Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 20.02.1996, Az.: 5 U 146/95
Beweislastumkehr wegen fundamentalen Diagnoseirrtum in Verbindung mit der unterlassenen Befunderhebung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 20.02.1996
- Aktenzeichen
- 5 U 146/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 21086
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1996:0220.5U146.95.0A
Fundstelle
- NJW-RR 1997, 1117-1118 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Symptome einer Meningitis erfordern eine sofortige Krankenhauseinweisung Das Unterlassen stellt einen fundamentalen Diagnoseirrtum und groben Behandlungsfehler dar.
Tatbestand
Die am 23. Juli 1987 geborene Klägerin wurde am 3. Februar 1989, einem Freitag, im Alter von etwa 1 1/2 Jahren wegen einer Entzündung am Auge von ihren Eltern dem Beklagten zu 3), dem Kinderarzt der Klägerin, vorgestellt. Der Beklagte zu 3) diagnostizierte eine eitrige Konjunktivitis und verschrieb Augentropfen. Nachdem sich bei der Klägerin hohes Fieber bis zu 40 Grad eingestellt hatte, suchten die Eltern mit der Klägerin am 4.Februar 1989, einem Samstag, um 11.35 Uhr die Notfallambulanz des Kinderkrankenhauses der Beklagten zu 2) auf. Dort wurde die Klägerin von dem Beklagten zu 1) untersucht. Dieser stellte eine Rötung und Schwellung des linken Auges fest und hielt zu einem späteren Zeitpunkt, nach Abschluss der stationären Behandlung, im Ambulanzblatt weiter fest: "Kein Meningismus". Die Diagnose des Beklagten zu 1) lautete auf Konjunktivitis bei fieberhaftem Infekt. Neben den bereits vom Beklagten zu 3) verordneten Augentropfen wurden Fieberzäpfchen gegeben. Eine stationäre Behandlung hielt der Beklagte zu 1) nicht für erforderlich. Am darauf folgenden Sonntag, dem 5. Februar, suchten die Eltern der Klägerin gegen 11.30 Uhr mit dem Kind den kinderärztlichen Notdienst beim Beklagten zu 5) auf. Zu dieser Zeit hatte die Klägerin Fieber von 39 / 40 Grad und litt unter Erbrechen und einem Lidödem. Den Allgemeinzustand der Klägerin bezeichnete der Beklagte zu 5) mit ausreichend. Als Diagnose gab er einen grippalen Infekt an. Zur Unterstützung der bisherigen Behandlung wurden von dem Beklagten zu 5) noch Nasentropfen verordnet. Am 6. Februar (Montag) suchten die Klägerin und ihre Eltern gegen 19.00 Uhr erneut den Beklagten zu 3) auf. Hierbei war die Beklagte zu 4), die Ehefrau des Beklagten zu 3), die jedoch nicht Ärztin ist, zugegen.
Es wurde weiterhin hohes Fieber und nunmehr auch eine Ataxie (Torkeligkeit) festgestellt. Der Beklagte zu 3) beschrieb die Klägerin noch als bewusstseinsklar. Nach etwa einstündiger Beratung kehrten die Eltern mit der Klägerin nach Hause zurück.
In der Nacht zum 7. Februar 1989 trat eine weitere Verschlechterung im Zustand der Klägerin auf. Die Eltern suchten mit dem Kind am Vormittag des 7. Februar 1989 den Beklagten zu 3) erneut auf.
Wegen konjunktivaler Einblutungen wurde die Klägerin zunächst dem Augenarzt vorgestellt, der eine Stauungspapille ausschloss. Bei dem Beklagten zu 3) wurde ferner eine Blutuntersuchung durchgeführt.
Noch am Vormittag veranlasste der Beklagte zu 3) die umgehende stationäre Aufnahme der Klägerin im Krankenhaus der Beklagten zu 2), und zwar mit dem Verdacht auf bakterielle Meningitis. Die Klägerin wurde, nachdem sich der Verdacht auf Meningitis bestätigt hatte, bis zum 22. Februar 1989 stationär im Krankenhaus der Beklagten zu 2) behandelt. Als Folge der aufgetretenen Meningitis leidet die Klägerin an einer hochgradigen Schwerhörigkeit.
Die Klägerin hat geltend gemacht, die Diagnose einer bakteriellen Meningitis hätte auf Grund der klinischen Symptome wie insbesondere der bei der Klägerin auffälligen Torkeligkeit und des Erbrechens, Symptome, die den Ärzten mitgeteilt worden seien, wesentlich früher gestellt werden müssen. Da sich diese Symptome später noch verstärkt hätten, habe insbesondere für die Beklagten zu 3) bis 5) Veranlassung bestanden, die Verdachtsdiagnose einer Meningitis zu stellen und weiter gehende Untersuchungen zu veranlassen. Weil die Behandlung verspätet eingeleitet worden sei, habe die Meningitis zu einem Hörverlust bei der Klägerin geführt. Sie sei nunmehr zu 70 % schwerbehindert. Auch weitere Spätfolgen seien nicht auszuschließen.
...
Das Landgericht hat ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. ... eingeholt, das mündlich erläutert worden ist.
Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt.
...
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, hat in der Sache selbst jedoch keinen Erfolg.
Das Landgericht hat mit zutreffender Begründung die Klage abgewiesen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Beklagten Behandlungsfehler begangen haben, die für den Gesundheitsschaden der Klägerin ursächlich geworden sind.
Für die Zeit bis einschließlich 5. Februar 1989 lassen sich Behandlungsfehler der beklagten Ärzte schon deshalb nicht feststellen, weil bis dahin typische Symptome, die auf den Verdacht einer Meningitis hinwiesen, für sie nicht zu Tage getreten sind.
Es ist zu Lasten der Klägerin, die insoweit die Beweislast trägt, davon auszugehen, dass spezifische Symptome für eine Meningitis den beklagten Ärzten weder von den Eltern mitgeteilt worden sind noch dass die Ärzte solche Anzeichen von sich aus hätten feststellen können und müssen.
Die Eltern der Klägerin haben im Laufe des Prozesses ihren Vortrag dahin ergänzt, dass bei der Klägerin schon frühzeitig Torkeligkeit und Nüchternerbrechen vorgelegen habe und sie den Ärzten dies auch mitgeteilt hätten. Sämtliche Beklagten bestreiten dies. Aufgrund des widersprechenden Parteivortrags ist völlig offen, welche Darstellung zutreffend ist. Es besteht deshalb auch keine Veranlassung, eine Parteivernehmung der gesetzlichen Vertreter der Klägerin durchzuführen, weil nicht bereits einiger Beweis zu ihren Gunsten erbracht ist, wie die Vorschrift des § 448 ZPO voraussetzt.
dass die Klägerin den ihr obliegenden Beweis für die Voraussetzungen eines arztfehlerhaften Verhaltens für die Zeit bis zum 5. Februar 1989 nicht geführt hat, geht zu ihren Lasten. Entgegen ihrer Auffassung kommen ihr keine Beweiserleichterungen zugute. Wenn Torkeligkeit und Nüchternerbrechen weder von den Eltern berichtet worden ist noch für die beklagten Ärzte feststellbar war, brauchte hierüber auch nichts dokumentiert zu werden. Dokumentationsversäumnisse der beklagten Ärzte liegen insoweit nicht vor.
Da auch im Übrigen keine spezifischen Hinweise für eine Meningitis vorlagen, bestand für die beklagten Ärzte bis zum 5. Februar 1989 auch keine Veranlassung, weitere Untersuchungen vorzunehmen und Befunde zu sichern. Insbesondere bestand kein Anlass für die Durchführung einer Lumbalpunktion.
Anders stellte sich die Situation am 6. Februar 1989 dar. An diesem Tag suchten die Eltern der Klägerin den Beklagten zu 3) gegen Ende oder nach seiner Sprechstunde nachmittags auf. Zu diesem Zeitpunkt lagen deutliche Hinweise für eine Meningitis vor. Wenn der Beklagte zu 3) gleichwohl immer noch nicht die Verdachtsdiagnose einer Meningitis gestellt hat, ist ihm ein fundamentaler Diagnoseirrtum unterlaufen, wie bereits das Landgericht zutreffend ausgeführt hat. Der Sachverständige Prof. Dr. ... hat in seinem schriftlichen Gutachten dargestellt, dass bei dem kleinen Kind, nachdem es bereits über 3 Tage hoch fieberte und dann auch neurologische Symptome aufwies, von einer schweren Allgemeinerkrankung ausgegangen werden musste, die dringlich eine Krankenhauseinweisung erforderlich machte. Der Beklagte zu 3) hatte bei der Klägerin eine Störung des Gleichgewichtssinnes festgestellt. Laut Krankenblatt bestand "kein Gleichgewicht im Sitzen und Stehen, Ataxie, taumelig, kann nicht sitzen". Daraufhin musste auf jeden Fall die Verdachtsdiagnose einer Meningitis gestellt werden. Wie der Sachverständige bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens nochmals unmissverständlich klar gemacht hat, musste der Beklagte nunmehr "ohne Wenn und Aber" den Verdacht auf Meningitis haben.
Schon bei dieser erforderlichen Verdachtsdiagnose war eine Krankenhauseinweisung unbedingt zwingend erforderlich, da die Meningitis, wenn sie vorliegt, wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit sofort behandelt werden muss. Der sichere Nachweis einer Meningitis konnte dann nur durch Lumbalpunktion erbracht werden, die im Krankenhaus hätte durchgeführt werden müssen.
Da der Beklagte zu 3) die Verdachtsdiagnose einer Meningitis nicht stellte, obwohl sie sich auf Grund der spezifischen Symptome des bereits seit mehreren Tagen hoch fiebernden Kindes aufdrängte, ist nach sachverständiger Beratung von einem fundamentalen Diagnoseirrtum auszugehen. Hätte der Beklagte zu 3) die unbedingt erforderliche Verdachtsdiagnose gestellt, wäre eine sofortige Krankenhauseinweisung unerlässlich gewesen. Das Unterlassen dieser Maßnahme stellte dann einen groben Behandlungsfehler dar. Der Beklagte zu 3) kann sich nicht erfolgreich darauf berufen, die Eltern hätten sich nicht mit einer Krankenhauseinweisung einverstanden erklärt. Denn nach seiner Eintragung im Krankenblatt, wonach er trotz der erheblichen Symptome den erforderlichen Verdacht einer Meningitis gerade nicht hatte, konnte er die Eltern auch gar nicht unter Hinweis auf die Gefährlichkeit einer möglichen Meningitis sachgerecht über die Dringlichkeit der Maßnahme informieren. Auf die akuten und bedrohlichen Gefahren der möglichen Erkrankung, die schwer wiegende Dauerfolgen auslösen konnte, hätte er sie deutlich und konkret mit allem Nachdruck hinweisen und mit dieser Aufklärung die weitere eindeutige Erklärung verbinden müssen, dass er jegliche Verantwortung für die Folgen ablehne, wenn die Eltern das Kind nicht sofort in ein Krankenhaus bringen. Entsprechend konkrete Erklärungen hat der Beklagte zu 3) jedoch selbst nicht vorgetragen, sondern in seiner für die Schlichtungsstelle verfassten "Abschrift der Krankenakte" (unstreitig keine ganz buchstabengetreue Abschrift) sogar ausgeführt, dass er schließlich "zugestimmt habe", dass die Eltern das Kind zunächst nachts zu Hause beobachten.
Der fundamentale Diagnoseirrtum in Verbindung mit der unterlassenen Befunderhebung (hier konkret: Veranlassung einer Lumpalpunktion nach Überweisung in ein Krankenhaus) ist wegen der damit einhergehenden Aufklärungserschwernisse für den Patienten grundsätzlich geeignet, eine Beweislastumkehr herbeizuführen. Im Einzelnen wird nach der Rechtsprechung des BGH differenziert (vgl. dazu Nixdorf, VersR 1996, 160 mit Nachw. aus der Rspr. des BGH), Mängel bei der Befunderhebung und -sicherung vermögen Beweiserleichterungen für die Kausalität nur dann zu begründen, wenn sie die Aufklärung eines immerhin wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs zwischen ärztlichem Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden erschweren.
Sofern die Beweislastumkehr auf einen groben Behandlungsfehler gestützt wird, kann der Annahme der Kausalität entgegenstehen, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Schaden gänzlich unwahrscheinlich ist (BGH VersR 1989, 80). Im vorliegenden Fall kommt es auf diese Unterscheidung nicht an. Denn hier ist ein Ursachenzusammenhang zwischen der Versäumnis des Beklagten zu 3) und dem Hörschaden der Klägerin bereits gänzlich unwahrscheinlich, wie schon das Landgericht auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme ausgeführt hat. Das geht sowohl aus dem gerichtlichen Sachverständigengutachten von Dr. ... als auch aus dem im Schlichtungsverfahren erstatteten Gutachten von Prof. Dr. ...
hervor. Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (S. 7 letzter Absatz bis S. 9 oben UA) Bezug genommen. Der Senat hat keine Zweifel, dass das überzeugend begründete Gutachten des Sachverständigen zur Frage der Kausalität ganz herrschender Auffassung in der medizinischen Fachwelt entspricht. Die hiervon abweichenden Beobachtungen der Universitäts-Klinik sind nach Mitteilung des Sachverständigen wegen zu geringer Patientenzahlen nicht repräsentativ. Der Sachverständige hat die im Übrigen übereinstimmenden Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen mit einleuchtender Begründung darauf zurückgeführt, dass der Gleichgewichtssinn und das Gehör dicht nebeneinander liegen, so dass man davon ausgehen muss, dass eine Schädigung des Gleichgewichtsorgans zugleich immer schon eine Schädigung des Gehörs bewirkt hat. dass eine solche Schädigung bereits eingetreten war, würde nach der bestrittenen Behauptung der Klägerin sogar in ganz besonderem Maße wahrscheinlich sein, wenn zum Zeitpunkt der letzten Untersuchung durch den Beklagten zu 3) schon seit mehreren Tagen deutliche neurologische Ausfälle bestanden hätten. Es bestand für den Senat keine Veranlassung, zur Frage des Ursachenzusammenhangs ein weiteres Gutachten einzuholen, da der Sachverständige sein Gutachten auch in diesem Punkt überzeugend begründet und eine einleuchtende Erklärung für die abweichenden Ergebnisse der Berner Universitätskinderklinik abgegeben hat.
Ein Anspruch gegen die Beklagte zu 4) wegen fehlerhafter Behandlung besteht schon deshalb nicht, weil sie keine Ärztin ist und die Behandlung der Klägerin nicht übernommen hat. Sie war lediglich bei der Untersuchung durch den Beklagten zu 3) anwesend.
Danach stehen der Klägerin keine Schmerzensgeldansprüche zu. Auch der Feststellungsantrag ist unbegründet, da die nahe liegende Möglichkeit eines Eintritts von Schäden, die auf die Behandlung des Beklagten zu 3) zurückgeführt werden können, nicht dargetan ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die übrigen Nebenentscheidungen auf §§ 708 Nr. 10, 711, 546 Abs. 2 ZPO.