Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 06.02.1996, Az.: 5 U 134/95
Gewährung des Einblicks in Krankenunterlagen für einen Sachverständigen vor Einholung eines Gutachtens; Anspruch auf Schmerzensgeld wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers und Verletzung der Aufklärungspflichten eines Arztes; Einholung der Dokumentation eines Kranken vor der Erstellung eines Sachverständigengutachtens; Vermeidbarkeit eines Behandlungsfehlers durch vorherige Auswertung von Krankenunterlagen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 06.02.1996
- Aktenzeichen
- 5 U 134/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 21021
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1996:0206.5U134.95.0A
Rechtsgrundlagen
- § 142 ZPO
- § 144 Abs. 1 ZPO
Fundstelle
- NJW-RR 1997, 535 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Vor Einholung eines Gutachtens sind dem Sachverständigen zweckmäßigerweise in aller Regel die Krankenunterlagen zugänglich zu machen.
Tatbestand
Der Kläger nimmt den Beklagten wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers und Verletzung der Aufklärungspflicht auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Anspruch.
Wegen des Sach- und Streitstandes im ersten Rechtszug wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils, durch das das Landgericht die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen hat, Bezug genommen.
Gegen das Urteil des Landgerichts richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seinen erstinstanzlichen Antrag weiterverfolgt.
Der Kläger bemängelt, dass das vom Landgericht eingeholte Gutachten des der Sachverständigen Professor Dr. ..., ohne die ärztliche Dokumentation erstattet worden sei und das Gericht dem Sachverständigen die für die Begutachtung unbedingt erforderlichen Krankenunterlagen trotz entsprechender Hinweise des Sachverständigen nicht zur Verfügung gestellt habe. Er vertritt die Auffassung, das Gericht hätte die Krankenunterlagen von Amts wegen beiziehen müssen, weil ohne diese Unterlagen eine sachverständige Begutachtung nicht möglich gewesen sei.
Außerdem müssten weitere Umstände berücksichtigt werden, die noch keinen Eingang in das Gutachten gefunden hätten.
...
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers führt in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
Das Landgericht hätte das ohne Beiziehung der Krankenunterlagen erstattete Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. ...vom 2O. April 1995 nicht zur Grundlage seines Urteils machen dürfen, da sich aus dem Gutachten deutlich ergibt, dass dem Sachverständigen eine abschließende Beurteilung ohne diese Unterlagen nicht möglich ist.
Es kann dahingestellt bleiben, in welchen Fällen das Gericht von Amts wegen die Krankenunterlagen beizuziehen hat (keine generelle Verpflichtung, vgl. Urt. des Senats v. 23.5.19995 - 5 U 2O/95 zur Veröffentlichung vorgesehen). Denn das Gericht musste dies zumindest in diesem Fall tun, da der Sachvortrag der Parteien dem Gericht schlüssig erschien und ihm Veranlassung zur Einholung eines Gutachtens gab, für das der Sachverständige Anknüpfungstatsachen benötigte, die das Gericht im Rahmen der gebotenen Sachverhaltsaufklärung bei pflichtgemäßer Ermessensausübung dem Sachverständigen vorgeben kann. Das Gericht hätte spätestens nach Eingang des Gutachtens von sich aus darauf hinwirken müssen, dass die Parteien die Krankenunterlagen vorlegen, und hätte sie dann dem Sachverständigen zur Auswertung und zur Berücksichtigung im Rahmen einer ergänzenden Begutachtung zur Verfügung stellen müssen. Das Gericht kann nach § 142 ZPO anordnen, dass die Parteien Urkunden, auf die sie sich - wie hier - bezogen haben, vorlegen. Zu den Urkunden gehören auch Krankenunterlagen einschließlich der Röntgenaufnahmen. Das Gericht kann ferner von Amts wegen einen Augenschein einnehmen (§ 144 Abs. 1 ZPO) oder - wenn hierfür besondere Sachkunde erforderlich ist - durch einen Sachverständigen vornehmen lassen (vgl. dazu Zöller-Greger, ZPO, 16. Aufl., Rdz. 5 zu § 4O2). Von diesen Möglichkeiten hätte das Landgericht bei Ausübung pflichtgemäßen Ermessens in diesem Fall Gebrauch machen müssen. Der Verstoß des Gerichts gegen diese Pflichten stellt ebenso wie ein Verstoß gegen § 139 ZPO oder gegen die Pflicht, den Sachverständigen bei Unklarheiten des Gutachtens unter Umständen auch von Amts wegen mündlich anzuhören, einen Verfahrensmangel dar.
Wenn das Gericht die Erhebung von Sachverständigenbeweis beschließt, werden die Krankenunterlagen im Arzthaftungsprozess in aller Regel zweckmäßigerweise vor der Einholung eines Sachverständigengutachtens beizuziehen und dem Sachverständigen zu übersenden sein, weil ohne sie eine sinnvolle Begutachtung im Allgemeinen nicht möglich ist (vgl. auch Franzki, Der Arzthaftungsprozess, Seite 37).
Wenn die Kammer die Krankenunterlagen aber nicht schon vor Einholung des Sachverständigengutachtens beizog, hätte sie spätestens nach Eingang des Gutachtens allen Anlass gehabt, sie nachträglich beizuziehen und den Sachverständigen um Erstattung eines ergänzenden Gutachtens zu bitten. Denn aus seinem Gutachten geht deutlich hervor, dass er diese Unterlagen benötigte.
Dem Sachverständigen fehlte die Krankendokumentation schon für die Beantwortung der Frage, ob der Beklagte bei der Operation einen Nerv beschädigt hat (vgl. Seite 4 oben des Gutachtens). Der Sachverständige hat ausdrücklich hervorgehoben, dass "nach Aktenlage" eine Beschädigung des Nervs weder ausgeschlossen noch bestätigt werden kann (vgl. Seite 4 des vorgenannten Gutachtens a.E.). Noch deutlicher wird der Mangel, dass die Dokumentation nicht vorgelegen hat, bei der Beantwortung der Beweisfragen 5 und 6. Ohne die Röntgenbilder lässt sich das präoperative Ausmaß der Kieferzyste nicht beurteilen, wie der Sachverständige in nicht misszuverstehender Weise hervorhebt (Seite 6 unten des Gutachtens). Auch die anschließende sachverständige Beurteilung, dass die Entfernung von Weißheitszähnen und Kieferzysten "im Allgemeinen" als "Wahleingriff" gilt, muss zwangsläufig ohne die Dokumentation pauschal und ohne konkreten Bezug zum vorliegenden Sachverhalt bleiben. Zur Frage, ob der Nerv schon vorgeschädigt war, benötigte der Sachverständige ebenfalls die Dokumentation. Daran lässt sein Gutachten keinen Zweifel (S. 7 des Gutachtens).
Auch für die Frage, ob die Aufklärungspflicht gegenüber dem Patienten verletzt ist, hat die vor der Operation gegebene konkrete Situation ausschlaggebende Bedeutung. Ob die Operation ärztlich indiziert war und ob der Kläger einen Entscheidungskonflikt nachvollziehbar darlegen kann, wird sich erst nach sachverständiger Auswertung der Krankenunterlagen, denen möglicherweise Genaueres über den präoperativen Zustand zu entnehmen ist, beurteilen lassen.
Da das Verfahren des ersten Rechtszuges an einem wesentlichen Mangel leidet, ist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 539 ZPO). Es erscheint nicht sachdienlich, dass der Senat nach § 54O ZPO in der Sache selbst entscheidet, da eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich sein wird, deren Ausmaß noch nicht im Einzelnen abzusehen ist.
Es ist auf jeden Fall, wie bereits dargelegt, eine weitere Aufklärung durch Einholung eines ergänzenden Sachverständigengutachtens erforderlich, das nach Beiziehung der ärztlichen Dokumentation einschließlich der Röntgenaufnahmen, des Operationsberichts und der Überweisungsschreiben zu erstatten ist. Nach Eingang der ärztlichen Dokumentation wird - evtl. nach Rücksprache mit dem Sachverständigen - zu entscheiden sein, ob auch die Vernehmung der im Berufungsrechtszug benannten Zeugen zu den behaupteten Kopfschmerzen und zu der oralen Inkontinenz sowie eine Begutachtung nach körperlicher Untersuchung des Klägers erforderlich ist.
Falls nach Einholung des ergänzenden Gutachtens die Frage der Aufklärungspflichtverletzung entscheidungserheblich werden sollte, spricht viel dafür, dass der Kläger zum Entscheidungskonflikt persönlich angehört werden muss. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Patient zum Entscheidungskonflikt in aller Regel persönlich anzuhören (vgl. BGH NJW 199O, 2928 = VersR. 199O, 1238).
Nach alledem war die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
Das Landgericht hat auch über die Kosten des zweiten Rechtszuges zu entscheiden, da noch nicht abzusehen ist, welchen Erfolg die Berufung im Ergebnis haben wird.