Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 26.01.2005, Az.: S 2 So 16/05 ER

Gewährung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt; Eingliederungshilfe für behinderte Menschen; Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Rentenrechts

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
26.01.2005
Aktenzeichen
S 2 So 16/05 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 33799
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOLDBG:2005:0126.S2SO16.05ER.0A

Fundstellen

  • FStBW 2005, 1002-1003
  • FStHe 2006, 88-89
  • FStNds 2006, 145-146
  • GV/RP 2006, 682-684
  • info also 2005, 83-85 (Volltext mit red. LS)

Verfahrensgegenstand

Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII

Redaktioneller Leitsatz

Ist zwischen den Parteien streitig, ob ein Hilfebedürftiger erwerbsfähig ist, erhält dieser bis zur Entscheidung der Einigungsstelle Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende von der Arbeitsgemeinschaft.

In dem Rechtsstreit
hat das Sozialgericht Oldenburg - 2. Kammer -
am 26. Januar 2005
durch
den Richter am Verwaltungsgericht Wündrich
ohne mündliche Verhandlung
beschlossen:

Tenor:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Kosten werden nicht erstattet.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

I.

Der Antragsteller begehrt von dem Antragsgegner die Gewährung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des SGB XII.

2

Dem C. geborenen Antragsteller, der seit dem 5. Lebensjahr ertaubt ist, sind seit 1979 ein Grad der Behinderung von 100 und die Nachteilsausgleiche "G, B, H und RF" zuerkannt. Nach dem Besuch der Gehörlosenschule und der D., die er im Jahre 1984 mit der Reifeprüfung abschloss, nahm er im Wintersemester 1984/85 ein Fernstudium an der E. in den Fächern Informatik und Mathematik auf. Während der ersten Jahre des Fernstudiums wurde der Antragsteller von Mitarbeitern der F. betreut, die im Auftrage der E. Fernstudenten versorgten. Auch wurden vom Antragsgegner Kosten für zwei Gebärdensprachdolmetscher als Mentoren für die Ausbildung des Antragstellers übernommen. Wegen verschiedener Rechtsstreitigkeiten um die Förderungs- und Eingliederungshilfeansprüche des Antragstellers unterbrach der Antragsteller zeitweise sein Studium. Mit Bescheid vom 20.10.1998 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller zur Fortsetzung seines Studiums in den Fächern Mathematische Systemanalyse und Informatik an der E. zwei Mentorenstellen zur fachlichen Betreuung dieses Studiums.

3

Neben Leistungen der Eingliederungshilfe bezog der Antragsteller bis zum 31.12.2004 von der im Namen und im Auftrage des Antragsgegners handelnden Gemeinde laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Nachdem die Gemeinde den Antragsteller verschiedentlich darauf hingewiesen hatte, dass wegen der gesetzlichen Änderungen für die Leistungen zum Lebensunterhalt ab dem 01.01.2005 durch ihn eine Antragstellung bei der Arbeitsgemeinschaft nach dem SGB II notwendig sei, beantragte der Antragsteller nach seinem Vorbringen mit Schreiben vom 30.11.2004 bei der Gemeinde, ihm ab dem 01.01.2005 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des SGB XII zu gewähren. Dies lehnte die im Namen und im Auftrage des Antragsgegners handelnde Gemeinde mit Bescheid vom 17.12.2004 mit der Begründung ab, dass es Sache der nach dem SGB II zuständigen Träger sei, ggfs. mit Hilfe des Rentenversicherungsträgers oder des Gesundheitsamtes festzustellen, ob beim Antragsteller eine dauernde Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Rentenrechts vorliege. Solange dieser Träger nicht entschieden habe, weil der Antragsteller keine entsprechenden Leistungen beantragt habe, müsse der Träger der Leistungen nach dem SGB XII davon ausgehen, dass der Antragsteller zum Personenkreis gehöre, der unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein könne.

4

Dagegen hat der Antragsteller nach seinem Vorbringen am 20.12.2004 Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden wurde.

5

Am 21.01.2005 hat sich der Antragsteller an das Gericht mit der Bitte um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewandt. Er macht geltend: Zu Unrecht habe die Namens und im Auftrage des Antragsgegners handelnde Gemeinde seinen Fall an die Arbeitsgemeinschaft zur Bearbeitung nach dem SGB II abgeschoben, da er nicht im Sinne des § 8 SGB II erwerbsfähig sei. Dies ergebe sich ohne Weiteres aus den zahlreichen ärztlichen Stellungnahmen, die der Gemeinde bzw. dem Antragsgegner bereits seit langem vorliegen. Insbesondere zeige bereits die Vergabe des Nachteilsausgleichs "H" und der Umstand, dass er nur unter großen Mühen ein Teilzeitfernstudium bewältigen könne, dass er nicht erwerbsfähig im Sinne des SGB II sei. Vielmehr solle seine Erwerbsfähigkeit gerade erst durch das Studium erreicht werden. Erst dann sei eine Vermittelbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt denkbar. Eine Entscheidung des Gerichts sei dringlich, weil er nur noch über 183,-- Euro zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verfüge.

6

Der Antragsteller beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

7

Von einer Anhörung des Antragsgegners wurde wegen der Eilbedürftigkeit abgesehen.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen.

9

II.

Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.

10

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (so genannte Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) und ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. mit § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in einem Eilverfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen später nach einem Hauptsacheverfahren, dass zu Lasten des Antragstellers ausginge, nur unter sehr großen Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden könnten. Daher ist der vorläufige Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zur deren Beseitigung eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88] m.w.N.).

11

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Antragsteller im vorliegenden Verfahren einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft dargetan.

12

Gemäß § 21 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Nach Satz 2 der Regelung soll dann die Vorschrift des § 45 SGB II Anwendung finden, wenn über die Zuständigkeit zwischen den jeweiligen Leistungsträgern unterschiedliche Auffassungen bestehen. Die zuletzt genannte Regelung legt die Annahme nahe, dass in einem derartigen Fall nicht nur die gemeinsame Einigungsstelle nach § 45 SGB II entscheiden soll, sondern dass dann ebenfalls nach § 44 a Satz 3 SGB II bis zur Entscheidung der Einigungsstelle die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende von der Arbeitsgemeinschaft erbracht werden sollen. Zutreffend geht im vorliegenden Falle die im Auftrage des Antragsgegners handelnde Gemeinde davon aus, dass es allein Sache der Agentur für Arbeit bzw. der für sie handelnden Arbeitsgemeinschaft ist, die Feststellung zu treffen, ob der betreffende Arbeitssuchende erwerbsfähig ist. Dies ergibt sich eindeutig aus § 44 a Satz 1 SGB II. Entgegen der Ansicht des Antragstellers kommt es auch nicht darauf an, dass er möglicherweise erst durch die Ergebnisse der Eingliederungshilfe, die ihm in der Vergangenheit bislang gewährt wurde und voraussichtlich weiter gewährt werden wird, in der Lage sein wird, konkret auf dem Arbeitsmarkt eine mögliche (ggfs. zeitlich eingeschränkte) berufliche Tätigkeit zu finden. Denn für die Frage der Erwerbsfähigkeit ist allein, wie sich aus § 8 Abs. 1 SGB II ergibt, entscheidend das individuelle gesundheitliche bzw. behinderungsbedingte Leistungsvermögen. Andere Umstände als Krankheit oder Behinderung sind für die Frage der Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 1 SGB II grundsätzlich unbeachtlich. Dass die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II auch durchaus Eingliederungshilfeleistungen mit umfassen kann, wird durch die Regelung in § 1 Abs. 2 Nr. 1 SGB II deutlich: Dort ist nämlich ausdrücklich festgehalten, dass die Grundsicherung auch Leistungen der Eingliederung in Arbeit mit umfasst. Auch werden ausdrücklich in § 1 Abs. 1 Satz 4 Ziffer 5 SGB II die behindertenspezifischen Nachteile angesprochen, die durch die Leistungen der Grundsicherung mit überwunden werden sollen. Mithin überzeugt das Argument des Antragstellers, erst nach Durchführung der Eingliederungshilfe sei bei ihm eventuell eine Erwerbsfähigkeit im Sinne des SGB II gegeben, das Gericht nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob der gegenwärtige Gesamtzustand des Antragstellers die Annahme rechtfertigt, er sei unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes im Stande, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dass diese Frage im Hinblick auf die zahlreichen langandauernden Behinderungen des Antragstellers schwierig zu beantworten ist, liegt auf der Hand. Jedenfalls kann nicht ohne Weiteres im Rahmen eines Verfahrens zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes diese Frage mit der hinreichenden Sicherheit beantwortet werden. Deshalb beinhaltet gerade das in den § 44 a SGB II vorgesehene Verfahren für derartige Zweifelsfälle eine Regelung, die für den Hilfe Suchenden bis zur Entscheidung der Einigungsstelle seine Grundsicherung sicherstellt.

13

Hinzu kommt im vorliegenden Falle, dass die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, wie sie in den §§ 53 ff. SGB XII angesprochen ist, durchaus auch die Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule vorsieht (vgl. § 54 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII). Damit wird deutlich, dass der Hochschulbesuch des Antragstellers, der gegenwärtig aus Mitteln der Eingliederungshilfe gefördert wird, nicht auf seine Fähigkeiten, an der Gesellschaft teilzuhaben, abzielt, sondern eine Stärkung der Erwerbsfähigkeit beabsichtigt. Denn ein Hochschulbesuch ist kein Wert an sich, sondern soll Qualifikationen für eine spätere berufliche Tätigkeit vermitteln. Vor diesem Hintergrund erscheint es dem Gericht gerade wegen der Anforderungen in geistiger und körperlicher Hinsicht, die ein Hochschulstudium stellt, durchaus als denkbar, dass der Antragsteller zum Kreis derjenigen Personen gehört, die über eine Leistungsfähigkeit verfügen, dass sie unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein können. Letztlich muss diese Frage aber in dem dafür vorgesehenen Verwaltungs- und ggfs. in einem späteren Hauptsacheverfahren entschieden werden. Die in Anbetracht der Leiden des Antragstellers vielschichtigen und komplexen Fragestellungen, die mit seiner Behinderung und dem daraus sich ergebenden Umfang einer Erwerbsfähigkeit oder -unfähigkeit ergeben, können nicht mit der hinreichenden Gewissheit in einem Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes geklärt werden.

14

Über die außergerichtlichen Kosten war gemäß § 193 SGG analog zu entscheiden. Nach Ansicht des Gerichts entspricht das der Billigkeit, dass die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten haben. Die Entscheidung über die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens beruht auf § 183 Satz 1 SGG.

Wündrich