Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 15.12.2005, Az.: S 10 SF 52/05

Kostenfestsetzung in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend Leistungen für Hilfe zum Lebenunterhalt; Bestimmung der Betragsrahmengebühren der anwaltlichen Tätigkeit nach Schwierigkeit und billigem Ermessen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
15.12.2005
Aktenzeichen
S 10 SF 52/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 36258
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOLDBG:2005:1215.S10SF52.05.0A

Fundstelle

  • AGS 2006, 506-508 (Volltext mit red. LS u. Anm.)

In dem Rechtsstreit
...
hat das Sozialgericht Oldenburg - 10. Kammer -
am 15. Dezember 2005
durch
den Richter am Sozialgericht Tolkmitt - Vorsitzender -
beschlossen:

Tenor:

Die Erinnerung der Erinnerungsführerin gegen den Beschluss der Urkundsbeamtin des Sozialgerichts Oldenburg vom 21.9.2005 wird zurückgewiesen.

Gründe

1

I.

Die Erinnerungsführerin begehrt eine höhere Kostenerstattung in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

2

Die Erinnerungsführerin bezieht von der Antragsgegnerin des einstweiligen Anordnungsverfahren, das der Kostenfestsetzung zu Grunde lag, der Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Diese hatte die ARGE mit Bescheid vom 18.5.2005 für den Zeitraum vom 1.6. bis 30.11.2005 in Höhe von monatlich 797,97 EUOR gewährt. Nachdem die ARGE erfahren hatte, dass die Erinnerungsführerin gemeinsam in einer Wohnung mit einer männlichen Person lebt, übersandte die ARGE der Erinnerungsführerin ein Schreiben vom 23.5.2005, in dem sie mitteilte, dass sie vorsorglich die Alg II-Leistung ab 1.7.2005 gesperrt habe. Dieses Schreiben wertete der Bevollmächtigte der Erinnerungsführerin als Widerspruch und erhob gegen diesen Bescheid Widerspruch. Außerdem beantragte er am 10.6.2005 den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die ARGE und begründete diesen Antrag mit einem knapp zweiseitigen Schriftsatz. Auf die Erwiderung der ARGE hin erfolgte ein weiterer Schriftsatz, der knapp eine halbe DINA 4-Seite umfasste. Mit Beschluss vom 29.6.2005 stellte das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen den Bescheid vom 23. Mai 2005 wieder her und verpflichtete die ARGE zur Übernahme der Kosten des Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Außerdem wurde der Erinnerungsführerin Prozesskostenhilfe gewährt.

3

Der Bevollmächtige der Erinnerungsführerin machte daraufhin folgende PKH-Vergütung geltend:

Gebühr 3102 VV250,00 EURO
Gebühr 7002 VV20,00 EURO
Umsatzsteuer 7008 VV43,20 EURO
Summe:313,20 EURO
4

Im PKH-Festsetzungsverfahren wurde die ARGE zur angemessenen Gebührenhöhe angehört. Die Urkundsbeamtin des Sozialgerichts Oldenburg setzte mit Beschluss vom 21.9.2005 die zu erstattenden Kosten wie folgt fest:

Verfahrensgebühr 3102 VV150,00 EURO
Auslagenpauschale 7002 VV20,00 EURO
Mehrwertsteuer 7008 VV27,20 EURO
Gesamtsumme:197,20 EURO
5

Gegen diesen Beschluss legte die Erinnerungsführerin durch ihren Bevollmächtigten Erinnerung ein und nahm Bezug auf die Ausführungen in einem Parallelverfahren vor dem Sozialgericht Oldenburg. In diesem Verfahren hatte der Bevollmächtigte der Erinnerungsführerin die Auffassung vertreten, dass in Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Bedeutung der Angelegenheit angesichts der existenzsichernden Wirkungen von Leistungen nach dem SGB II und XII so herausragend sei, dass eine Mittelgebühr für diese Verfahren stets angemessen sei. Die Bedeutung sei insbesondere deswegen sehr hoch, weil die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Auftraggeber schlecht seien und diese auf Leistungen nach den vorgenannten Gesetzen existenzsichernd angewiesen seien. Nach der Kompensationstheorie des Landessozialgerichts Thüringen könne allein ein Kriterium, das nach § 14 RVG bei der Gebührenbemessung zu berücksichtigen sei, alle übrigen Kriterien nach § 14 RVG zurückdrängen, so dass wegen der überragenden Bedeutung des Verfahrens stets eine Mittelgebühr auf jeden Fall angemessen sei.

6

Die Antragsgegnerin hält die Gebührenfestsetzung für zutreffend.

7

II.

Die gem. § 56 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) zulässige Erinnerung ist nicht begründet. Die Kostenfestsetzung durch die Urkundsbeamtin ist nicht zu beanstanden.

8

Die Höhe der Gebühr richtet sich auch im Falle der Festsetzung von PKH-Gebühren nach den §§ 3, 14 RVG. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 RVG entstehen in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das GKG nicht anwendbar ist, Betragsrahmengebühren. Diese bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, so ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist.

9

Eine solche Unbilligkeit liegt nach Auffassung des Gerichts hier vor, weil die vom Gericht als angemessen angesehene Gebühr durch die vom Bevollmächtigten des Erinnerungsführers angesetzte Gebühr um mehr als 20 v. H. überschritten wird.

10

Der Gebührenrahmen für die vom Bevollmächtigten der Erinnerungsführerin geltend gemachten Gebühr ist auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren dem Gebührentatbestand Ziff. 3102 des Vergütungsverzeichnisses (VV) zu entnehmen. Der Gebührentatbestand der Ziff. 3103 ist nicht einschlägig.

11

Der Gebührentatbestand der Ziffer 3103 stellt eine Sondervorschrift gegenüber Ziff. 3102 dar, der dieser gegenüber vorrangig ist. Ziff. 3103 sieht die Herabsetzung des Gebührenrahmens für ein sozialgerichtliches Verfahren vor, wenn dem Klageverfahren eine Tätigkeit des Bevollmächtigten der Klägerin in einem vorhergehenden Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist. In diesem Falle ist typischerweise davon auszugehen, dass der Bevollmächtigte der Klägerin den Streitstoff und die zu Grunde liegenden Rechtsfragen schon im Verwaltungsverfahren voll durchdrungen hat und deshalb der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit im Klageverfahren typischerweise geringer ist als in einem Verfahren, wo ein solches Verwaltungsverfahren nicht vorangegangen ist. Diesem Sachverhalt ist ein ER-Verfahren, das während eines Widerspruchsverfahrens anhängig gemacht worden ist, nicht ohne weiteres vergleichbar. Vielmehr ist wichtiger Bestandteil eines jeden Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Nachweis eines Anordnungsgrundes, der typischerweise in Verwaltungsverfahren keine Rolle spielt. Ein typischerweise niedriger Gebührenrahmen, wie er in Ziffer 3103 vorgesehen ist, ist deshalb in einem ER-Verfahren nicht gerechtfertigt. Dieses schließt allerdings nicht aus, dass Tätigwerden des Bevollmächtigten eines Antragstellers in einem Verwaltungsverfahren vor oder während des Antrages auf Erlasses einer einstweiligen Anordnung bei der Beurteilung des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit im ER-Verfahren im Rahmen des § 14 Abs. 1 RVG zu berücksichtigen. Dieses wäre nur bei der Anwendung der Ziffer 3103 vom Wortlaut dieser Ziffer her ausgeschlossen. Dieses gilt nicht für die Anwendung der Ziffer 3102.

12

Der Gebührenrahmen für das vorliegende ER-Verfahren beträgt damit 40,00 bis 460,00 EURO, die Mittelgebühr 250,00 EURO. Innerhalb dieses Gebührenrahmens hat die Urkundsbeamtin mit 150,00 EURO eine Festsetzung vorgenommen, die eher an der oberen Grenze des angemessenen Rahmens unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles liegt.

13

Nach Auffassung des Gerichtes ist es nicht erforderlich, dass für das Ansetzen einer Gebühr (über der Mittelgebühr) sämtliche zu berücksichtigenden Kriterien nach § 14 RVG als weit überdurchschnittlich angesehen werden müssen. Für die Entscheidung des vorliegenden Falles kann es aber dahinstehen, ob in dem Fall, in dem eines der Kriterien eine herausragende Bedeutung gegenüber allen anderen Kriterien hat, dieses schon allein das Festsetzen einer Höchstgebühr rechtfertigt. Nach Auffassung der Kammer kann im vorliegenden Verfahren allein die Bedeutung der Angelegenheit als leicht über dem Durchschnitt angesehen werden. Alle anderen Kriterien sind als weit unterdurchschnittlich anzusehen.

14

Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Erinnerungsführerin sind bei der Gebührenbemessung nach § 14 RVG zu berücksichtigen. Diese sind für die Erinnerungsführerin als eindeutig unterdurchschnittlich anzusehen, weil sie auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen ist, d.h. sie hat weder Einkommen noch anrechenbares Vermögen. Inwiefern der Bevollmächtigte der Erinnerungsführerin im vorliegenden Fall die Einkommens- und Vermögensverhältnisse als Erhöhungskriterium im Rahmen des § 14 RVG angesetzt wissen will, erschließt sich für das Gericht nicht. Nur im Rahmen der Bedeutung der Angelegenheit können mittelbar die Einkommensverhältnisse der Erinnerungsführerin Berücksichtigung finden in der Form, dass die relativ geringen Beträge, um die es im vorliegenden Verfahren geht, angesichts ihrer geringen Einkommensverhältnisse für sie persönlich eine hohe Bedeutung haben. Dieses bedeutet jedoch nicht, dass das Kriterium der Einkommens- und Vermögensverhältnisse selbst eine Gebührenerhöhung im Rahmen des § 14 RVG rechtfertigt. Lediglich das Kriterium der Bedeutung der Angelegenheit für die Erinnerungsführerin kann - wie gesagt - wegen ihrer schlechten Einkommenslage als höher eingeschätzt werden, als wenn eine Person mit durchschnittlichen Einkommensverhältnissen die gleichen Beträge einklagen würde.

15

Der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit für das ER-Verfahren ist an der untersten Grenze anzusetzen und würde allenfalls eine Mindestgebühr rechtfertigen.

16

Eine Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit vermag das Gericht für das ER-Verfahren überhaupt nicht erkennen, da sich die Tätigkeit des Bevollmächtigten der Erinnerungsführerin darauf beschränkte, gegenüber der Beklagten geltend zu machen, dass die Beklagte nicht berechtigt gewesen sei, in dem Bescheid über die Gewährung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einzugreifen, weil eine eheähnliche Lebensgemeinschaft mit ihrem Freund nicht gegeben sei. Besondere rechtliche Schwierigkeiten bot das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht, zumal auch zum Anordnungsgrund wesentliche Ausführungen nicht erfolgten.

17

Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit ist ebenfalls als an der untersten Grenze liegend anzusehen, weil lediglich ein standardisierter Antrag gestellt worden ist und eine knappe Begründung von etwas über einer DINA 4-Seite erfolgte. Die vorgenannten Kriterien sind nach Auffassung des Gerichts auch deshalb als besonders gering zu bewerten, weil der Bevollmächtigte der Erinnerungsführerin auch im Widerspruchsverfahren gegenüber der ARGE tätig geworden und darüber bereits in dem Streitstoff eingearbeitet gewesen ist. Da er auch für dieses Tätigwerden Honoraransprüche geltend machen kann, kann der Umfang der Tätigkeit nur an der unteren Grenze angesetzt werden.

18

Zuzustimmen ist den Ausführungen des Bevollmächtigten der Erinnerungsführerin darin, dass die Bedeutung der Angelegenheit für die Erinnerungsführerin angesichts ihrer Einkommensverhältnisse als überdurchschnittlich zu bewerten ist, weil sie ohne Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes durch die ARGE keinerlei Mittel mehr zur Verfügung gehabt hätte. Andererseits ist auch zu berücksichtigen, dass es im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung lediglich um eine vorläufige Regelung bezüglich der geltend gemachten Ansprüche ging und dem Aktenmaterial auch nicht zu entnehmen ist, dass der Erinnerungsführerin auf Grund des Bescheides der ARGE wesentliche Konsequenzen wie z.B. der Verlust der Wohnung drohten. Vor diesem Hintergrund kann das Kriterium der Bedeutung der Angelegenheiten zwar als überdurchschnittlich aber nicht als so gravierend überdurchschnittlich eingestuft werden, dass eine höhere als die von der Urkundsbeamtin festgesetzte Gebühr angemessen ist.

19

Insbesondere vermag das Gericht nicht zu erkennen, inwiefern im gerichtlichen Eilverfahren nach dem SGB II oder dem SGB XII keine andere als die Mittelgebühr nach Ziff. 3102 ff. gerechtfertigt sein sollte. Vielmehr sind auch in diesem Verfahren wie in allen anderen Festsetzungsverfahren, die § 14 RVG als Grundlage haben, sämtliche in § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG genannten Umstände zu berücksichtigen und im Einzelfall abzuwägen. Von einem generellen Vorrang eines einzelnen Faktors kann in keinem Fall ausgegangen werden (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 34. Auflage, Anm. 18 zu § 14 RVG). Für die vom Bevollmächtigten der Erinnerungsführerin gewünschte Auslegung der Gebührenbemessung nach § 14 RVG bietet das Gesetz nach alledem keine Grundlage. Es muss vielmehr auch in einstweiligen Anordnungsverfahren nach dem SGB II oder dem SGB XII die Möglichkeit verbleiben, auf Grund sämtlicher Kriterien nach § 14 RVG an die unterste Grenze des Gebührenrahmens zu gehen, bei geeigneter Lage der Kriterien nach § 14 RVG aber auch den Gebührenrahmen nach oben auszunutzen.

20

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist nicht zulässig, weil der Beschwerdewert von 200,00 EURO nicht erreicht wird. Einen Grund, die Beschwerde zuzulassen, hat nicht bestanden (§ 56 II RVG i.V.m. § 33 III RVG).

Tolkmitt