Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 14.02.2002, Az.: 14 U 94/01

Unfallursächliches Verschulden bzw. Mitverschulden durch eine unzulässige bzw. unangemessen hohe Geschwindigkeit; Unübersichtlichkeit im Straßenverkehr durch auf dem Seitenstreifen parkende Pkws

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
14.02.2002
Aktenzeichen
14 U 94/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 30156
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2002:0214.14U94.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 27.02.2001 - AZ: 17 O 2993/00

Fundstellen

  • DAR 2002, 309-310 (Volltext mit red. LS)
  • NZV 2003, 44-45
  • VersR 2003, 84 (amtl. Leitsatz)
  • zfs 2002, 373-375

In dem Rechtsstreit

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
unter Mitwirkung
des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... und
der Richter am Oberlandesgericht ... und ...
auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2002
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 27. Februar 2001 verkündete Urteil der 17. Zivilkammer des Landgericht Hannover wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 5.500 EUR abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.

Die Beschwer des Klägers beträgt 46.016,27 EUR (= 90.000 DM).

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch.

2

Am 22. Oktober 1998 hatte der Kläger seinen Pkw ... in ... in der ... Straße Richtung stadtauswärts rechts in einem neben der Fahrbahn liegenden Parkstreifen geparkt, der durch eine Regengosse von der Fahrbahn getrennt war. In diesem Parkstreifen waren auch andere Fahrzeuge abgestellt. Vor dem Pkw ... - stadtauswärts gesehen - stand ein ... und vor diesem ein ... Gegen 11:43 Uhr befuhr der Beklagte zu 1 mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw ... die rechte Fahrbahn der ... Straße stadtauswärts. Auf der Gegenfahrbahn befand sich zu diesem Zeitpunkt in Höhe des ... ein Müllfahrzeug der Stadt ... im Einsatz; hinter diesem Fahrzeug hatte sich eine Fahrzeugschlange gebildet. Als sich der Beklagte zu 1 mit seinem Fahrzeug dem ... ... näherte, trat der Kläger zwischen zwei auf dem Parkstreifen abgestellten Fahrzeugen auf die Fahrbahn und wurde vom Fahrzeug des Beklagten zu 1 erfasst. Der Kläger erlitt schwere Verletzungen.

3

Er hat geltend gemacht, dass der Beklagte zu 1 noch ca. 26 m entfernt gewesen sei, als er, der Kläger auf die Fahrbahn getreten sei. Der Beklagte zu 1 sei mit 50 km/h in dieser Verkehrssituation unangemessen schnell gefahren, weil wegen des auf der Gegenfahrbahn befindlichen Müllfahrzeugs für ihn eine unklare Verkehrslage bestanden habe, auf die er durch eine Geschwindigkeitsreduzierung hätte reagieren müssen. Unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 70 % an der Unfallverursachung sei aufgrund der unfallbedingt erlittenen Verletzungen ein Schmerzensgeld von 90.000 DM gerechtfertigt

4

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, das seit dem 13. Januar 1999 mit 5 % über dem Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank zu verzinsen ist.

5

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Sie haben geltend gemacht, dass den Erstbeklagten kein Verschulden treffe. Er habe keine Möglichkeit gehabt, rechtzeitig zu reagieren, als der Kläger zwischen dem ... und dem ... plötzlich auf die Fahrbahn getreten sei.

7

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil sich aufgrund der in den beigezogenen Ermittlungsakten befindlichen Gutachten der Sachverständigen ... ... und ... ein Verschulden des Erstbeklagten nicht feststellen lasse.

8

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit derer unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens sein erstinstanzliches Prozessziel weiter verfolgt.

9

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des am 27. Februar 2001 verkündeten Urteils des Landgerichts Hannover die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihm ein in das Ermessen des Senats gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 90.000 DM zu zahlen, das seit dem 13. Januar 1999 mit 5 % über dem Basiszinssatz der Deutschen Bundesbank zu verzinsen ist.

10

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Sie verteidigen das angefochtene Urteil.

12

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

13

Die Ermittlungsakten 664 b Js 80677/98 StA Hannover waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Senat.

Entscheidungsgründe

14

Die Berufung hat keinen Erfolg.

15

I.

Die auf §§ 823, 847 BGB i. V. m. § 3 Nr. 1 PflVG gestützte Klage ist unbegründet, weil sich ein unfallursächliches (Mit-)Verschulden des Beklagten zu 1 nicht feststellen lässt. Der Kläger hat nicht bewiesen, dass der Erstbeklagte den Unfall durch eine unzulässige bzw. unangemessen hohe Geschwindigkeit (1.) oder einen sonstigen vorwerfbaren Verkehrsverstoß (2.) mitverursacht hat.

16

1.

Der Erstbeklagte hat die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nicht überschritten. Nach dem Ergebnis der im Ermittlungsverfahren eingeholten Gutachten der Sachverständigen ... und ... steht fest, dass das Fahrzeug des Beklagten zu 1 vor der Kollision eine Ausgangsgeschwindigkeit von 45 - 50 km/h inne hatte. Dies ist zwischen den Parteien auch außer Streit. Im Streitfall ist zugunsten des Erstbeklagten dabei nur von einer gefahrenen Geschwindigkeit von 45 km/h auszugehen, weil der für die ein Verschulden des Beklagten zu 1 begründenden Tatsachen beweisbelastete Kläger eine höhere Geschwindigkeit nicht zu beweisen vermocht hat.

17

Darüber hinaus hat der Kläger nicht bewiesen, dass diese Geschwindigkeit unter Berücksichtigung aller sonstiger Gegebenheiten des Streitfalls nicht angemessen gewesen ist.

18

Der Erstbeklagte war weder aufgrund der Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnisse noch aufgrund sonstiger Umstände gehalten, eine geringere als die festzustellende Geschwindigkeit einzuhalten. Der Kläger hat nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 1 aufgrund konkreter Anhaltspunkte seine Geschwindigkeit hätte reduzieren müssen. Die... Straße ist im Unfallbereich eine gut ausgebaute, übersichtliche Straße mit einer Breite von 8,40 m. Die gesamte Örtlichkeit war gut überschaubar, es herrschte Tageslicht und die Straße war trocken.

19

Das Müllfahrzeug auf der Gegenfahrbahn führte im Streitfall für den Erstbeklagten ebenfalls nicht zu einer Verpflichtung, die Geschwindigkeit weiter zu reduzieren. Zwar stellte das stehende Müllfahrzeug für den Gegenverkehr ein Hindernis dar, es schuf jedoch für den Beklagten zu 1 keine unklare Verkehrslage. Unklar ist eine Verkehrslage, wenn die auf der Fahrbahn sichtbare Verkehrslage das Vertrauen ausschließt, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer die freie Durchfahrt einräumen werden (BGH StVE, § 3 StVO Nr. 75). Allein der Umstand, dass auf der Gegenfahrbahn sich hinter dem Müllfahrzeug eine Fahrzeugschlange gebildet hatte, begründet noch keine unklare Verkehrslage. Der Beklagte zu 1 musste deshalb nicht damit rechnen, dass ein Fahrzeug unvermittelt und ohne rechtzeitiges Blinken auf seine Fahrbahn wechseln oder ein Fußgänger hinter dem Müllfahrzeug hervortreten würde. Anhaltspunkte hierfür sind weder vorgetragen noch sonst aus der beigezogenen Ermittlungsakte ersichtlich.

20

Der Beklagte zu 1 durfte im Streitfall auch ohne Verlangsamung in seiner Fahrspur an dem Müllfahrzeug vorbeifahren. Unter Berücksichtigung der Breite des Müllfahrzeugs von 2,50 m konnte der Beklagte zu 1 mit seinem Pkw ... ohne weiteres auf seiner Fahrbahn an dem Müllfahrzeug vorbeifahren, ohne die einzuhaltenden Sicherheitsabstände zu verletzen. Selbst wenn der Beklagte zu 1 damit hätte rechnen müssen, dass Müllwerker neben dem Müllfahrzeug auf die Fahrbahn treten könnten, war es ihm unproblematisch möglich, einen Seitenabstand zu diesem Fahrzeug von 2 m einzuhalten, ohne dabei zu weit nach rechts an den Fahrbahnrand heranfahren zu müssen und den Seitenabstand zum rechten Fahrbahnrand zu unterschreiten. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte zu 1 den Seitenabstand zum rechten Fahrbahnrand nicht eingehalten hat, lassen sich nicht feststellen.

21

Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte zu 1 die ... Straße nicht überblicken konnte und deshalb seine Geschwindigkeit hätte reduzieren müssen. Der Erstbeklagte konnte vielmehr unstreitig seine Fahrbahn gut überblicken. Bei Straßen von einer Breite von über 6 m erstreckt sich der erforderliche Überblick auch nur auf den vom Kraftfahrer in Anspruch genommenen Fahrstreifen und nicht auf die ganze Fahrbahn (BGH StVE, § 3 StVO Nr. 75). insofern war der Beklagte zu 1 nicht schon aufgrund der Fahrbahnbreite und des auf der Gegenfahrbahn befindlichen Müllfahrzeugs gehalten, seine Geschwindigkeit zu verringern.

22

Auch die weiteren Gegebenheiten an der Unfallstelle brauchten den Erstbeklagten nicht zu veranlassen, eine geringere als die gefahrene Geschwindigkeit einzuhalten. Die Unfallörtlichkeit war für diesen nicht etwa deshalb unübersichtlich, weil auf beiden Seiten der Fahrbahn Fahrzeuge in Parkstreifen abgestellt waren. Parkende Fahrzeuge begründen im Allgemeinen, besonders aber im Stadtverkehr, keine Unübersichtlichkeit. Insofern muss sich ein Kraftfahrer insbesondere auch nicht darauf einstellen, dass zwischen parkenden Fahrzeugen Fußgänger unvorsichtig die Fahrbahn betreten (BGH StVE, § 3 StVO, Nr. 75; OLG Hamm, VRS 30, 77).

23

Eine andere Beurteilung ist im Streitfall nicht dadurch veranlasst, dass sich auf der für den Erstbeklagten rechten Fahrbahnseite der parkende ... befand und ihm die Sicht auf mögliche Passanten einschränkte. Gleiches gilt für den Umstand, dass sich im Unfallbereich auf der einen Straßenseite Geschäfte und auf der anderen eine Parkanlage befinden, die Fußgängerverkehr vermuten lassen und abstrakt die Gefahr verkehrswidrigen Verhaltens von Passanten beim Wechseln der Straßenseite als möglich erscheinen lassen. Ohne konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich ein Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhält, dürfte der Erstbeklagte auf der ... Straße im Unfallbereich auf das verkehrsgerechte Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer vertrauen und musste keine geringere als die gefahrene Geschwindigkeit einhalten.

24

Mit unvermittelt von der Seite in die Fahrbahn tretenden Personen muss der Kraftfahrer nicht rechnen. Dass er kurz vor dem Unfall bereits länger für den Erstbeklagten auf der Fahrbahn sichtbar gewesen ist, kann der Kläger dagegen nicht beweisen. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger dem Fahrzeug des Beklagten zu 1 schon längere Zeit auf der Fahrbahn entgegengegangen ist, sodass dieser ihn frühzeitig hätte erkennen können und seine Geschwindigkeit sofort hätte reduzieren müssen.

25

Auf die im Übrigen stets bestehende Möglichkeit, dass plötzlich Fußgänger zwischen parkenden oder haltenden Fahrzeugen hindurch unvorsichtig auf die Fahrbahn treten, um die Straßenseite zu wechseln, braucht der Kraftfahrer seine Geschwindigkeit nicht einzurichten (BGH a. a. O.; OLG Hamm, VRS 30, 77, 78; OLG Köln, VRS 27, 111, 113).

26

2.

Der Kläger hat nicht bewiesen, dass der Erstbeklagte schuldhaft fehlreagiert hat und durch eine rechtzeitige Reaktion den Unfall hätte vermeiden können. Zwischen den Parteien besteht insofern Streit, ob der Kläger - aus der Sicht des Beklagten zu 1 - bereits unmittelbar hinter dem ... oder erst hinter dem ... ... auf die Fahrbahn getreten ist. Dies kann jedoch im Streitfall dahingestellt bleiben. Denn eine Fehlreaktion des Erstbeklagten lässt sich für beide Sachverhaltsalternativen nicht feststellen.

27

Der Kläger hat schon nicht bewiesen, dass er zwischen dem ... und dem ... auf die Fahrbahn getreten ist. Aber selbst den Vortrag des Klägers als wahr unterstellt konnte der Erstbeklagte - wie das Landgericht im angefochtenen Urteil (UA S. 4) zutreffend festgestellt hat - bei der von ihm zulässigerweise eingehaltenen Ausgangsgeschwindigkeit von 45 km/h den Unfall räumlich und zeitlich nicht vermeiden. Dies steht aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen ... fest, dessen diesbezügliche Berechnungen von den Parteien nicht angegriffen werden. Der Sachverständige hat insofern ausgeführt, dass der Beklagte zu 1 den Unfall erst bei Einhaltung einer Ausgangsgeschwindigkeit seines Fahrzeugs von höchstens 40 km/h bei normaler Reaktion bzw. bei 43 km/h bei Unterstellung erhöhter Aufmerksamkeit bei Einleitung einer Vollbremsung räumlich und zeitlich sicher hätte vermeiden können (Gutachten S. 7, 12, 15, 16; EA 132, 137, 140, 141). Da der Beklagte jedoch eine Geschwindigkeit von 45 km/h fahren durfte, ohne seine Pflichten als Kraftfahrer zu verletzen, kann der Kläger hieraus nichts für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Erstbeklagten herleiten.

28

Nach alledem hat die Berufung keinen Erfolg.

29

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

30

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

Streitwertbeschluss:

Die Beschwer des Klägers beträgt 46.016,27 EUR (= 90.000 DM).