Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 19.12.2005, Az.: S 2 SO 256/05 ER
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 19.12.2005
- Aktenzeichen
- S 2 SO 256/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 42750
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOLDBG:2005:1219.S2SO256.05ER.0A
Fundstelle
- ZfF 2007, 17-18
In dem Rechtsstreit
...
wegen Sozialhilfe (hier: örtliche Zuständigkeit für Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe)
hatte das Sozialgericht Oldenburg - 2. Kammer -
am 19. Dezember 2005
durch den Richter am Verwaltungsgericht Wündrich als Vorsitzenden ohne mündliche Verhandlung beschlossen:
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig dem Antragsteller Leistungen der Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe dem Grunde nach zu gewähren.
Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers sind von der Antragsgegnerin zu erstatten.
GRÜNDE:
I.
Die Beteiligten streiten darum, ob die Antragsgegnerin örtlich für das Hilfebegehren des Antragstellers zuständig ist.
Der im April E. geborene, ledige Antragsteller lebte bei seinen Eltern in F., wo er auch mit erstem Wohnsitz gemeldet war und ist. Seit dem August 2001 studierte der Antragsteller in G., wo er sich mit zweitem Wohnsitz anmeldete. Er lebte von Unterhaltsleistungen seiner Eltern. Am 11. März 2005 erlitt der Antragsteller im Ausland einen Unfall, der zu einer inkompletten Tetraplegie ab C 6 mit Blasen- und Mastdarmlähmung führte und durch den er nunmehr auf die Nutzung eines Rollstuhl angewiesen ist, wobei seine Hände funktional eingeschränkt sind. Intellektuell und mental unterliegt der Antragsteller keinen Einschränkungen; er ist auf Hilfe bei der Körperpflege und der Mobilität außerhalb der Wohnung angewiesen. Zur Zeit hält sich der Antragsteller noch in einem Krankenhaus bzw. einer Rehabilitationseinrichtung auf.
Mit Antrag vom 05. Juli 2005 wandte sich der Antragsteller vertreten durch seinen vom Amtsgericht F. bestimmten Betreuer an die Antragsgegnerin mit dem Begehren, dem Grunde nach Leistungen der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe zuzusagen. Denn in einer von den Eltern des Antragstellers angemieteten Wohnung ist beabsichtigt, dass dort Pflegeleistungen im Umfang von etwa 4,5 Stunden und Eingliederungshilfeleistungen im Umfang von etwa 3 Stunden täglich durch einen ambulanten Pflegedienst erbracht werden sollen. Mit Schreiben vom 20. Juli 2005 gab die Antragsgegnerin den Antrag an die Stadt G. ab und wies zur Begründung darauf hin, dass gemäß § 98 Abs. 5 SGB XII bei Hilfe in Form einer ambulanten betreuten Wohnmöglichkeit derjenige Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig sei, in dessen Bereich der Hilfesuchende sich vor Eintritt in diese Wohnform tatsächlich aufgehalten habe. Mit Bescheid vom 08. September 2005 lehnte es die Stadt G. ab, dem Antragsteller Hilfeleistungen zu erbringen. Zur Begründung führte sie aus, dass es sich um einen Fall der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe handele, für den die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin gegeben sei. Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller Widerspruch ein, über den - soweit ersichtlich - bislang noch nicht entschieden worden ist.
Mit den Schreiben vom 21. September und 06. Oktober 2005 wandte sich der Antragsteller erneut an die Antragsgegnerin und verlangte wenigstens den vorläufigen Eintritt in Hilfeleistungen.
Am 24. Oktober 2005 hat sich der Antragsteller an das Sozialgericht Oldenburg mit der Bitte um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewandt. Er macht geltend: Zu Unrecht meine die Antragsgegnerin, dass bei ihm ein Fall des § 98 Abs. 5 SGB XII (ambulant betreutes Wohnen) gegeben sei. Zu Unrecht berufe sich auch die Antragsgegnerin auf eine rechtzeitige Abgabe der örtlichen Zuständigkeit an die Stadt G. nach § 14 SGB IX. Denn jedenfalls sei die Antragsgegnerin als der zuerst angegangene Leistungsträger zur Erbringung vorläufiger Leistungen nach § 43 SGB I verpflichtet.
Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegengetreten und ist der Ansicht, dass mit Abgabe des Antrags von ihr an die Stadt G. diese gemäß § 14 SGB IX zuständig geworden sei, auch wenn sie in der Sache den Antrag mangels Zuständigkeit abgelehnt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
Gründe
II.
Der zulässige Antrag hat Erfolg.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sogenannte Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) und ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V. mit § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in einem Eilverfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen später nach einem Hauptsacheverfahren, dass zu Lasten des Antragstellers ausginge, nur unter sehr großen Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden könnten. Daher ist der vorläufige Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 m.w.N.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft dargetan.
Unstreitig ist beim Antragsteller ein soziahilferechtlicher Bedarf an Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe nach dem SGB XII gegeben. Dafür bestimmt § 98 Abs. 1 SGB XII hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit, dass derjenige Träger der Sozialhilfe für die Leistungen örtlich zuständig ist, wo sich der Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält bzw. wo er seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hatte. Nach den vorliegenden Unterlagen spricht gegenwärtig überwiegendes dafür, dass der Antragsteller als Student lediglich mit zweitem Wohnsitz in G. aufhältig war, so dass - trotz des Studiums - von einem tatsächlichen und gewöhnlichem Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin ausgegangen werden kann.
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist vorliegend auch kein Fall des § 98 Abs. 5 SGB XII gegeben. Nach dieser neu ins Gesetz eingeführten Vorschrift sollte eine gewisse Entlastung derjenigen örtlichen Träger der Sozialhilfe erfolgen, bei denen ambulante betreute Wohnmöglichkeiten im Sinne der Vorschrift geschaffen wurden. Denn sonst wären diejenigen Träger stärker belastet, so dass der Sinn der Regelung darin liegt, in derartigen Ausnahmefällen an die örtliche Zuständigkeit anzuknüpfen, wo sich der Hilfesuchende vor Eintritt in diese Wohnform aufgehalten hat. Indessen handelt es sich bei der für den Antragsteller angemieteten Wohnung und der dort für ihn durch einen ambulanten Betreuungsdienst vorgesehenen Hilfestellungen nicht um eine ambulante Wohnform im Sinne von § 98 Abs. 5 SGB XII. Denn der Begriff der dort im Gesetz angesprochen ist, orientiert sich an § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX und meint damit von freien Trägern organisierte ambulante Wohnformen. Hier hat der Antragsteller gerade von sich aus und nur für sich selbst eine Wohnung organisiert, in der er dann ambulante Hilfen in Anspruch nehmen will. Das ist aber keine ambulante betreute Wohnmöglichkeit für behinderte Personen, wie es die Vorschrift meint.
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin kann auch nicht davon ausgegangen werden, sie habe ihre örtliche Zuständigkeit mit der Weiterleitung des Antrages an die Stadt G. abschließend ausgeschlossen. Zwar ist es richtig, dass eigentlich § 14 SGB IX als speziellere Regelung vor § 43 SGB I zur Anwendung kommen soll. Beruht aber gerade der Streit über die örtliche Zuständigkeit darauf, dass beide Träger - hier die zuerst angegangene Antragsgegnerin und dann die als zweiten Rehabilitationsträger angesprochene Stadt G. - ihre örtliche Zuständigkeit bestreiten, so ist im Interesse des jeweiligen Hilfesuchenden § 43 SGB I nach wie vor anwendbar, da regelmäßig der zuerst angegangene Rehabilitationsträger wegen der Ortsnähe über ausreichende Erkenntnisse hinsichtlich des Betreuungs- und Pflegebedarfes verfügt und weitere Auseinandersetzungen um die örtliche Zuständigkeit zu einer unzumutbaren Verzögerung der Leistung führen würden (vgl. auch VG Braunschweig, Beschl. vom 12. Juni 2003 - 3 B 268/03 - BehindR 2003, 190; OVG Lüneburg FEVS 55, 384). Das Verfahren der Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX will zwar gerade sehr schnell eine Klärung der örtlichen Zuständigkeit erreichen, enthält aber keine abschließende Regelung für den Fall, dass beide angegangenen Träger ihre örtliche Zuständigkeit bestreiten. Daher muss insoweit auf die Regelung über die vorläufigen Leistungen nach § 43 SGB I zurückgegriffen werden.
Ist nach alledem jedenfalls eine vorläufige Pflicht der Antragsgegnerin zur Leistung von Sozialhilfe gegeben, so liegt gleichfalls ein Anordnungsgrund vor. Denn der Antragsteller soll alsbald aus der Rehabilitationseinrichtung entlassen werden, so dass unmittelbar bevorstehend sein Bedarf an Pflege- und Eingliederungsleistungen gedeckt werden muss.
Das Gericht hat von einer Beiladung der Stadt G. im vorliegenden Eilverfahren abgesehen, weil dies zu einer Verzögerung der Entscheidung des Rechtsstreits führen würde und zudem im Ergebnis das Gericht der Ansicht der sonst beizuladenden Stadt G. gefolgt ist.
Über die außergerichtlichen Kosten war nach § 193 SGG zu entscheiden. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für erstattungsfähig zu erklären, weil er mit seinem Begehren durchgedrungen ist. Für den Antragsteller ist das Verfahren gemäß § 183 Satz 1 SGG gerichtskostenfrei. Für das Begehren, ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren, ist ein Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr gegeben, weil nach dem Tenor der vorliegenden Entscheidung der Antragsteller nicht mit außergerichtlichen Kosten oder Gerichtskosten belastet wird.