Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.01.2017, Az.: 2 ME 240/16
kooperative Gesamtschule; Gesamtschule; Schülerbeförderung; Taxi
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 24.01.2017
- Aktenzeichen
- 2 ME 240/16
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 53812
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 18.10.2016 - AZ: 1 B 82/16
Rechtsgrundlagen
- § 114 SchulG ND
- § 183b SchulG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zur Zumutbarkeit eines je 60 Minuten je Richtung überschreitenden Schulwegs zu einer Kooperativen Gesamtschule bei Taxenbeförderung auf einer Teilstrecke.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 1. Kammer - vom 18. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Instanzen auf jeweils 6.912,2 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Bereitstellung einer kostenfreien Beförderungsmöglichkeit (Taxi) auf einem Teilstück ihres Schulwegs zwischen Elternhaus und der Schulbushaltestelle F. in G.. Zuerkannt hat der Antragsgegner nur (wegen besonderer Gefährlichkeit dieses Teilabschnitts) die Taxenbeförderung zwischen Elternhaus und der Haltestelle H., auf Wunsch auch der Haltestelle I..
Das Verwaltungsgericht hat das Bestehen eines Anordnungsanspruchs im Sinne des § 123 VwGO mit der Begründung verneint, die vom Antragsgegner angebotene Beförderungsvariante sei zumutbar.
Die dagegen gerichtete Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt nicht die Änderung des angegriffenen Beschlusses.
Zunächst fehlt es schon an der hinreichenden Darlegung eines Anordnungsgrundes. Die Bereitstellung der Schülerbeförderung bzw. die Erstattung der hierfür anfallenden Aufwendungen ist nach § 114 NSchG nicht von den Einkommensverhältnissen der Eltern abhängig. Der Antrag auf Schülerbeförderung lässt unter diesen Umständen nicht schon von sich aus den Schluss darauf zu, dass die Eltern den Zeitraum bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht zunächst mit eigenen finanziellen Mitteln überbrücken könnten. Angaben zu ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit haben sie jedoch nicht gemacht.
Darüber hinaus liegt auch kein Anordnungsanspruch vor. Maßgeblich ist hier § 114 NSchG in seiner ab 1. August 2015 geltenden Fassung (Nds.GVBl. 2015, S. 90).
Die Übergangsvorschrift des § 189 NSchG, wonach für Schüler, die den Besuch derjenigen Schule fortsetzen, die sie im Schuljahr 2014/2015 zuletzt besucht haben, die vorangegangene Gesetzesfassung weiter anzuwenden ist, ist hier nicht einschlägig, weil die Antragstellerin nach den unwidersprochenen Angaben des Antragsgegners die Kooperative Gesamtschule J. erst seit dem Schuljahr 2015/2016 besucht. Eine Beförderungs- oder Erstattungspflicht besteht hiernach unabhängig vom angestrebten Bildungsgang grundsätzlich nur noch für den Weg zur nächsten Schule der von der Schülerin oder dem Schüler gewählten Schulform. Das ist hier zunächst die Schulform der „Gesamtschule“; eine weitergehende Differenzierung nach „Kooperativer“ bzw. „Integrierter“ Gesamtschule sieht § 5 Abs. 2 f NSchG selbst nicht vor. Nach § 114 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG gilt als Schulform im Sinne des Satzes 1 jedoch auch die jeweils gewählte Form der Gesamtschule nach § 12 NSchG oder § 183 b Abs. 1 NSchG (Übergangsregelungen für Kooperative Gesamtschulen). Die Kooperative Gesamtschule J. ist hiernach die „nächste“ Schule der gewählten Schulform. Da die Antragstellerin den Gymnasialzweig der Kooperativen Gesamtschule besucht, unterliegt es auch keinen Bedenken, dass der Antragsgegner nicht von Anspruchsbeschränkungen nach § 114 Abs. 3 Satz 5 NSchG ausgegangen ist.
Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Antragstellerin ihren Schulweg zumutbarerweise in der vom Antragsgegner beschriebenen Weise zurücklegen kann, ist nicht zu beanstanden. Zu den Einwänden der Beschwerdebegründung im Einzelnen:
Soweit die Antragstellerin meint, ein Umstieg im Bereich des K. in E. setze sie einer besonderen Gefährdungssituation aus, ist dieses Vorbringen unsubstantiiert. Die Antragstellerin ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die örtlichen Verhältnisse jedenfalls für das Beschwerdegericht nicht „offenkundig“ im Sinne des § 291 ZPO sind. Es besteht kein Anlass, über die Würdigung der Situation durch das ortsnähere Verwaltungsgericht hinwegzugehen, das in seinem rechtlichen Ansatzpunkt nicht von der Senatsrechtsprechung abweicht. Allgemeine Wendungen wie „besonderes Gewusel“ und „Getümmel“ und eine Bezugnahme auf Geschehnisse zu einem früheren Jahreswechsel in L. können konkreten und nachvollziehbaren Beschwerdevortrag insoweit nicht ersetzen. Es handelt sich beim M. ersichtlich um einen zentralen Knotenpunkt des Öffentlichen Nahverkehrs. Gerade an solchen Stellen ist entgegen der Auffassung der Antragstellerin damit zu rechnen, dass Übergriffe auf Schulkinder auffallen und dagegen einschritten wird; das Risiko eines Täters, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wäre prohibitiv hoch.
Soweit die Antragstellerin auf den „non-helping-bystander effect“ hinweist (vgl. unter Wikipedia das Stichwort: Zuschauereffekt), wonach einzelne Augenzeugen eines Unfalls oder kriminellen Übergriffs mit nachlassender Wahrscheinlichkeit eingreifen oder Hilfe leisten, wenn weitere Zuschauer anwesend sind bzw. hinzu kommen, und meint, dieser Phänomen sei kriminologisch mehrfach erforscht und nachgewiesen, hat sie letzteres nicht weiter belegt. Selbst wenn ein solcher Effekt beobachtet worden sein mag, bedeutet dies noch nicht, dass die Verweigerung von Hilfeleistung zum Normalfall geworden ist. Es müsste daher mit einer gewissen Plausibilität argumentiert werden, dass es gerade unter den konkreten Umständen mit besonderer Wahrscheinlichkeit zu einer Hilfeverweigerung kommen wird. Dafür ist jedoch weder etwas geltend gemacht noch ersichtlich.
Die Unzumutbarkeit des Schulwegs ergibt sich auch nicht aus der zeitlichen Inanspruchnahme der Antragstellerin. § 3 Abs. 1 Nr. 1 b der Schülerbeförderungssatzung des Antragsgegners geht in nach der ständigen Senatsrechtsprechung nicht zu beanstandender Weise davon aus, dass für Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Schuljahrgänge Zeiten von bis zu 60 Minuten für den reinen Schulweg in eine Richtung zumutbar sind. Nach Absatz 2 kann die jeweilige Schulwegzeit gemäß Absatz 1 um bis zu 15 Minuten zumutbar erhöht werden, wenn besondere Gründe vorliegen. Als Beispiele sind - mit den Worten „unter anderem“ - die Fälle angeführt, dass es sich um ein besonders ländliches Gebiet handelt, die Schule einen weiten Einzugsbereich hat, einen besonderen Bildungsgang anbietet oder der Schulbesuch auf einer freien Entscheidung der Eltern beruht. Das Verwaltungsgericht hat hier einen besonderen Grund darin gesehen, dass die Antragstellerin als Schulform diejenige der Kooperativen Gesamtschule gewählt hat. Nach der Schuldatenbank auf dem Niedersächsischen Bildungsserver und dem vom Antragsgegner selbst gegebenen Überblick sind andere Kooperative Gesamtschulen in weitem Umkreis nicht vorhanden. Das rechtfertigt es, hier jedenfalls von einem „weiten Einzugsbereich“ im Sinne der Satzung auszugehen.
Die einzelfallbezogene Erhöhung der zeitlichen Zumutbarkeitsgrenze ist nach gefestigter Rechtsprechung zulässig; auch das Bundesverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, die Auslegung von § 114 Abs. Satz 2 NSchG dahingehend, dass Schülern der Sekundarstufe I eine Schulwegzeit von 60 Minuten je Richtung regelmäßig zumutbar sei, dass aber auch eine Schulwegzeit von bis zu 90 Minuten unter besonderen Umständen, etwa beim Besuch einer Bildungseinrichtung mit einem besonderen überregionalen Angebot in einem anderen Bundesland zumutbar sei, halte die von höherrangigem Recht gezogenen Grenzen offenkundig ein (Beschl. v. 15.1.2009 - 6 B 78.08 -, juris; vgl. ferner EGMR (V. Sektion), Entsch. v. 27.8.2013 - 61145/09 -, NVwZ 2014, 1293). Das gilt auch für den hier vorliegenden Fall, dass nach § 114 Abs. 3 Satz 4 NSchG die Möglichkeit der Auswahl zwischen Kooperativen und Integrierten Gesamtschulen genutzt wird. Ist dem Schüler - oder seinen Eltern - daran gelegen, eine Schule besonderer Eigenart aufzusuchen, muss er hierfür auch besondere Erschwernisse hinzunehmen bereit sein und kann nicht erwarten, dass der zusätzliche Aufwand hierfür von der Allgemeinheit getragen wird. Denn die nach Maßgabe des Landesrechts für die Schülerbeförderung gewährte Leistung ist - verfassungsrechtlich gesehen - eine freiwillige Leistung der öffentlichen Hand, ohne dass die staatliche Verpflichtung zum besonderen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. GG), das durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Elternrecht, das Grundrecht des Schülers auf Bildung (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip einen (verfassungsrechtlichen) Anspruch darauf begründen, dass die öffentliche Hand generell die Kosten der Schülerbeförderung übernimmt (Senatsurt. v. 2.12.2014 - 2 LB 353/12 -, NdsVBl. 2015, 158; Beschl. v. 30.11.2016 - 2 LA 216/16 -, juris). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass - soweit die genannten Grundrechte gerade für finanzschwache Personenkreise eine Entlastung von Schülerbeförderungskosten nahelegen sollten -, dem bereits durch die Regelung des § 28 Abs. 4 SGB II Rechnung getragen wird, wonach bei Schülerinnen und Schülern, die für den Besuch der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs auf Schülerbeförderung angewiesen sind, die für den Bildungsbedarf erforderlichen tatsächlichen Aufwendungen berücksichtigt werden, soweit sie nicht von Dritten übernommen werden und es der leistungsberechtigten Person nicht zugemutet werden kann, die Aufwendungen aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Dieser bundesrechtlich verankerte Anspruch ist im Verhältnis zu den Schülerbeförderungsregeln der Länder eigenständig (vgl. BSG, Urt. v. 17.3.2016 - B 4 AS 39/15 R -, NJW 2016, 3262) und in einem gesonderten Verfahren geltend zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es unbedenklich, wenn die Träger der Schülerbeförderung den ihnen durch § 114 NSchG vorgegebenen Spielraum bei der Ausgestaltung ihrer Satzung voll ausschöpfen.
Soweit die Antragstellerin beanstandet, dass die konkreten Taxifahrzeiten nicht hinreichend in die Zeitberechnung eingeflossen seien und dass der Bustransfer erfahrungsgemäß unter Verzögerungen leide, legt sie damit regelwidrige Abläufe zugrunde, die aber für die Zeitberechnung allenfalls in Ausnahmefällen berücksichtigt werden können. Der Antragsgegner hat jedenfalls inzwischen zweifelsfrei erklärt, dass der Antragstellerin eine Einzelbeförderung im Taxi zusteht, sie also nicht an fahrzeiterhöhenden Sammelfahrten teilnehmen muss. Dass dies so auch organisiert werden kann, unterliegt hier keinen durchgreifenden Zweifeln. Dass im von ihr zusätzlich zu benutzenden Nahverkehr gelegentlich oder auch häufiger Verzögerungen eintreten, kann unterstellt werden, ist aber Teil des allgemeinen Lebensrisikos, solange die Ausnahme nicht praktisch zur Regel wird. Letzteres trägt die Beschwerdebegründung nicht hinreichend konkretisiert vor.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG. Der Streitwert - zu dem sich die Antragstellerin auch auf Anfrage nicht geäußert hat - ergibt sich im Ansatz aus den Angaben des Antragsgegners zu den Kosten der beantragten Taxibeförderung vom Elternhaus der Antragstellerin zur Haltestelle N., die durch die nachgereichte Konkretisierung im Schriftsatz vom 19. Januar 2017 hinreichend belegt sind. Der Senat setzt diese jedoch nur zur Hälfte an, weil der Antragstellerin eine Taxenbeförderung für eine Teilstrecke (bis Haltestellen H. oder I.) bereits zuerkannt war, mithin nur die Differenz zu berücksichtigen ist. Da der Antragsgegner diese offenbar mangels aktueller Inanspruchnahme seines eigenen Angebots nicht beziffern kann und eine früher praktizierte Beförderungsvariante wegen gleichzeitiger Beförderung mehrerer Schüler offenbar keine Vergleichswerte bot, bleibt lediglich eine Schätzung möglich, die jedoch keine besonderen Genauigkeitsanforderungen erfüllen muss. Mit der hälftigen Teilung der vom Antragsgegner genannten Kosten für die Beförderung zum N. ist diesen Anforderungen ohne Weiteres genügt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).