Sozialgericht Oldenburg
Beschl. v. 02.06.2005, Az.: S 47 AS 169/05 ER
Anforderungen an die Ermittlung der tatsächlichen Unterkunftskosten und diesbezügliche Tragweite des Amtsermittlungsgrundsatzes im sozialrechtlichen Verfahren; Kriterien für die Berechnung angemessener Unterkunftskosten und diesbezügliche Berücksichtigung längerer Mietverträge; Zusammenhang zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund im sozialgerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 02.06.2005
- Aktenzeichen
- S 47 AS 169/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 33736
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOLDBG:2005:0602.S47AS169.05ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs. 1 SGB II
- § 20 SGB X
- § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG
Verfahrensgegenstand
Grundsicherung für Arbeitssuchende,
hier: Kosten der Unterkunft
In dem Rechtsstreit
hat das Sozialgericht Oldenburg - 47. Kammer -
am 2. Juni 2005
durch
den Richter am Verwaltungsgericht Wündrich als Vorsitzenden
ohne mündliche Verhandlung
beschlossen:
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, einstweilen der Antragstellerin ab dem 01. April 2005 bis zum 30. September 2005 über die bereits mit Bescheid vom 15. März 2005 gewährten Leistungen hinaus monatlich jeweils 20,37 EUR zu gewähren.
Die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin sind vom Antragsgegner zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt von dem Antragsgegner die Übernahme ihrer tatsächlichen Unterkunftskosten, die dieser nach Ablauf von drei Monaten auf einen seiner Meinung nach angemessenen Anteil begrenzt hat.
Die im D. geborene Antragstellerin bezog bis zum Ende des Jahres 2004 Arbeitslosengeld und geht seit längerem einer kleineren Erwerbstätigkeit nach. Sie ist seit dem 01. Oktober 1985 Mieterin einer 66,9 m2 großen Wohnung, die über zwei Zimmer, Küche und Bad verfügt und die im Jahre 1975 bezugsfertig wurde. Die tatsächliche Miete beträgt 214,46 EUR und die Nebenkosten 63,91 EUR monatlich. An Heizkosten fallen monatlich 59,93 EUR an.
Auf den Antrag der Antragstellerin vom 27. September 2004, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren, bewilligte der Antragsgegner zunächst mit Bescheid vom 29. November 2004 der Antragstellerin monatliche Leistungen in Höhe von 642,40 EUR. Dabei ging der Antragsgegner in der dem Bescheid beigefügten Berechnung von Kosten der Unterkunft einschließlich Heizung in Höhe von 338,30 EUR monatlich aus. Mit Schreiben vom 16. Dezember 2004 wies der Antragsgegner die Antragstellerin jedoch darauf hin, dass nach seiner Ansicht die Kosten der Unterkunft unangemessen hoch seien. Die Antragstellerin wurde aufgefordert, sich eine preisgünstigere Unterkunft bis zur Mietobergrenze von 258,00 EUR monatlich (ohne Heizungskosten) zu suchen, und es wurde angekündigt, ab dem 1. April 2005 nur noch abgesenkte Unterkunftskosten als Bedarf anzuerkennen.
Mit Widerspruch vom 21. Dezember 2004 wandte sich die Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29. November 2004 und rügte vor allem, dass es an einer nachvollziehbaren Begründung für die konkrete Höhe der gewährten Leistungen fehle. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. März 2005 wies der Antragsgegner den Widerspruch als unbegründet zurück und führte dabei u.a. aus, dass bei den Kosten der Unterkunft für den Bewilligungszeitraum Januar bis einschließlich März 2005 von Kosten der Unterkunft in Höhe von 338,30 EUR einschließlich Heizungskosten ausgegangen worden sei. Die Kosten für die Anmietung einer Garage und für die Warmwasserbereitung könnten nicht extra als Kosten der Unterkunft übernommen werden, da eine Garage nicht notwendig und der Warmwasseranteil bereits im Regelsatz enthalten sei. Dagegen hat die Antragstellerin am 6. April 2005 Klage zum erkennenden Gericht erhoben, über die noch nicht entschieden wurde (Az. S 47 AS 170/05).
Mit Bescheid vom 15. März 2005 gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin für den Bewilligungszeitraum 1. April bis 30. September 2005 monatlich Leistungen in Höhe von 613,10 EUR. Dabei berücksichtigte der Antragsgegner lediglich Kosten der Unterkunft einschließlich Heizung in Höhe von 309,00 EUR. Zugleich lehnte es der Antragsgegner mit Bescheid vom 17. März 2005 ab, die vollen Kosten der Unterkunft bei der weiteren Leistungsgewährung ab dem 1. April 2005 zu berücksichtigen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Antragstellerin es ausführlich begründen müsse, warum sie länger auf die Übernahme der unangmessenen Unterkunftskosten angewiesen sei. Dagegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 6. April 2005 Widerspruch ein, über den - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden wurde.
Am 6. April 2005 hat sich die Antragstellerin an das Gericht mit der Bitte um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewandt. Sie macht geltend, dass sie nach § 22 Abs. 1 SGB II einen Anspruch auf Übernahme ihrer tatsächlichen Unterkunftskosten mindestens für die Zeit von sechs Monaten habe. Da sie wegen ihres Mietvertrages eine längere Kündigungsfrist habe, müssten mindestens bis zum Ablauf des Bewilligungszeitraumes die tatsächlichen Unterkunftskosten in Ansatz gebracht werden.
Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten und hat während des Verfahrens die Antragstellerin aufgefordert, eine Kopie ihres Mietvertrages vorzulegen, was diese mit Schriftsatz vom 9. Mai 2005 gemacht hat.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Gerichtsakte des genannten Klageverfahrens und der dort beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
Der zulässige Antrag hat Erfolg.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (so genannte Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) und ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. mit § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in einem Eilverfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen später nach einem Hauptsacheverfahren, dass zu Lasten der Antragstellerin ausginge, nur unter sehr großen Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden könnten. Daher ist der vorläufige Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zur deren Beseitigung eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88] m.w.N.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hatte die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft dargetan.
Der Anordnungsanspruch der Antragstellerin ergibt sich aus § 22 Abs. 1 SGB II. Danach werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Soweit die Aufwendungen den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf des Hilfebedürftigen so lange zu berücksichtigen, wie es ihm nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II).
Im vorliegenden Falle wurde die alleinstehende Antragstellerin, die bislang Arbeitslosenhilfe bezog, erstmals mit Schreiben des Antragsgegners vom 16. Dezember 2004 mit der Tatsache konfrontiert, dass ihre Unterkunftskosten im Sinne des SGB II zu hoch und damit nicht angemessen seien. Da sie jedoch aufgrund ihres Mietvertrages und der langjährigen Anmietung der Wohnung über eine Kündigungsfrist von 12 Monaten verfügt - seit Überlassung des Wohnraumes sind mehr als zehn Jahre vergangen - hat sie einen Anspruch darauf, dass ihr von Erhalt der Entscheidung des Gerichts an für die Dauer von 12 Monaten und - selbstverständlich - für den vorherigen Zeitraum ab dem 1. April 2005 die vollen Kosten der Unterkunft auf der Bedarfsseite berücksichtigt werden. Denn der Antragsgegner hat unter Verstoß gegen das Amtsermittlungsprinzip von § 20 SGB X die Kosten der Unterkunft ohne weitere Begründung gesenkt, ohne den Inhalt des Mietvertrages und die laufenden Kündigungsfristen zu ermitteln. Bei der vorhandenen langen Kündigungsfrist ist daher eine Abweichung von der regelmäßigen Begrenzung der tatsächlichen, aber unangemessenen Unterkunftskosten auf die Dauer von sechs Monaten abzusehen. Hinzu kommt, dass der Antragsgegner nur allgemein und pauschal auf die Unangemessenheit der Unterkunftskosten verwiesen hat, ohne konkrete Gesichtspunkte dafür darzulegen, es sei tatsächlich der Antragstellerin innerhalb kurzer Zeit möglich, ihre Unterkunftskosten wirksam zu senken.
Soweit die Antragstellerin ein Anordnungsanspruch dargetan hat, besteht zugleich ein Anordnungsgrund. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners würde es nämlich einen schwer wiegenden und nach Ablaub der betreffenden Zeit nur sehr schlecht wieder gutzumachenden Nachteil darstellen, wenn die Antragstellerin gezwungen wäre, ab dem April bis zum September 2005 monatlich auf ihr zustehende Leistungen in Höhe von über 20,00 EUR verzichten zu müssen. Denn auch bei einer späteren Nachzahlung - ein erfolgreich verlaufendes Hauptsacheverfahren unterstellt - wäre gleichwohl die Gefahr gegeben, dass sie wegen etwaiger unvollständiger Mietzahlungen mit einem Räumungsprozess überzogen würde.
Über die außergerichtlichen Kosten war gemäß § 193 SGG analog zu entscheiden. Es entspricht nach Ansicht des Gerichts der Billigkeit, wegen des Erfolgs der Antragstellerin in der Sache ihre außergerichtlichen Kosten für erstattungsfähig zu erklären. Für die Antragstellerin ist das Verfahren gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 SGG gerichtskostenfrei.