Vergabekammer Lüneburg
Beschl. v. 06.09.2016, Az.: VgK-39/2016
Rechtmäßigkeit eines Vergabeverfahrens im Bereich des bodengebundenen Rettungsdienstes; Offenlegung der Gesamtpreise des Angebots in einem Vergabeverfahren und der aufgrund dieser Preise rechnerisch abgeleiteten Bewertungspunkte
Bibliographie
- Gericht
- VK Lüneburg
- Datum
- 06.09.2016
- Aktenzeichen
- VgK-39/2016
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 25115
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 111 Abs. 1 GWB
- § 111 Abs. 2 GWB
- § 111 Abs. 4 GWB
Amtlicher Leitsatz
Die Vergabekammer kann bei Zwischenentscheidungen die sofortige Vollziehbarkeit anordnen.
In dem Nachprüfungsverfahren
der xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Antragstellerin -
gegen
den xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Antragsgegner -
beigeladen:
xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Beigeladene -
wegen
Vergabe des bodengebundenen Rettungsdienstes auf dem Gebiet des Landkreises xxxxxx
- Los 1 Rettungswachen xxxxxx und xxxxxx,
beschließt die Vergabekammer durch den Vorsitzenden RD Gaus und die hauptamtliche Beisitzerin Dipl. Ing. Rohn hiermit gemäß § 111 Abs. 4, § 114 GWB i.V. m. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO im Rahmen der Einsicht in vergaberelevanten Unterlagen die Offenlegung folgender Angaben:
Tenor:
- 1.
Offenlegung der Gesamtpreise des Angebots und der aufgrund dieser Preise rechnerisch abgeleiteten Bewertungspunkte, soweit in Schriftsätzen der Verfahrensbeteiligten genannt.
- 2.
Offenlegung der dokumentierten Begründung für die Bewertung qualitativer Zuschlagskriterien des Antragsgegners einschließlich der aufgrund dieser Bewertung vergebenen Punkte, soweit in Schriftsätzen der Verfahrensbeteiligten genannt.
- 3.
Offenlegung der Rangfolge in der Wertung, die das Angebot insgesamt, aber auch hinsichtlich einzelner Zuschlagskriterien erhalten hat, soweit in Schriftsätzen der Verfahrensbeteiligten genannt.
- 4.
Offenlegung kurzer Auszüge aus den Angebotsunterlagen, mit denen der jeweilige Verfahrensbeteiligte die zu schlechte oder angemessene Bewertung seines Angebots rechtfertigen will, soweit in Schriftsätzen der Verfahrensbeteiligten genannt.
- 5.
Die Vergabekammer wird den Verfahrensbeteiligten darüber hinaus Auszüge aus den Vergabeunterlagen (Matrix und Vergabedokumentation) übersenden, in denen jeder Verfahrensbeteiligte nur die Wertung des eigenen Angebots vollständig erkennen kann. Fremde Wertungen werden vollständig geschwärzt.
Begründung
Die Antragstellerin hat in der für die Beigeladene bestimmten Ausfertigung ihrer Antragsschrift umfangreiche Schwärzungen vorgenommen, mit denen sie verhindern will, dass die Beigeladene Inhalte des Angebots der Antragstellerin erfährt und Erkenntnisse über das Ergebnis der Wertung erhält. Bemühungen der Vergabekammer um eine Begrenzung der umfangreichen Schwärzungen zeigten nur eingeschränkt Wirkung.
Der Antragsgegner hatte nach Übermittlung des Nachprüfungsantrags bei allen Anbietern abgefragt, welche Teile ihres Angebotes Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthalten und daher von der Akteneinsicht auszunehmen seien, welche die Vergabekammer den am Nachprüfungsverfahren Beteiligten gewähren werde. Beigeladene und Antragstellerin gaben übereinstimmend an, dass sie aus Gründen des Geheimschutzes ausdrücklich der Offenlegung des gesamten Angebots zu Los 1 widersprechen.
Anzuwenden sind vorliegend das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und die VOL/A EG in der bis zum 17. April 2016 einschließlich geltenden Fassung. Denn gemäß § 186 Abs. 2 GWB in der Fassung des Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Modernisierung des Vergaberechts (Vergaberechtsmodernisierungsgesetz - VergRModG) vom 17. Februar 2016 (BGBl. I, S. 203), in Kraft getreten am 18.04.2016, werden Vergabeverfahren, die vor dem 18.04.2016 begonnen haben, nach dem Recht zu Ende geführt, dass zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens gilt. Vorliegend hat der Antragsgegner das streitgegenständliche Vergabeverfahren mit Absendung der europaweiten Bekanntmachung an das Supplement zum Amtsblatt der EU im März 2016 eingeleitet.
Gemäß § 111 Abs. 1 GWB können die Verfahrensbeteiligten die Akten bei der Vergabekammer einsehen und sich Ausfertigungen, Auszüge oder Abschriften erstellen lassen. § 111 Abs. 2 GWB verpflichtet die Vergabekammer, den Verfahrensbeteiligten die Einsicht in die Akten bei der Vergabekammer zu versagen, soweit dies aus wichtigen Gründen, insbesondere des Geheimschutzes oder zur Wahrung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen geboten ist. Gemäß § 111 Abs. 4 GWB kann die Versagung der Akteneinsicht nur im Zusammenhang mit der sofortigen Beschwerde in der Hauptsache angegriffen werden.
Nach Entscheidungen des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 28.07.2007, VII Verg 40/07 - VergR 2008, 281; Beschl. v. 05.03.2008, VII Verg 12/08) soll dagegen die von der Vergabekammer positiv verfügte Einsichtnahme in die Vergabeakten mangels einer dem § 111 Abs. 4 GWB vergleichbaren Regelung dagegen selbstständig anfechtbar sein, sofern durch einen Vollzug Rechte des von der Akteneinsicht Betroffenen in einer durch die Hauptsacheentscheidung nicht wiedergutzumachenden Weise beeinträchtigt werden können. Im Schrifttum wird die selbständige Anfechtbarkeit einer Zwischenentscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht überwiegend bejaht (Dicks in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 2. Aufl., Rdnr. 13; Bungenberg in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, Handkommentar Rdnr. 29; Reidt in: Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht, 3. Aufl., Rdnr. 50; Kus in: Kulartz/Kus/Portz, GWB Vergaberecht, 3. Aufl., Rdnr. 65; Schneevogel in: Müller-Wrede, GWB Vergaberecht, 2. Aufl. Rdnr. 9; PK-Vergaberecht-Summa, 4. Aufl. 2013, Rdnr. 63 ff. jeweils zu § 111 GWB; OLG Frankfurt, Beschluss vom 12.12.2014,11 Verg 8/14).
Die Vergabekammer hat daher eine Zwischenentscheidung nicht nur über den Umfang der Akteneinsicht in die Vergabeunterlagen des Antragsgegners zu treffen, sondern soweit die Verfahrensbeteiligten in ihren Schriftsätzen Auszüge aus ihren eigenen Angeboten zitieren, aber der Weitergabe an andere Verfahrensbeteiligte widersprechen, auch über den Umfang der Offenlegung des Inhaltes der Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten.
Die Vergabekammer ist gemäß § 111 Abs. 1 GWB primär zur Transparenz verpflichtet. Daneben trifft sie eine weitere Verpflichtung, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Verfahrensbeteiligten zu wahren. Sie kann sich diesbezüglich auf die bereits vom Antragsgegner unmittelbar nach Übermittlung des Nachprüfungsantrags durchgeführte Anhörung der Verfahrensbeteiligten beziehen.
Als Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis gelten alle Unterlagen, in denen technisches Know-how niedergelegt ist, ebenso Kundenlisten, Bezugsquellen, Informationen zu Ertragslage des Unternehmens sowie dessen Marktstrategie. Gleiches gilt für Umsätze, Geschäftsbücher, Konditionen, Marktstrategien, Unterlagen zur Kreditwürdigkeit oder Patentanmeldungen (Kus in Kulartz/Kus/Portz, GWB Vergaberecht, § 111, Rn. 37).
Die Entscheidung über den Umfang der Einsicht treffen nicht die Verfahrensbeteiligten, sondern die Vergabekammer. § 111 Abs. 2 GWB ist als Ausnahmetatbestand von § 111 Abs. 1 GWB zu verstehen. Regelmäßig ist daher den Verfahrensbeteiligten vollständig Akteneinsicht zu gewähren, die Wahrung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen bedarf daher einer konkreten Darlegung, um ausnahmsweise dem Interesse auf Geheimschutz den Vorrang vor dem Interesse auf Akteneinsicht zu geben (Kus in Kulartz/Kus/Portz, GWB Vergaberecht § 111 Rn. 54).
Die hier streitigen Angebotsinhalte bleiben weit hinter der Kalkulationsrelevanz der oben genannten Angaben zurück. Hier ist nur eine konkrete Dienstleistung anzubieten. Weder soll die interne Kalkulation offengelegt werden, noch soll ein Verfahrensbeteiligte angehalten werden, mit der für eine Adaption auf eigene Kalkulationen notwendigen Genauigkeit Geschäftskonzepte offenzulegen. Es ist also nicht konkret erkennbar, dass ein Verfahrensbeteiligter aus den kurzen in Schriftsätzen bisher genannten Angebotsauszügen des anderen Verfahrensbeteiligten konkrete Vorteile für die eigene Angebotskalkulation in künftigen Vergaben erzielen könnte. Die Verfahrensbeteiligten haben im Rahmen ihrer vom Antragsgegner vorgenommenen Anhörung keine Argumente für ein konkretes Schutzbedürfnis vorgebracht. Es ist ein Fehler anzunehmen, dass eine möglichst weit reichende aber nicht inhaltlich begründete Erklärung einen größeren Schutz gewährleisten würde, als eine auf wenige Angebotsinhalte reduzierte aber sachlich begründete Verschwiegenheitserklärung.
Die Arbeit der Vergabekammer wird durch die umfangreichen Schwärzungen erheblich beeinträchtigt. Dies gilt zunächst formal, da jeder Schriftsatz sowohl in offengelegter Fassung für die Vergabekammer, als auch in teilweise anonymisierter Fassung bearbeitet und geprüft werden müsste. Die Vergabekammer wird sich auch künftig nicht darauf verlassen, dass die Verfahrensbeteiligten die Schwärzungen nach den Vorstellungen der Vergabekammer vornehmen. Sie ist verpflichtet zur Transparenz des Nachprüfungsverfahrens jede Schwärzung daraufhin zu überprüfen, ob sie zur Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen erforderlich ist.
Inhaltlich erschwert die von den Verfahrensbeteiligten vorgetragene Auffassung, die Angebote seien insgesamt als Geschäftsgeheimnis aufzufassen, die Erörterung des streitigen Sachverhalts im Termin zur mündlichen Verhandlung erheblich. Eine Erörterung der Wertung ist nahezu unmöglich, wenn die Wertungsergebnisse nur in anonymisierter Form angesprochen werden dürfen. Die Vergabekammer kann beispielsweise nicht darstellen, wie der Antragsgegner die Ausfallsicherheit zum Personal und zu den Sachmitteln bewertet hat, wenn der Angebotsinhalt nicht angesprochen werden darf. Eine sinnvolle Erörterung der Angebotsinhalte wäre somit objektiv unmöglich, wollte die Vergabekammer der Argumentation der Verfahrensbeteiligten folgen.
Das gilt noch gravierender für den Beschluss der Vergabekammer. Schon zur Ermittlung der Gebühren der Vergabekammer, die in jedem Beschluss offen gelegt werden, ist es notwendig, die Angebotssumme der Antragstellerin spätestens im Beschluss der Vergabekammer offenzulegen. Es ist daher erforderlich, den Angebotspreis der Antragstellerin zu benennen. Der Gesamtpreis ohne Aufschlüsselung der einzelnen kalkulationsrelevanten Kostenpositionen enthält auch keine Betriebsgeheimnisse. Die Offenlegung solcher Gesamtpreise ist in Submissionen zur Vergabe von Bauaufträgen üblich. Daraus ergibt sich, dass trotz der Regelung in § 14 EG Abs. 3 VOL/A (weitergehend sogar § 5 VgV 2016) die Offenlegung des Gesamtpreises kein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis enthält.
Darüber hinaus muss sich die Vergabekammer in ihrem Beschluss substantiiert zu den Einwendungen der Antragstellerin zur Wertung des Antragsgegners und zum Verhältnis der Angebote von Antragstellerin und Beigeladener zueinander auseinandersetzen. Die Vergabekammer verweist beispielhaft auf die kürzlich ergangene Entscheidung im Nachprüfungsverfahren VgK-26/2016, Beschluss vom 13.07.2016. Ein Beschluss, der nicht erwähnen darf, warum die Wertung des konkreten Angebots nicht überzeugend oder überzeugend dokumentiert worden ist, bleibt zwangsläufig kryptisch und unverständlich.
Die Vergabekammer hat die Erfahrung gemacht, dass selbstständig anfechtbare Zwischenentscheidungen den Ablauf des Vergabenachprüfungsverfahrens deutlich verlangsamen (vgl. VgK-48/2009; OLG Celle, 13 Verg 14/09). Dies kann der öffentliche Auftraggeber nicht beeinflussen. Da der beabsichtigte Vertragsbeginn erst am 01.01.2018 geplant ist, scheint auch bei erheblichen Rüstzeiten eine geringe Verzögerung des Vergabeverfahrens nicht unmittelbar vergabeschädlich zu sein.
Da die Vergabekammer ihre Entscheidungen gemäß § 114 GWB durch Verwaltungsakt trifft, sie insofern eine Ermächtigungsgrundlage für hoheitliches Handeln hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 09.11.2015, 15 A 1141/15 zur Vergabesperre ohne Ermächtigungsgrundlage), ist sie folglich gemäß § 80 VwGO befugt, die sofortige Vollziehbarkeit ihrer Verfügung anzuordnen, wenn das überwiegende öffentliche Interesse das private Interesse des Adressaten der Verfügung deutlich überwiegt. Zu der in diesem Fall gemäß § 80 Abs. 3 VwGO erforderlichen schriftlichen Begründung verweist die Vergabekammer auf die obige Darstellung. Selbst wenn man § 80 VwGO nicht als geeignete Ermächtigungsgrundlage für die Entscheidung der Vergabekammer über die Umsetzung der Entscheidung ohne ein Abwarten der Beschwerdefrist gemäß § 117 GWB (vgl. VK Niedersachsen, Akteneinsichtsbeschluss vom 01.06.2015, VgK-15/2015) ansieht, kommt man über § 121 GWB und die Folgerung a majore ad minus zum identischen Ergebnis.
Gemäß § 121 GWB steht der Vergabekammer die inhaltlich weitergehende Befugnis zu, auf Antrag des Auftraggebers oder auf Antrag eines Unternehmens vorab den Zuschlag zu gestatten. Demzufolge muss es der Vergabekammer möglich sein, bei einer im Gesetz nicht ausdrücklich normierten aber erforderlichen Zwischenentscheidung eine inhaltlich hinter dieser Befugnis deutlich zurückbleibende Regelung zu treffen, um ihre gesetzliche Verpflichtung aus § 113 GWB, innerhalb von 5 Wochen eine Entscheidung zu treffen, zu erfüllen. Die Vergabekammer ist daher zur Verfahrensstraffung berechtigt, die Verfahrensbeteiligten darauf hinzuweisen, dass sie die im Tenor genannten Angebotsinhalte, soweit sie in Schriftsätzen erwähnt worden sind, nach Ablauf einer angemessen kurzen Frist offen legt.