Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.01.2017, Az.: 8 PA 209/16

Verlust des Freizügigkeitsrechts eines Familienangehörigen wegen mangelnder Unterhaltsgewährung durch den stammberechtigten Unionsbürger; Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts und Einzug der Aufenthaltskarte; Nachweis der Unterhaltsgewährung durch den Familienangehörigen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.01.2017
Aktenzeichen
8 PA 209/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 18033
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 21.11.2016

Fundstellen

  • AUAS 2017, 38-39
  • InfAuslR 2017, 114-115
  • NZFam 2017, 140

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ein aufenthaltsberechtigter Unionsbürger gewährt einem Familienangehörigen Unterhalt im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU, wenn er ihm tatsächlich regelmäßig Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz her als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können und die vom Umfang her zumindest einen Teil des Lebensunterhalts decken.

  2. 2.

    Der Nachweis der Unterhaltsgewährung obliegt dem Familienangehörigen.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 5. Kammer - vom 21. November 2016 geändert.

Der Klägerin wird für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Frank Hermann Schäfer aus Dissen beigeordnet.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Die Klägerin ist nach der von ihr vorgelegten "Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse" nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung auch nur in Raten aufzubringen.

Ihre Klage auf Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 20. April 2016, mit dem nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt und die Aufenthaltskarte eingezogen sowie nach §§ 7 Abs. 1 Satz 2, 11 Abs. 2 FreizügG/EU; § 59 AufenthG die Abschiebung nach Mazedonien angedroht worden ist, bietet auch hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 Alt. 2 FreizügG/EU kann bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, der Verlust (oder besser: das Nichtbestehen, vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 5 Rn. 23 ff. (Stand: April 2013) mit weiteren Nachweisen) des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt und die Aufenthaltskarte eingezogen werden, wenn die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht vorliegen.

Nach den hier allein in Betracht zu ziehenden Bestimmungen der §§ 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6, 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist die Klägerin nur dann freizügigkeitsberechtigt, wenn ihr im Bundesgebiet lebender Vater, der bulgarische Staatsangehörige B., ihr Unterhalt gewährt. Ein aufenthaltsberechtigter Unionsbürger gewährt einem Familienangehörigen Unterhalt, wenn er ihm tatsächlich regelmäßig Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz her als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können und die vom Umfang her zumindest einen Teil des Lebensunterhalts decken (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.1993 - BVerwG 11 C 1.93 -, BVerwGE 94, 239, 242 f. (zu § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG/EWG); Nr. 3.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU - AVV FreizügG/EU - (GMBl. 2016, 86)). Der Nachweis der Unterhaltsgewährung obliegt dem Familienangehörigen (vgl. EuGH, Urt. v. 9.1.2007 - C-1/05 -, NVwZ 2007, 432, 435, Rn. 41 ff.).

Zwar spricht derzeit Einiges dafür, dass die Klägerin diesen Nachweis voraussichtlich nicht führen kann.

Sie hat im Verwaltungsverfahren selbst angegeben, ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch die Erwerbstätigkeit ihres Ehemannes zu finanzieren, von ihrem Vater aber keinen Unterhalt gewährt zu bekommen (vgl. den Gesprächsvermerk des Beklagten v. 11.4.2016, Blatt 61 f. der Beiakte 3).

Erst im Klageverfahren hat die Klägerin behauptet, ihr Vater zahle ihr monatlich 600 Euro Unterhalt. Zum Nachweis hat sie zunächst nur Kontoauszüge für Mai, Juni und Juli 2016 (Blatt 42 f. der Gerichtsakte) vorgelegt, aus denen sich eine solche unbare Zahlung ergeben soll. Diesen Nachweisen dürfte aber nur eine geringe Bedeutung zukommen. Sie erstrecken sich auf einen kurzen Zeitraum, der zudem den für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. Senatsbeschl. v. 11.7.2013 - 8 LA 148/12 -, Rn. 12 mit weiteren Nachweisen) nicht umfasst. Zum anderen erstrecken sich die Nachweise allein auf den Zeitraum nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheides des Beklagten über den Verlust des Freizügigkeitsrechts.

Die darüber hinaus erstmals im Beschwerdeverfahren präsentierten Ablichtungen von Quittungen (Blatt 68 bis 84 der Gerichtsakte) sollen bare Unterhaltszahlungen für den Zeitraum von März 2015 bis Juni 2016 belegen. Ohne eine nachvollziehbare Erläuterung des Grundes für die Barzahlung, des Wechsels von baren zu unbaren Zahlungen nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheides, der Umstände der behaupteten baren Zahlungen einschließlich einer plausiblen Auskunft des Vaters der Klägerin zur Herkunft des Bargeldes und schließlich der quittierten Barzahlungen für Mai und Juni 2016 (Blatt 82 und 83 der Gerichtsakte) trotz der für diese Monate vorgelegten Kontoauszüge über unbare Zahlungen (Blatt 42 f. der Gerichtsakte) dürfte auch den Ablichtungen der Quittungen nur ein geringer Beweiswert zukommen.

Die abschließende Würdigung dieser tatsächlichen Umstände und die damit verbundene richterliche Überzeugungsbildung müssen aber dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die Prüfung der Erfolgsaussicht im Prozesskostenhilfeverfahren darf nicht dazu führen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362 mit weiteren Nachweisen). Entscheidungserhebliche offene Sachfragen, wie hier die die Frage der Gewährung von Unterhalt durch den Vater der Klägerin an diese, sind daher im Prozesskostenhilfeverfahren ebenso wenig zu klären wie schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen. Deren Klärung ist vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 - 2 BvR 94/88 -, BVerfGE 81, 347, 358 f.).

Die Entscheidung über die Beiordnung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).