kennzeichnende vorläufige Einräumung oder Feststellung einer formalen, auf Prozessrecht beruhenden Rechtsposition regelmäßig nur dann erfolgen kann, wenn ihr ein entsprechendes materielles Recht des Antragstellers zugrunde liegt. Anderenfalls würde nämlich der Erlass der Regelungsanordnung gegen das Verbot der Überschreitung der Hauptsache verstoßen, nach welchem dem Antragsteller im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keinesfalls mehr zugesprochen werden darf, als er in einem auf dasselbe Ziel gerichteten Klageverfahren erreichen könnte. Die Verurteilung des zuständigen Trägers zu einer Leistung sowie zum Erlass eines hierauf gerichteten, von ihm abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes ist im Verfahren der Hauptsache nach § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 und 5 SGG in jedem Fall vom Bestehen eines entsprechenden materiellen Anspruchs auf die Leistung abhängig.

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Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen als vom Antragsteller glaubhaft zu machende Voraussetzungen der Regelungsanordnung (§§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 ZPO) nicht unabhängig nebeneinander, sondern bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein kommunizierendes System (Keller, aaO., § 86b Rdnr. 29). In ihm sind die rechtlichen Anforderungen an die Sicherheit, mit welcher das Bestehen eines Anordnungsanspruchs festgestellt oder ausgeschlossen werden kann, davon abhängig, wie schwer die dem Antragsteller drohenden Nachteile wiegen und mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit sie sich ohne den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung einstellen werden. Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, wobei wegen des Vorrangs der Rechtsverwirklichung im Klageverfahren und des hieraus folgenden Ausnahmecharakters des Anordnungsverfahrens nicht gänzlich auf sein Vorliegen verzichtet werden kann.

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Ist demgegenüber, wie es insbesondere bei Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose in Betracht kommt, im Einzelfall damit zu rechnen, dass ohne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bis zu einer bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare und irreparable Nachteile entstehen, erfordert die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG - eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Zweifel am Bestehen eines materiellen Leistungsanspruchs (Anordnungsanspruchs) führen in diesem Fall lediglich dann zu einer Antragsablehnung, wenn bereits im Anordnungsverfahren abschließend festgestellt werden kann, dass ein Anordnungsanspruch nicht besteht. Ist hingegen ein Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht bereits auszuschließen, weil insbesondere eine abschließende Sachaufklärung im Eilverfahren nicht möglich ist, bedarf es einer Folgenabwägung, in welche die Sozialgerichte die grundrechtlichen Belange des Antragstellers, namentlich die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines die Menschenwürde wahrenden Existenzminimums, umfassend einzustellen haben (BVerfG, Beschl. 1 BvR 569/05 v. 12. Mai 2005). Dabei haben sie sich schützend und fördernd vor die Wahrung der Menschenwürde zu stellen und eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint, zu verhindern (BVerfG, aaO. unter c aa 2).

22

Davon ist die Beschwerde nicht bereits deswegen begründet, weil im Hinblick auf die zwischenzeitlich eingetretene Bestandskraft des Ablehnungsbescheides des Antragsgegners vom 25. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 2011 ein streitiges Rechtsverhältnis, welches einer vorläufigen gerichtlichen Regelung nach § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG zugänglich wäre, nicht mehr vorliegt. In ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 5. April 2011 hat die Antragstellerin zu 1. angegeben, im Frühjahr 2011 einen neuen Leistungsantrag gestellt zu haben. Entsprechende persönliche Vorsprachen im Januar 2011 sind in der Verwaltungsakte dokumentiert. Selbst wenn die Antragsteller zu 1. - wie dies der Inhalt der Aktenvermerke nahelegt - lediglich nach dem Grund für die "Einstellung" der Leistungen gefragt haben sollte, wäre dieses Anliegen nach dem sog. Meistbegünstigungsgrundsatz (vgl. hierzu Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 16/09 R -, Rn. 18 m. w. N.) zumindest auch als neuer Leistungsantrag werten. Über diesen Neuantrag hat der Antragsgegner - soweit ersichtlich - noch nicht entscheiden, so dass insoweit für den hier in Rede stehenden Zeitraum ein streitiges Rechtsverhältnis vorliegt.

23

Nach dargestellten Maßstäben waren den Antragstellern im Wege einer Folgenabwägung vorläufig Leistungen nach dem SGB II zur Gewährleistung ihres Existenzminimums zuzusprechen, da ihre Leistungsansprüche im vorliegenden Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden können. Jedenfalls bis zum 30. Juni 2011 (Beginn des mitgeteilten neuen Beschäftigungsverhältnisses am 1. Juli 2011) fiel die Antragstellerin zu 1. in den Anwendungsbereich der Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, da sich ihr Aufenthaltsrecht nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand ausschließlich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. FreizügG/EU). Zwar dürfte die Antragstellerin zu 1. entgegen der im vorliegenden Eilverfahren vertretenen Auffassung des Antragsgegners länger als ein Jahr in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmerin beschäftigt gewesen sein. Arbeitnehmer i. S. des Freizügigkeitsrechts ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) auch derjenige, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes, Einkommen verfügt. Das BSG hat insoweit eine Beschäftigung ausreichen lassen, mit der ein monatliches Entgelt von 100,- EURO erzielt wurde (Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R -, Rn. 18 mit Nachw. aus der Rspr. des EuGH). Nach diesen Kriterien war die Antragstellerin zu 1. während ihrer Tätigkeit bei der Firma Q. auch in dem Zeitraum, in dem sie nur geringfügig beschäftigt war, Arbeitnehmerin i. S. des § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. FreizügG/EU. Hiervon geht der Antragsgegner auch im Hauptsacheverfahren aus, wenn es im Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2011 heißt, die Antragstellerin zu 1. sei unstreitig mehr als ein Jahr erwerbstätig gewesen. Demgemäß verneint der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid ein fortbestehendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin auch nur deshalb, weil es sich nicht um eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit handele. Das Vorliegen dieses für das Fortbestehen des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmerin erforderlichen Tatbestandsmerkmals (§ 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU) hat die Antragstellerin zu 1. indes auch im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes nicht glaubhaft gemacht. Zwar liegt eine arbeitgeberseitige Kündigung vor, sodass danach grundsätzlich von einem unfreiwilligen Verlust des Arbeitsplatzes ausgegangen könnte. Allerdings wird als Kündigungsgrund das unentschuldigte Fernbleiben vom Arbeitsplatz angegeben. Dies könnte auf eine freiwillige Aufgabe des Arbeitsplatzes hindeuten. Insoweit wäre es Sache der Antragstellerin zu 1. gewesen, ihr Vorbringen, wonach sie aufgrund erlittener häuslicher Gewalt ihre Arbeitsstelle nicht habe aufsuchen können, durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft zu machen (vgl. Verfügung des Berichtserstatters vom 11. Juli 2011). Dies ist nicht erfolgt. Nach alledem sind gegenwärtig die Voraussetzungen für ein Fortbestehen des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmerin nicht glaubhaft gemacht, sodass für die hier zu treffende Entscheidung (für die Zeit bis zum 30. Juni 2011) nur von einem Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) zum Zwecke der Arbeitsuche ausgegangen werden kann. Gleiches gilt (ohne zeitliche Einschränkung) für die Antragsteller zu 2. und 3., für die die Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit nicht behauptet wird. Selbst wenn die Antragstellerin zu 1. Arbeitnehmerin wäre, hätte der Antragsteller zu 2. als ihr Partner kein hiervon abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger nach § 3 FreizügG/EU. Denn Familienangehöriger ist nach Artikel 2 Nr. 2 a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie), nur der Ehegatte. Nach dem Inhalt der vorliegenden Akten sind die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 2. nicht miteinander verheiratet.

24

Für die Zeit ab dem 1. Juli 2011 hat die Antragstellerin zu 1. allerdings durch Vorlage einer Kopie des Arbeitsvertrags glaubhaft gemacht, dass sie erneut Arbeitnehmerin ist. Als solche ist sie dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II. Auch wenn nach alledem die Antragstellerin zu 1. für die Zeit bis zum 30. Juni 2011 und die Antragsteller zu 2. und 3. für den gesamten, von der einstweiligen Anordnung umfassten Zeitraum (7. April bis 7. Oktober 2011) in den Anwendungsbereich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fallen, hat das SG zu Recht aufgrund einer Folgenabwägung zugunsten der Antragsteller entschieden. Denn es ist zweifelhaft, ob der in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorgesehene Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger (noch) europarechtskonform ist. In einer Vielzahl von Entscheidungen der Landessozialgerichte in Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes und im Schrifttum wird diese Frage mit uneinheitlichen Begründungen bejaht oder verneint (vgl. die umfangreichen Nachweise im Senatsbeschluss vom 26. Februar 2010 - L 15 AS 30/10 B ER). Umstritten ist dabei insbesondere, ob Artikel 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie gegen Europäisches Primärrecht verstößt und das Arbeitslosengeld II als Sozialhilfe i. S. dieser Vorschrift anzusehen ist. Eine höchstrichterliche Klärung dieser schwierigen und komplexen Rechtsfragen steht bislang aus. Vor diesem Hintergrund haben die Landessozialgerichte - soweit ersichtlich - in jüngster Zeit in Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes ganz überwiegend aufgrund einer Folgenabwägung zugunsten der Antragsteller entschieden (vgl. Beschlüsse des LSG Berlin-Brandenburg vom 30. November 2010 - L 34 AS 1501/10 B ER, L 34 AS 1518/10 B PKH -, vom 17. Mai 2011 - L 28 AS 566/11 B ER - und vom 30. Juni 2011 - L 25 AS 535/11 B ER -; Beschluss des Bayerischen LSG, Beschluss vom 22. Dezember 2010 - L 16 AS 767/10 B ER - sowie Beschluss des Hessischen LSG vom 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER-). Demgemäß erscheint auch im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes eine Klärung der komplexen europarechtlichen Fragestellungen nicht möglich; diese muss vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Zwar hat der Senat in dem bereits zitierten Beschluss vom 26. Februar 2010 die Auffassung vertreten, dass die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform ist. Dieses Ergebnis wird aber nunmehr in Frage gestellt durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die nach ihrem Art. 91 am Tag des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung (1. Mai 2010, vgl. Art. 97 der Verordnung [EG] Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung [EG] Nr. 883/2004) Gültigkeit erlangt hat und damit an die Stelle der VO (EWG) 1408/71 getreten ist. Nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Nach Artikel 3 Abs. 3 gilt diese Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gem. Artikel 70. Hierzu zählen nach dem Anhang X (in der Fassung der Verordnung [EG] Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Änderung der Verordnung [EG] Nr. 883/2004 und zur Festlegung des Inhalts ihrer Anhänge) in Deutschland die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Artikel 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt, dass die Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen gilt. Die Antragsteller dürften damit als Unionsbürger vom persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung erfasst sein. Bei summarischer Prüfung - wie sie angesichts der Komplexität der europarechtlichen Fragestellungen im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglich ist - spricht vieles dafür, dass der in der § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorgesehene Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt (in diesem Sinne auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. November 2010 - L 34 AS 1501/10 B ER, L 34 AS 1518/10 B PKH -, Rdnr. 38; SG Berlin, Urteil vom 24. Mai 2011 - S 149 AS 17644/09 -, Rdnr. 31; Hessisches LSG, Beschluss vom 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER -, Rdnr. 17 ff.).

25

Die danach namentlich im Hinblick auf die seit dem 1. Mai 2010 geltende Verordnung (EG) Nr. 883/2004 bestehenden gravierenden Bedenken gegen die Europarechtskonformität der in Rede stehenden Ausschlussklausel für arbeitsuchende Unionsbürger führen dazu, dass die Entscheidung im Hauptsacheverfahren als offen zu bezeichnen ist. Nach den dargestellten Grundsätzen ist bei dieser Sachlage anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, die hier zugunsten der Antragsteller ausfallen muss. Denn im Falle der Ablehnung ihres Antrags drohen ihnen existenzielle Nachteile, da sie nach dem Erkenntnisstand dieses Eilverfahrens nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen oder Vermögen zu bestreiten. Das allein fiskalische Interesse des Antragsgegners muss hinter diesen gravierenden Nachteilen zurücktreten.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

27

Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.