Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.05.2005, Az.: 11 ME 131/05
Verfassungsrechtliche Überprüfung von Rechtssicherheit und Rechtsmittelklarheit von gewohnheitsrechtlich entwickelten, ungeschriebenen Rechtsbehelfen; Voraussetzung für die Zulässigkeit eines fachgerichtlichen Abhilfegesuchs wegen eines Verstoßes gegen das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 03.05.2005
- Aktenzeichen
- 11 ME 131/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 34140
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2005:0503.11ME131.05.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 103 Abs. 1 GG
- § 152 a VwGO
- § 173 VwGO
- § 291 ZPO
Fundstellen
- NJW 2005, 2170 (Volltext)
- NJW 2005, 2171-2172
- NVwZ 2006, 849-850 (amtl. Leitsatz)
Redaktioneller Leitsatz
Soweit es sich beim Gegenstand der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs um eine offenkundige Tatsache handelt, muss diese den Verfahrensbeteiligten vor der Entscheidung nicht gesondert mitgeteilt werden. Die Offenkundigkeit kann sich aus der Veröffentlichung in Medienberichten oder amtlichen Begründungen von Gesetzesentwürfen ergeben.
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 11. Senat -
am 3. Mai 2005
beschlossen:
Tenor:
Die Gegenvorstellung der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des Senats vom 6. April 2005 wird verworfen.
Die Anhörungsrüge der Antragstellerinnen gegen den vorgenannten Beschluss des Senats wird zurückgewiesen.
Gründe
1.
Die von den Antragstellerinnen mit Schriftsatz vom 22. April 2005 erhobene Gegenvorstellung gegen den Beschluss des Senats vom 6. April 2005 ist nicht statthaft und deshalb als unzulässig zu verwerfen.
Nach dem Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003 (BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924 [BVerfG 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02] = DVBl. 2003, 932) verstößt es gegen den allgemeinen Justizgewährungsanspruch, wenn eine Verfahrensordnung bei Unanfechtbarkeit einer Gerichtsentscheidung keine eigenständige einmalige gerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsieht, um einen entscheidungserheblichen Verstoß gegen das elementare Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zu beheben. Das Bundesverfassungsgericht hat die von der Praxis "teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts" entwickelten außerordentlichen Rechtsbehelfe mit den "verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit" und Rechtssicherheit für unvereinbar gehalten. Die Rechtsbehelfe müssten in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein. Da sich bislang nicht immer mit der nötigen Klarheit aus dem Prozessrecht entnehmen lasse, dass und unter welchen Voraussetzungen der von einer Gehörsverletzung Betroffene die Fachgerichte um Abhilfe ersuchen könne, gab das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auf, bis zum 31. Dezember 2004 die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Am 1. Januar 2005 ist das Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) vom 9. Dezember 2004 in Kraft getreten (BGBl. I S. 3220). Durch Art. 8 dieses Gesetzes wurde die VwGO geändert und ein neuer § 152 a eingefügt (BGBl. I S. 3223 f.). Diese Vorschrift sieht als außerordentlichen Rechtsbehelf eine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit gegen unanfechtbare gerichtliche Entscheidungen vor, wenn das Gericht den Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (§ 152 a Abs. 1 Satz 1 VwGO). Mit der Einführung der Anhörungsrüge sind nach Auffassung des Senats sonstige außerordentliche Rechtsbehelfe, wie etwa Gegenvorstellungen, gegen unanfechtbare Entscheidungen nicht mehr statthaft (ebenso OVG Berlin, Beschl. v. 3.2.2005, NVwZ 2005, 470; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 2.2.2005, VBlBW 2005, 153; Guckelberger, Die Anhörungsrüge nach § 152 a VwGO n.F., NVwZ 2005, 11, 13). Denn nach dem zitierten Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts genügen die teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts entwickelten außerordentlichen Rechtsbehelfe den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht. Nach der gesetzgeberischen Entscheidung im Anhörungsrügengesetz, ab 1. Januar 2005 nach § 152 a VwGO nur in Fällen der Verletzung rechtlichen Gehörs dem entscheidenden Gericht die Möglichkeit der Selbstkorrektur einzuräumen, wäre es unvereinbar, neben § 152 a VwGO ungeschriebene außerordentliche Rechtsbehelfe, deren Voraussetzungen für den Bürger nicht klar erkennbar sind und die zu einer Durchbrechung der Rechtskraft führen könnten, bestehen zu lassen.
2.
Die zugleich erhobene Anhörungsrüge der Antragstellerinnen ist zulässig, aber nicht begründet.
Soweit allerdings die Antragstellerinnen eine unzutreffende Anwendung des materiellen Rechts durch den Senat geltend machen, sind sie mit diesem Vorbringen im Rahmen einer Anhörungsrüge des § 152 a VwGO ausgeschlossen. Die Anhörungsrüge ist - wie bereits erwähnt - grundsätzlich auf Verfahrensverstöße gegen Art. 103 Abs. 1 GG beschränkt. Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist regelmäßig nicht geeignet, eine - vermeintlich - fehlerhafte Feststellung und Bewertung des Sachverhalts einschließlich seiner rechtlichen Würdigung zu beanstanden (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 10.12.2003, NVwZ 2004, 627; Beschl. v. 2.11.1995, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266). Dies verkennen die Antragstellerinnen, soweit sie den Beschluss des Senats vom 6. April 2005 auf Seiten 2 bis 9 und 11 bis 12 ihres Schriftsatzes vom 22. April 2005 mit materiell-rechtlichen Einwänden angreifen.
Soweit sich die Antragstellerinnen auf eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs berufen, greifen ihre Rügen in der Sache nicht durch.
Die Antragstellerinnen bemängeln, es sei für sie überraschend gewesen, dass sich nach der Darstellung des Senats im angefochtenen Beschluss die Höhe der Umsätze im Bereich der Sportwetten auf mehr als eine Milliarden Euro belaufen solle. Der Senat habe dies weder überprüft noch den Antragstellerinnen Gelegenheit gegeben, zu diesem Punkt Stellung zu nehmen. Dazu war der Senat aber auch nicht verpflichtet. Er hat in diesem Zusammenhang auf Seite 9 seines Beschlusses Medienberichte (FAZ v. 11.3.2005, S. 2; Der Spiegel 8/2005, S. 76) zitiert, wonach der jährliche Umsatz, den die vom Deutschen Toto- und Lottoblock veranstalteten Oddset-Sportwetten erzielten, auf ca. 480 Millionen Euro geschätzt werde, während er sich bei den privaten Veranstaltern allein an deutschen Internetanschlüssen sogar auf mehr als eine Milliarde Euro belaufen solle. Hierbei handelt es sich um offenkundige (allgemeinkundige) Tatsachen im Sinne des § 291 ZPO i.V.m. § 173 VwGO, die den Beteiligten nicht vorher zur Kenntnis gebracht werden mussten (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschl. v. 11.2.1982, Buchholz 402.24§ 28 AuslG Nr. 36). Das Gleiche gilt für die Rüge der Antragstellerinnen, ihnen sei nicht bekannt gewesen, dass auch gewerbliche Spielvermittler zum Entwurf des Staatsvertrages zum Lotteriewesen in Deutschland angehört worden seien. Der Senat hat insoweit auf Seite 8 seines Beschlusses die Amtliche Begründung zum niedersächsischen Entwurf eines Gesetzes zum LottStV (LT-Drs. 15/935, S. 18) zitiert, wonach bereits beim Entwurf des Staatsvertrages eine Beteiligung betroffener Organisationen (u.a. gewerbliche Spielvermittler, Verbraucherschutzeinrichtungen, Spielsuchtverbände) stattgefunden habe. Auch hierbei handelt es sich um eine offenkundige Tatsache, über die sich auch die anwaltlich vertretenen Antragstellerinnen aus allgemein zugänglichen Erkenntnisquellen hätten informieren können.
Im Übrigen wäre eine Verletzung des Anspruchs der Antragstellerinnen auf Gewährung rechtlichen Gehörs in dieser Hinsicht auch im Ergebnis unschädlich, weil der Senat seinen Beschluss selbstständig entscheidungstragend auch darauf gestützt hat, dass die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten ohne behördliche Erlaubnis selbst dann nicht zulässig wäre, wenn § 3 Abs. 2 NLottG und § 5 Abs. 4 LottStV verfassungs- und/oder gemeinschaftswidrig sein sollten (vgl. S. 16 f. BA). Mit diesem eigenständigen Argument haben sich die Antragstellerinnen in ihrem Schriftsatz vom 22. April 2005 jedoch nicht auseinander gesetzt.
Nach alledem muss die Anhörungsrüge erfolglos bleiben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 a Abs. 4 Satz 3 VwGO).
Meyer-Lang
Vogel