Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 11.06.2018, Az.: 6 A 7435/16
Al-Hashd al-Shaabi; Fatwa; Irak; Jaish al-Mahdi; JAM; Jaysh al-Mahdi; Jihad; Mahdi-Armee; Miliz; Muqtada al-Sadr; PMF; Popular Mobilization Front; Religion; Religiöse Verfolgung; Schiit; Stamm; Stammesrecht; Wasit; Zwangsrekrutierung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 11.06.2018
- Aktenzeichen
- 6 A 7435/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 73970
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3b Abs 1 Nr 2 AsylVfG
Tenor:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 15. November 2016 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
Der am 12. Juli 1986 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Er begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der Kläger reiste am 15. Dezember 2015 aus dem Irak aus und am 3. Januar 2016 auf dem Landweg über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ein. Dort stellte er bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag, den er in seiner Anhörung auf den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkte.
In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 4. Juli 2016 gab der Kläger an, er habe den Irak verlassen, da Verwandte seines Stammes versucht hätten, ihn für die sogenannten Volksmobilisierungseinheiten (al-Haschd asch-Schaʿbī, People’s Mobilization Front (PMF) bzw. People’s Mobilization Units (PMU)) zwangszurekrutieren.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte der Kläger, bis zu seiner Ausreise habe er im Gouvernement Wasit in der Stadt Naamaniya im Ortsteil Scharqiya in der Nähe der Grabstätte Said Qasim gelebt. Im Irak lebten noch seine Eltern, seine Geschwister sowie Angehörige seiner Großfamilie. Eine Cousine lebe in Deutschland. Er selbst habe das Abitur abgelegt und sei gelernter Mechaniker. Vier Jahre habe er eine Fachschule für Mechanik in Basra besucht und im Anschluss bei mehreren Unternehmen gearbeitet. Zudem habe er eine Schweißerfortbildung absolviert.
Auf die Gründe seiner Flucht angesprochen, erklärte der Kläger, Teile seiner Familie hätten ihn zwingen wollen, den Volksmobilisierungseinheiten beizutreten. In der Familie gebe es zwei rivalisierende Gruppen, wobei die Fronten zwischen seinen Onkeln väterlicherseits und mütterlicherseits verliefen. Aus diesem Grunde hätten sich seine Eltern ca. zwei Jahre vor dem Zeitpunkt der Anhörung getrennt; seine Mutter lebe nun in Bagdad bei ihrem Bruder. Seine Mutter sei Sunnitin, sein Vater Schiit. Seine gesamte Verwandtschaft väterlicherseits gehöre zu schiitischen Milizen innerhalb der Volksmobilisierungseinheiten. Dieser Teil der Verwandtschaft übe Druck auf ihn aus, ebenfalls den Milizen beizutreten. Sein Onkel habe seinen Vater gefragt, warum er nicht kämpfe; dieses habe sein Vater ihm dann auch vorgehalten. Beide hätten ihm mitgeteilt, er sei feige und ehrlos, da alle seine Cousins kämpfen würden. Zunächst sei er nur angesprochen worden, ca. zwei Monate vor seiner Ausreise habe sich dann die Situation verschlimmert, als sein Cousin bei einer Explosion ums Leben gekommen sei. Zur damaligen Zeit habe er eine Vereinbarung mit seiner Firma in Basra gehabt, dass er zunächst zwanzig Tage durcharbeite und dann zehn Tage zuhause in Naamaniya sei. Jedes Mal, wenn er zuhause gewesen sei, habe man den Druck auf ihn erhöht, den Milizen beizutreten und in den heiligen Krieg (Jihad) zu gehen. Der Druck betreffe auch nicht nur ihn selbst, sondern alle jungen Männer seines Stammes. Den meisten Druck habe der Führer seines Stammes ausgeübt. Hierbei handele es sich um einen älteren Herrn und Cousin seines Vaters, der in allen Angelegenheiten bestimme, angefangen vom Tagesablauf, wobei ihm jedes Mitglied des Stammes gehorchen müsse. Dieser habe nie direkt mit ihm selbst gesprochen, sondern nur mit seinem Vater. Er habe infolgedessen das Land verlassen, weil nicht habe kämpfen wollen. Stets habe er sich auf die Arbeit konzentriert; die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten hätten ihn nicht interessiert. Er hätte auch nicht nach Bagdad ausweichen können. Zum einen sei die Sicherheitslage in Bagdad noch schlimmer, da es täglich Anschläge und Explosionen gebe. Zum anderen hätte er auch nicht bei seinem Onkel wohnen können, da er ja gerade vor dem familiären Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten geflohen sei. Zudem sei er noch nie bei seinem Onkel gewesen und habe aktuell auch keinen Kontakt zu seiner Mutter. Im Falle seiner Rückkehr fürchte er den Tod und den Druck seiner Familie, sich den Milizen anzuschließen.
Mit Bescheid vom 15. November 2016, dem Kläger am 23. November 2016 zugestellt, erkannte das Bundesamt dem Kläger weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 2) zu und stellte fest, das Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 3). Zudem drohte es die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5). Zur Begründung führte es u.a. aus, aus dem Vortrag des Klägers ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine flüchtlingsrechtlich relevante Individualverfolgung. Zudem habe der Kläger nicht glaubhaft gemacht, dass von Seiten seiner Familie eine tatsächliche, konkrete Gefahr ausgegangen sei.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 13. September 2016 Klage erhoben und zudem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung trägt er vor, ihm sei als religiös Verfolgten Flüchtlingsschutz zu gewähren. Seine sunnitischen Onkel mütterlicherseits und seine schiitischen Onkel väterlicherseits würden eine Fehde gegeneinander austragen. Er selbst habe sich nie auf einer der beiden Seiten positionieren wollen, auch wenn zwei seiner Brüder auf Seite der Schiiten kämpfen würden. Zunächst hätten nur sein Vater und sein Onkel väterlicherseits verbalen Druck auf ihn ausgeübt. Dann aber habe sich der Druck auf der Trauerfeier für seinen Cousin im Oktober 2015 massiv verstärkt. Ein ebenfalls auf der Feier anwesender Sheikh habe sich zunächst an den Vater gewandt und am Ende der Feier auch mit dem Kläger selber gesprochen, wobei er ihm mitgeteilt habe, dass auch er im Jihad kämpfen müsse. Schlussendlich sei er vor Angst völlig außer sich gewesen und sei geflohen. Hintergrund sei gewesen, dass sowohl der Führer seines Stammes als auch dessen Sohn eine einflussreiche Stellung bei den Milizen hätten, wobei der Sohn zudem mitbestimmend in der Bewegung des Muqtada al-Sadr sei und früher auf der Fahndungsliste des US-Militärs gestanden habe. Aufgrund des weitreichenden Einflusses dieser beiden Personen hätte er keinerlei Sicherheit im gesamten Irak. Auch der Nordirak sei für ihn keine Fluchtalternative, da er dort überhaupt nicht aufgenommen werden würde. Er befürchte im Falle der Rückkehr eine Verfolgung durch die väterliche Familie als auch durch die von ihnen favorisierte Miliz bis hin zu lebensbedrohlichen Akten willkürlicher Gewalt.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 2. Mai 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom selben Tag Prozesskostenhilfe bewilligt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. November 2016 zu verpflichten,
1. dem Kläger den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen,
2. hilfsweise, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
3. hilfsweise, die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Hinsichtlich der persönlichen Anhörung der Kläger wird verwiesen auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 11. Juni 2018.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 AsylG anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 11. Juni 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 15. November 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29). Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose überdies ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, d.h. unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung von Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie), nicht hingegen (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22, Rnr. 21 f.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 31).
Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs haben im vorliegenden Fall die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände. Das Gericht kommt aufgrund des aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks zu der Überzeugung, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht.
Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht zugute. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus dem Irak wurde er nicht in Anknüpfung an ein in § 3 Abs. 1 AsylG genanntes Merkmal in der von § 3a AsylG geforderten Intensität individuell bedroht. Das Gericht geht jedoch aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse davon aus, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 AsylG durch Angehörige seines Stammes sowie der Mahdi-Armee bedroht ist. Anknüpfungspunkt bildet dabei seine Religion, d.h. sein Verständnis des islamischen Glaubens, das sich nicht an den traditionellen konfessionellen Grenzen zwischen Sunniten und Schiiten orientiert, so dass er auch das religiöse Edikt des höchsten schiitischen Geistlichen des Irak, sich den Volksmobilisierungseinheiten im Kampf gegen den IS anzuschließen, als nicht für sich verbindlich ansieht.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische Glaubensüberzeugungen sowie Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner, die sich auf eine entsprechende Überzeugung stützen. Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7).
Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen einer religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 AsylG vor. Das Gericht ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass ihm im Falle seiner Rückkehr in seine Heimatstadt Namaaniya mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch schiitische Milizen bzw. schiitische Angehörige seines Stammes wegen seines individuellen Glaubens droht.
Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:
„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“
In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die sunnitische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige schiitische Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Ali al-Husseini al-Sistani, der alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd asch-Schaʿbī, Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (AI, Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AA, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 des Bundesamts für Migration und Fremdenwesen heißt es zur Größe der PMF (BFA, a.a.O., S. 73):
„Der Name „Volksmobilisierungseinheiten“ bzw. Al-Hashd al-Shaabi, englisch: Po-pular Mobilization Units (PMU) oder Popular Mobilization Forces bzw. Front (PMF)) bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig fast ausschließlich schiitische Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formatio-nen. Schätzungen zufolge haben die Volksmobilisierungseinheiten zwischen 60.000 und 140.000 Mann unter Waffen.“
Die PMF-Milizen stellen im Irak einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik wiederspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 15). Hiermit korrespondierend suchen sie im Einklang mit den fortschreitenden militärischen Erfolgen im Kampf gegen den IS nach neuen Gründen, um ihren weiteren Einsatz auch über das Bestehen einer Fatwa hinaus zu rechtfertigen. Dies betrifft etwa den Schutz Bagdads sowie wichtiger schiitischer Stätten, ferner den Einsatz in den zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten im Nordirak. Der Umstand, dass sich die irakischen Streitkräfte auf die Sicherung des westlichen und nördlichen Irak konzentrieren, bietet den PMF-Milizen zudem die Möglichkeit, sich in den ölreichen südlichen Provinzen als lokale Warlords zu etablieren, insbesondere an florierenden Wirtschaftsstandorten wie Basra und Amara (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3).
Die PMF- Milizen lassen sich in grob in vier inoffizielle Blöcke einteilen, wobei diese Unterteilung an ihre jeweils ähnlichen Ziele anknüpft, nicht hingegen an formelle Allianzen. Die nicht-schiitischen Milizen bilden den vierten Block und umfassen Sunniten, Yeziden, Christen und andere Minderheiten. Die ersten drei Gruppen bestehen demgegenüber aus schiitischen Milizen (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3). Auch diese sind innerhalb der PMF jedoch nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 97). Den ersten und einflussreichsten Block bilden die pro-iranischen, d.h. vom iranischen Regime etablierten Milizen. Innerhalb dieser Gruppe handelt es sich bei der von Haidi al-Amiri geführten Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization) um die größte und am besten ausgestattete Vereinigung, welche ca. 20.000 Kämpfer umfasst. Andere hier zu verortende Milizen sind ‘Asa’ib Ahl al-Haq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute oder Chazali-Terrornetzwerk), Kata’ib Hizbullah (Hizbullah Brigades bzw. Hizbullah Brigaden), Saraya al-Khorasani und Harakat al-Nujaba. Hierbei handelt es sich um Gruppierungen, die jeweils der Doktrin des Obersten Religionsführers des Iran (Welāyat-e Faghīh) folgen und politische Ambitionen hegen. Der zweite Block setzt sich aus den Hashd al-Sistani zusammen, d.h. denjenigen Milizen, die im Lager des irakischen Großayatollah al-Sistani stehen (Liwa Ali al-Akbar, Furqat Imam Ali al-Qitaliyah, und Furqat al-Abbas al-Qitaliyah) und dem (früheren) Premierminister Abadi gegenüber loyal sind. Ihre Truppen sind zahlenmäßig schwächer als die pro-iranischen Gegenspieler und setzen sich aus ca. 20.000 Kämpfern zusammen. Ihre Anhänger sind überwiegend durch die Fatwa Sistanis motivierte Freiwillige ohne politischen Ambitionen., die jedoch auf die Unterstützung des irakischen Verteidigungsministeriums zurückgreifen können. Der dritte Block umfasst die Milizen, die den von Ammar al-Hakim geführten Islamic Supreme Council of Iraq (ISIC bzw. SIIC, Oberster Islamischer Rat des Irak (OIRI)) unterstützen, ferner die Anhänger des Predigers Muqtada al-Sadr. Hierbei handelt es sich um einflussreiche politische Fraktionen des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befinden. Die Pro-Hakim-Milizen umfassen dabei die Gruppen Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura. Bei der wichtigsten dem Prediger Sadr loyalen Miliz handelt es sich um die Gruppe Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ehemals bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)).
Letztere formierte sich in Opposition zu der US-Invasion im Jahr 2003 und der anschließenden Besetzung des Irak (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 9 f.). Ihr Gründervater, der einflussreiche schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr, ist Sohn des im Jahr 1999 ermordeten Großayatollah Mohamnmed Sadiq al-Sadr. Ursprünglich gab er ihr das Ziel, die von den USA angeführte Militärkoalition aus dem Irak zu vertreiben und eine schiitische Regierung im Irak zu etablieren. Von 2004 an griff die Mahdi-Armee regelmäßig Koalitionstruppen an; in den folgenden Jahren galt sie in zahlreichen Landstrichen des Irak als gefährlicher als die Terrororganisation al-Qaida und in ihrer militärischen Stärke lediglich den US-Truppen nachstehend. In der Zeitperiode von etwa 2004 bis 2007 häuften sich zudem Berichte darüber, dass die Mahdi-Armee mit Todesschwadronen sunnitische Iraker verfolgte und die im Land vorherrschenden sektiererische Gewalt anfachte (Stanford University, Mapping Militant Organizations: Mahdi Army, 26. November 2017, S. 1 f. der Druckversion). Die Gruppe führte zahllose Angriffe auf US-amerikanische und irakische Streitkräfte sowie auf sunnitische Zivilisten durch und war hierbei für einige der grausamsten konfessionell motivierten Gewalttaten im Irak verantwortlich (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten; Rolle der Mahdi-Milizen [a-7959-2 (7960)], 17. April 2012, S. 4 der Druckversion).
Im Anschluss an ein durch den Iran vermitteltes Waffenstillstandsabkommen mit der irakischen Regierung im Jahr 2008 verlegte sich die Mahdi-Armee zunächst von Militäroperationen auf die Gewährleistung sozialer Dienste in schiitischen Vierteln und benannte sich in Mumahidoon um. Parallel gründete Sadr eine paramilitärische Spezialeinheit mit dem Namen Liwa al-Youm al-Mawud (Promised Day Brigades bzw. Kompanien des verheißenen Tages), welche die US-Truppen im Irak bis in das Jahr 2011 hinein weiterhin angriff. Im Jahr 2010 verlagerte Sadr den Schwerpunkt der Tätigkeit der Mahdi-Armee unter Vernachlässigung der vorherigen schwerpunktmäßig karitativen Ausrichtung sodann auf das Feld der Politik und unterstützte mit seiner Sadr-Bewegung (al-Tayyār al-Sadri bzw. Sadrist Movement) die vorwiegend aus schiitischen Parteien bestehende irakische Nationalallianz (Iraqi National Alliance). In der Parlamentswahl 2010 errang die Sadr-Bewegung 40 von 325 Plätzen im irakischen Parlament (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion). Im Jahr 2013 verkündete Sadr überraschend seinen Rückzug aus der irakischen Politik sowie die Auflösung der Mahdi-Armee (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion).
Nachdem der IS Mossul im Juni 2014 eingenommen hatte, rief Sadr die Mahdi-Armee abermals unter dem neuen Namen der Friedenskompanien ins Leben mit dem Ziel, den IS zu besiegen und den pro-iranisch eingestellten damaligen irakischen Premierminister Nouri al-Maliki zu stürzen. Dem darauffolgenden Premierminister Haider al-Abadi sicherte Badr seine Unterstützung zu und beteiligte die Friedenskompanien in enger Zusammenarbeit mit den irakischen Sicherheitskräften am Kampf gegen den IS. Im Jahr 2016 kehrte Sadr sodann in die irakische Politik zurück (Stanford University, a.a.O., S. 4 f. der Druckversion). Er stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik und den politischen Einfluss des Iran ankämpft (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 34-36, S. 86). Für die irakischen Parlamentswahlen am 12. Mai 2018 verbündete sich Sadr unter anderem mit der Kommunistischen Partei und anderen säkularen Gruppen mit dem erklärten Wahlziel, nach der Wahl eine unabhängige Technokratenregierung zu bilden, in der Schiiten, Sunniten, Kurden und andere Minderheiten angemessen vertreten sind. Die Wahl gewann er mit seiner Liste Sairun („Wir marschieren“), welche 54 der 329 Parlamentssitze erzielte. Auf Platz zwei folgte ein Bündnis des pro-iranischen Politikers und Anführers der Badr-Organisation Haidi al-Amiri; lediglich auf Platz drei landete die Liste des amtierenden schiitischen Regierungschef Haidar al-Abadi (Zeit-Online, Artikel vom 19. Mai 2018, „Irak: Endergebnis bestätigt Wahlsieg von Al-Sadr“). Sadr selbst kann den Posten als Regierungschef nicht belegen, weil er nicht für einen Parlamentssitz kandidierte. Indessen kann er als Führer des größten Blocks im Parlament mit Hilfe von Koalitionspartnern einen Kandidaten nominieren, der vom Staatspräsidenten den Regierungsauftrag bekommt (Spiegel Online, Artikel vom 17. Mai 2018, „Die Wandlung des Mullah Atari““; Zeit-Online, a.a.O.).
Anders als der herkömmliche, auf die schiitische Theologie anspielende Name weist der aktuelle Name „Friedenskompanien“ keinen religiösen Bezug auf; er steht stellvertretend für den nationalistischen Wandel, den die Sadr-Bewegung durchläuft (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz [a-10267-2 (10268)], 28. Juli 2017, S. 5 der Druckversion). Die Organisation „Friedenskompanien“ gilt de facto jedoch als Fortführung der Mahdi-Armee, weil deren Kader und Netzwerke auch nach der offiziellen Auflösung aktiv blieben und im Jahr 2014 von Sadr leicht wieder mobilisiert werden konnten. Ungeachtet der sich wechselnden Ausrichtungen und Namen ist sie im Irak überdies seit jeher unter ihrer Ursprungsbezeichnung Jaysh al-Mahdi (JAM) bzw. Mahdi-Armee bekannt (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 6 der Druckversion; ACCORD, a.a.O., S. 2 der Druckversion).
Bezüglich der Größe der Organisation finden sich unterschiedliche Angaben. Nach Auskunft des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl sprechen irakische Quellen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, sehen die militärische Schlagkraft der Organisation jedoch infolge der vergleichsweise geringeren militärischen und finanziellen Unterstützung durch den Iran als begrenzt an (BFA, a.a.O., S. 75). Die Stanford University gibt in einer Stellungnahme aus November 2017 bezüglich der Frage der Anzahl der Anhänger der Mahdi-Armee im Juni 2014 verschiedene, sich widersprechende Quellen wieder (AlJazeera: 10.000 Mann, The Telegraph: 50.000 Mann, Alalam: 20.000 Mann; s. Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 7 der Druckversion). ACCORD verweist in einer Anfragebeantwortung betreffend die Aktivitäten der Mahdi-Miliz zudem auf einen Bericht der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) aus August 2016, dem zufolge die bis zu einer Stärke von 50.000 Mann reichende Schätzung der Größe der Mahdi-Armee durchaus möglich sei, allerdings unter Einbeziehung des gesamten Personals der Miliz inklusive ihrer jeweiligen Teilgruppierungen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 1 der Druckversion). ACCORD bezieht sich zudem auf einen Bericht der finnischen Einwanderungsbehörde (Finnish Immigration Service) aus April 2015, dem zufolge die Friedensbrigaden zum damaligen Zeitpunkt über 60.000 Angehörige verfügten. Im Jahr 2014 habe die Miliz in Bagdad zur Machtdemonstration Paraden im schiitischen Viertel Sadr City abgehalten, an denen Schätzungen zufolge 30.000 bis 50.000 Mitglieder teilgenommen hätten; die meisten seien in Uniform aufgetreten und hätten Waffen getragen. Nach Auskunft einer diplomatischen Quelle seien die Friedensbrigaden die stärkste Miliz, die unabhängig vom Iran agiere (ACCORD, a.a.O., S. 2 f. der Druckversion). Als das Haupteinsatzgebiet der Miliz wird allgemein das südliche Zentrum des Irak angesehen; die Gruppe war indessen auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (BFA, a.a.O., S. 75). Besonders populär ist die Mahdi-Armee seit jeher in Sadr City, einem nach dem Vater von Muqtada al-Sadr benannten Stadtteil von Bagdad (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 der Druckversion). Hier stellt sie illegale Checkpoints auf und kann selbst Regierungstruppen den Zugang verweigern (ACCORD, a.a.O., S. 2 der Druckversion).
In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):
„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“
„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).
Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017).“
Die Stanford University verweist in einem Bericht aus November 2017 zudem darauf, Teile des Gemeinwesens seien seit langem von der Mahdi-Armee desillusioniert infolge deren Korruption und verbrecherischen Methoden. Die Gruppe habe sich in Bagdad mit Raubüberfällen, Morden, Vergewaltigungen und Schutzgelderpressungen gegenüber der örtlichen Bevölkerung ebenso einen Namen gemacht wie mit der Entführung von Sunniten wie Schiiten zur Erpressung von Lösegeld. Nach Auskunft örtlicher Kontaktpersonen bekämpfe die Mahdi-Armee nicht lediglich mutmaßliche feindliche Invasoren, sondern jeden, der sich ihren mafiösen Aktivitäten in den Weg stelle, wobei sich bei vielen Irakern die Frage stelle, inwiefern Sadr wirklich in der Lage sei, seine Organisation effektiv zu kontrollieren (Stanford University, Mapping Militant Organizations. Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 f. der Druckversion; FDD’s Long War Journal, Iraqis begin to ‘despise’ the Mahdi Army in Baghdad’s Rusafa district, 3. Mai 2008; ähnlich: BAA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 13 f.). Nach Einschätzung des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl geht zudem ein Großteil der Terroranschläge im Irak auf das Konto heimischer Terrororganisationen. Dieser Befund betreffe neben dem (sunnitischen) IS insbesondere die schiitischen Friedenskompanien Sadrs sowie die ebenfalls schiitischen Gruppen Asa’ib Ahl al-Haq (AAH) und Kata’ib Hizballah (BFA, a.a.O., S. 58).
In Bezug auf die Rekrutierungspraxis der PMF-Milizen stellt ACCORD in einer Anfragebeantwortung aus Juni 2017 fest, nach Informationen örtlicher Vertrauenspersonen hätten sich in schiitischen Provinzen mehr als 75 Prozent der männlichen Einwohner schiitischen Milizen innerhalb der PMF angeschlossen. Die Mehrzahl dieser Rekruten seien jedoch Reservisten, die nicht kämpften. Während die bloße Zahl der Rekruten die Vermutung aufkommen lasse, dass es eine Form der (zwangsweisen) Einberufung gebe, gehe der Zustrom tatsächlich auf die Fatwa des Großayatollah Sistani zurück (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 4 f.). Einem Bericht des Middle East Eye (MEE) aus Dezember 2015 zufolge üben die örtlichen Gemeinschaften jedoch erheblichen Druck auf junge Männer aus, sich den PMF-Milizen anzuschließen. Unter den irakischen Flüchtlingen befänden sich einige, die von den Milizen desertiert seien oder sich den „Brecheisen-Rekrutierungsmethoden“ entzogen hätten (MEE, Artikel vom 1. Dezember 2015, „Sunni tribes joining shia militias as war against IS heats up in Iraq“). Dem Menschenrechtsbericht des US Department of State (USDOS) aus März 2017 zufolge griffen schiitische PMF-Milizen zudem verbreitet auf Kindersoldaten zurück (USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2016 – Iraq, S. 21). Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtete darüber hinaus im Januar 2017, im Zuge der Befreiung Mosuls sei es in vornehmlich sunnitischen Gebieten zu Fällen von Zwangsrekrutierungen durch PMF-Milizen gekommen. Mitglieder von PMF-Milizen hätten männlichen Binnenflüchtlingen, auch Minderjährigen, gedroht, sie als Sympathisanten des IS einzustufen, sofern sie sich den Milizen nicht anschließen würden. Ein „Freiwilliger“ pro Familie spreche die übrigen Mitglieder von dem Verdacht frei, IS-Anhänger zu sein (UNHCR, Mosul Weekly Protection Update, 14-20 January 2017). Dieses deckt sich mit Erkenntnissen des Global Protection Cluster aus Dezember 2016 betreffend die Provinz Salah ad-Din (ACCORD, a.a.O., S. 9). Auch nach einer anonymisierten Auskunft eines Sachverständigen gegenüber dem Norwegian Immigration Service (Landinfo) im Juni 2017 kam es im Zuge der Mosul-Offensive zu abgenötigten Rekrutierungen sunnitischer Männer und Jugendlicher in Camps für Binnenvertriebene durch schiitische PMF-Milizen. Alle befragten Personen hätten sich formal freiwillig angeschlossen, jedoch unter erheblichem Druck ihrer Familien. Die Stammesältesten hätten hierbei mit den Milizen kooperiert und insbesondere isolierte Personen oder solche aus armen Familien gezielt angesprochen. Von den nahen Angehörigen der Stammesältesten sei zudem als selbstverständlich erwartet worden, dass sie sich ebenfalls als Kämpfer in den Dienst der PMF stellten (N.N., Auskunft vom 23. Juni 2017 gegenüber Landinfo, Betr.: RE: Further information request – Recruitment of young sunni men into tribal forces/PMU, S. 3). Ein Grund für (sunnitische) Stammesälteste, den PMF-Milizen personelle Unterstützung aus den eigenen Reihen anzubieten, kann es auch sein, hierdurch Rache für Taten zu nehmen, die der IS gegenüber eigenen Stammesangehörigen beging (MEE, Artikel vom 1. Dezember 2015, „Sunni tribes joining shia militias as war against IS heats up in Iraq“). Die irakischen Stämme der Gegenwart haben dabei wenig mit den früheren, traditionellen Stämmen des Irak gemein, die ein klar abgegrenztes Territorium besaßen und auf landwirtschaftlichen Strukturen basierten. Die neuen Stammesgebilde sind vielmehr eine vorwiegend städtische Erscheinung. Ihre Führer, deren Wohnungen als Zentren des Stammeslebens dienen, setzen sich größtenteils aus Gebildeten der Mittelschicht zusammen, insbesondere Staatsbeamten. Die modernen Stämme sorgen für Recht und Ordnung und regeln Streitigkeiten unter ihren Mitgliedern sowie zwischen Stammesmitgliedern und anderen Clans, von wirtschaftlichen bis hin zu kriminellen Vergehen. Angesichts der verbreiteten Korruption innerhalb der Polizei und der Justiz regeln sie zudem sonstige Streitigkeiten gegen Entgelt oder bieten (bezahlten) Schutz (Jabar, Der Stamm im Staat, 18. Juli 2003, S. 11).
Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisquellen und der glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, infolge seiner Weigerung, sich der Mahdi-Armee anzuschließen, durch deren Mitglieder bzw. die Angehörigen seines Stammes verfolgt zu werden.
Die diesbezüglichen Erörterungen des Klägers wiesen hinreichende Realitätskennzeichen auf, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum unter Wiedergabe außergewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Wiedergabe von Nebenhandlungen und räumlich-zeitlichen Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung im entscheidungsrelevanten Kernbereich als konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Soweit er in Bezug auf die Schilderung eines im Sommer 2015 in Basra stattgefundenen Vorfalls sein Vorbringen in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem vorherigen Vortrag beim Bundesamt inhaltlich steigerte, konnte er dem Gericht plausible Gründe hierfür dartun. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf den Inhalt der ausführlichen Sitzungsniederschrift verwiesen.
Der Kläger hat glaubhaft dargelegt, dass er bereits früh für sich erkannt habe, dass er sich weder dem Schiitentum noch dem Sunnitentum zugehörig fühle, sondern schlichtweg an Gott glaube. Seit seiner frühen Jugend habe er sich nicht getraut, dies offen zu legen, habe aber stets versucht, sich dem religiösen Einfluss seines strenggläubigen schiitischen Vaters zu entziehen und sein Leben auf seine Ausbildung sowie sportliche Aktivitäten konzentriert. In einer Familie, in der es fortwährend erhebliche Spannungen zwischen den beiden konfessionellen Fraktionen gegeben habe, repräsentiert durch die Familienlinie väterlicher- und mütterlicherseits, habe er infolgedessen eine Außenseiterstellung eingenommen und sei von vielen Verwandten gemieden worden.
Des Weiteren hat der Kläger glaubhaft dargetan, dass Angehörige seiner Familie und seines Stammes seit längerer Zeit vor seiner Ausreise erheblichen Druck auf ihn ausgeübt hätten, sich als Kämpfer den Volksmobilisierungseinheiten anzuschließen, d.h. konkret der Mahdi-Armee. So habe sein Vater ihm gesagt, dass es seine religiöse Pflicht sei und er kämpfen müsse. Tue er dies nicht, sei er ein Ungläubiger. Anfangs habe er noch versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, dass er sich nicht für Parteien oder Gruppen interessiere, aber irgendwann habe er dann aufgegeben. Sein Vater habe in seiner Familie unangefochten das Sagen; die beiden Brüder des Klägers würden seinen Anweisungen jederzeit folgen. Auch der Stammesführer, Herr D., und dessen Sohn E. hätten versucht, Druck auf ihn auszuüben, damit er sich religiösen Milizen anschließt. Beim Stammesführer handele es sich um einen Cousin seines Vaters. E., so der Kläger, sei nicht sein Cousin, werde aber faktisch als solcher bezeichnet. Der Stammesführer, eine bekannte Persönlichkeit mit über die Stadt Naamaniya hinausreichendem Einfluss, unterhalte ein Büro bei sich zuhause und ein weiteres im Einbürgerungsamt; zudem sei er im Stadtrat aktiv. Er habe nicht nur Kontrolle über die gesamte Familie bzw. den gesamten Stamm, sondern auch über die gesamte Umgebung, d.h., die Stadt Naamaniya. Wenn z.B. eine Person Alkohol trinke oder verkaufe, so werde er von Stammesführer zurechtgewiesen. Niemand würde sich seinen Weisungen widersetzen, denn der Stammesführer habe zahlreiche Untergebene, die für ihn arbeiteten, wobei sein Sohn E. am aktivsten sei. Dieser sei langjähriges Mitglied der Bewegung von Muqtada al-Sadr, habe gegen die US-Besatzungstruppen gekämpft und sei nach deren Einleitung von Fahndungsmaßnahmen zeitweise in den Iran geflohen. Nach seiner Rückkehr habe er in Naamaniya ein Büro der Sadristen eröffnet und eine zugehörige Gruppierung befehligt, die Personen entführt habe. Im Stadtteil des Klägers habe es oft geheißen, der Sohn von einer bestimmten Person sei von den Sadristen abgeholt worden. Was genau mit diesen Leuten passiert sei, wisse er, der Kläger, nicht. Er habe jedoch gehört, dass die Gruppierung häufig Personen entführt habe, die sich gegen die Gruppe gestellt hätten. Wenn eine Familie junge Söhne habe, die noch keiner Gruppierung zugehörig seien, würde sein Cousin E. zudem veranlassen, dass diese abgeholt würden und man auf sie Druck ausübe, sich einer Gruppierung anzuschließen. E. und seine Anhänger hätten auch ihn selbst mehrfach wegen seines Widerwillens konfrontiert, sich der Miliz anzuschließen. Ersterer hätte ihn z.B. auf der Straße getroffen, sei aber auch bei seiner Familie zu Hause gewesen, und hätte ihm bei diesen Gelegenheiten jeweils vorgehalten: „Du hast Dich immer noch nicht uns angeschlossen.“ Er, der Kläger, hätte daraufhin stets beschwichtigend bzw. ausweichend geantwortet.
Überdies vermochte der Kläger glaubhaft zu schildern, dass sich dieser familiäre Druck seit dem Tod seines Cousins Mitte 2015 bis ins Unerträglich steigerte. Einer seiner Cousins, ein Mitglied der Gruppe um E. D., sei gemeinsam mit fünf weiteren Personen bei einer Explosion in Bagdad im Viertel Al-Karata ums Leben gekommen. Er habe auch Fotos von dem Leichnam seines Cousins gesehen, der großflächige Verletzungen am Brustbereich sowie an den Oberschenkeln erlitten habe. An der anschließenden Trauerfeier in Naamaniya, bei deren Ausrichtung er habe helfen müssen, hätten seiner Schätzung nach im Laufe des Tages mehr als 1.000 Personen teilgenommen, viele von ihnen Bewaffnete und Uniformierte. Ein ihm namentlich bekannter älterer Mann, der aus Gründen des Respekts mit der Bezeichnung Sheikh bzw. Scheich angesprochen werde, habe ihn vor der Trauerhalle angeherrscht: „Verräter, du bist kein Mann!“, wobei er darauf nicht reagiert habe, da er befürchtete, dann auch von anderen Anwesenden persönlich angegriffen zu werden. Im Anschluss an die Trauerfeier sei er drei bis vier Wochen zuhause gewesen. In dieser Zeit habe es jeden Nachmittag in der Familie Versammlungen gegeben, welche das Planen von Gegenmaßnahmen zum Gegenstand hatten, an denen er unter Ausflüchten und zum erheblichen Missfallen seiner Verwandten nicht teilgenommen habe. Diese hätten ihn als Sunniten beschimpft. Um dem Kontakt mit ihnen zu entgehen, habe er in diese Zeit oft bei einem Sportkameraden übernachtet.
Schließlich konnte der Kläger dem Gericht glaubhaft die beiden Ereignisse vermitteln, die ihn letztendlich zur Ausreise bewegten. So hat er zum einen dargelegt, dass er gegenüber seinem Cousin E. schließlich (vage) zugesagt habe, sich der Miliz anzuschließen. Zum anderen hat er dargetan, zuletzt erfahren zu haben, dass ein Nachbar aus seinem Stadtteil von der Mahdi-Armee entführt worden sei. Dieses sei ihm besonders nahegegangen, weil er dessen Mutter dabei beobachtet und einmal auch angesprochen habe, während sie, vor ihrer Haustür sitzend, Tag für Tag vergeblich auf ihren Sohn wartete. Angesichts dieses Vorfalls sei er zu dem Schluss gekommen, dass er bestimmt der nächste sei, den die Miliz abhole.
Dass diese Sorge aus Sicht des Klägers berechtigt war, hat der Kläger zudem durch die glaubhafte, durch zahlreiche Realkennzeichen gestützte Schilderung eines Vorfalls belegt, der sich im Sommer 2015 zeitlich vor dem Tod seines Cousins in Basra zugetragen habe. An jenem Tag sei er spätabends beim Verlassen eines Geschäfts von drei Personen in Zivil unter vorgehaltener Waffe genötigt worden, zu ihnen ins Auto einzusteigen. Auf die Frage des Klägers, was die Leute von ihm wollen würden, habe der Befragte geantwortet: „Wir werden sie begleiten bis nach Hause.“ Anschließend seien sie durch Basra gefahren, doch als der Kläger den Fahrer aufgefordert habe, an einer bestimmten Stelle anzuhalten, habe dieser nicht reagiert. Daraufhin habe der Kläger protestiert. Er habe zudem versucht, die Männer zu beschwichtigen und ihnen mitgeteilt, dass er fremd in der Stadt sei, woraufhin ihm der mit einer Pistole bewaffnete Beifahrer gesagt habe: „Nicht dass du denkst, wir kennen dich nicht. Du kommst aus Naamaniya und wir kennen dort E..“ Dieser Satz, aus welchem er geschlossen habe, dass es sich bei den Fremden um Mitglieder der Mahdi-Armee handele, sei ihm besonders deshalb in Erinnerung geblieben, weil der bewaffnete Beifahrer die Aussage ihm gegenüber sinngemäß nochmal wiederholt habe, als er vergeblich versucht habe, aus dem Auto auszusteigen. Er sei dann mit den Personen eine Zeit lang durch die Nacht gefahren. Anschließend hätten diese abermals gehalten und eine weitere Person zum Einsteigen aufgefordert. Diese Person hätten sie jedoch nicht mit Waffengewalt aufgefordert, sondern sie sei freiwillig eingestiegen. Er, der Kläger, habe den Eindruck gehabt, dass sich die Betreffenden kennen würden. Der neu Eingestiegene habe die Mitfahrer sodann gefragt: „Wer ist der junge Mann, der neben euch sitzt?“ Er, der Kläger, habe daraufhin gesagt: „Ich habe nichts getan, warum haben die mich mitgenommen?“ Der neu Eingestiegene habe sich dann mit den anderen unterhalten und einige Zeit später auch gestritten. In Bezug auf den Kläger habe er die Bemerkung geäußert: „Der ist ein Fremder, mit dem haben wir nichts zu tun.“ Die Bewaffnete hätten den Kläger sodann aus dem Auto rausgelassen an einer Stelle, wo er nicht mehr gewusst habe, wo er sich befinde. Als das Auto weggefahren sei, habe er probiert, sich bestimmte Merkmale zu merken, habe jedoch feststellen müssen, dass das Auto kein Kennzeichnen besessen habe. Als er dann durch die Nacht gelaufen sei, habe er ein Polizeiauto gesehen, welches Streife gefahren sei. Er habe dieses dann angehalten, den Polizisten den Vorfall geschildert, woraufhin diese seine Anzeige auf einem Stück Papier entgegengenommen hätten. Als er dann den nächsten Kontrollpunkt erreicht habe, habe er diese Anzeige dort abgegeben. Allerdings habe er dann noch einmal Angst bekommen, dass die Polizisten, wie es im Süden des Irak häufig der Fall sei, ggfs. auch mit der Gruppierung zusammenarbeiten könnten. Deswegen habe er sich später auch nicht mehr an die Polizei gewandt, um nachzufragen, was aus seiner Anzeige geworden sei. Auch mit seiner Familie habe er nicht über den Vorfall gesprochen, weil er befürchtet habe, es würde noch mehr negative Folgen für ihn haben, wenn er den Vorfall thematisiert hätte. Beim Bundesamt habe er sich nicht getraut, den Vorfall zu schildern. Er sei zu dieser Zeit neu in Deutschland gewesen und habe nicht gewusst habe, ob der Dolmetscher wirklich neutral sei. Zudem habe er befürchtet, man würde ihn ggf. zu Unrecht dem Umfeld bewaffneter Gruppierungen zurechnen und dies bei der Entscheidung zu seinen Ungunsten verwerten.
Die Schilderungen des Klägers wertet der Einzelrichter nicht zuletzt deshalb als glaubhaft, weil sie sich mit den gewonnenen Erkenntnismitteln decken, denen zufolge Stämme – insbesondere nach tödlichen Angriffen des IS auf Stammesangehörige – oftmals erheblichen Druck auf junge Männer ausüben, sich den PMF-Milizen anzuschließen, insbesondere auf diejenigen Männer, die – wie der Kläger – in einem familiären Näheverhältnis zum Stammesführer stehen. Überdies wurde in der Anhörung des Klägers deutlich sichtbar, dass er erhebliche Angst vor seinen Familien- bzw. Stammesmitgliedern hat und infolgedessen jeglichen Kontakt abbrach. Lediglich fünf bis sechs Monate nach seiner Ausreise habe er einen Verwandten über Facebook kontaktiert, damit dieser seine in Bagdad lebende Mutter, eine Analphabetin, aufsuche. Sodann habe er einmal mit seiner Mutter über Facebook Messenger gesprochen, nachdem der Verwandte sein Handy mit zur Mutter genommen habe, um ihr mitzuteilen, dass sie sich keine Sorgen machen solle und dass er in einem sicheren Land sei. Seinen Aufenthaltsort habe er ihr jedoch nicht mitteilen wollen, weil er sich sonst nicht mehr sicher gefühlt hätte. Seine Mutter habe den Großteil des Gesprächs nur geweint. Später habe er dann den Verwandten auf Facebook blockiert, da er nicht gewollt habe, dass dieser ihn kontaktiere und ihn an seine Vergangenheit erinnere.
Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen droht dem Klägerin im Falle seiner Rückkehr nach Naamaniya Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Abs. 3 AsylG durch Angehörige seines Stammes bzw. der Mahdi-Armee. Maßgeblichen Anknüpfungspunkt der Verfolgung bildet dabei die Religion des Klägers, weil er sich nicht an den traditionellen konfessionellen Grenzen zwischen Sunniten und Schiiten orientiert und infolgedessen nicht der Fatwa des Großayatollah des Irak folgt, sich den PMF-Milizen anzuschließen. Eine Verfolgung in Gestalt von Entführungen und körperlichen Misshandlungen durch Mitglieder der Mahdi-Armee bzw. seines Stammes ist dabei auch deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, weil sich der Kläger mit seiner abrupten Ausreise der Autorität des Stammesführers bzw. seines Sohnes offen widersetzte und nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung spätestens seit diesem Zeitpunkt bei seinen Verwandten als Ungläubiger gilt.
Die dem Kläger drohende Verfolgung durch seinen Stamm bzw. die Mahdi-Armee ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Bei den PMF-Milizen handelt es sich um staatliche Organisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG. Zum Staat im Sinne dieser Vorschrift rechnen alle seine Organe im weiteren Sinne (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3c AsylG, Rn. 4). Für die Zurechnung zur staatlichen Sphäre ist es dabei ausreichend, dass sich der Staat der betreffenden Personen oder Gruppierung zur Herrschaftsausübung bedient (Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: November 2017, § 3c AsylG, Rn. 2). Eine asylrechtlich relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen (privater) Dritter ist dabei nicht nur in dem Fall anzunehmen, in dem diese Verfolgungsmaßnahmen auf Anregung des Staates zurückgehen oder doch dessen Unterstützung oder einvernehmliche Duldung genießen, wie z. B. bei faktischer Einheit von Staat, Staatspartei oder Staatsreligion. Übergriffe sind vielmehr auch dann einem Staat zurechenbar, wenn der an sich schutzwillige Staat zur Verhinderung von Verfolgungsmaßnahmen prinzipiell und auf gewisse Dauer außerstande ist, weil er das Gesetz des Handelns an andere Kräfte verloren hat und seine staatlichen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen nicht mehr durchzusetzen vermag (Bergmann, a.a.O., Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 22. 04.1986 – 9 C 318/85 -, NVwZ 1986, S. 928 f. [BVerwG 22.04.1986 - BVerwG 9 C 318.85 u.a.], LS 3). So liegt es hier. Der irakische Staat bedient sich der Mahdi-Armee zur Herrschaftsausübung, weil er sie unter dem Dachverband der PMF in die offizielle Struktur der irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert hat und sie überdies finanziell sowie mit Waffen unterstützt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70).
Die Mahdi-Armee ist wie die übrigen PMF-Milizen mittlerweile eng mit dem irakischen Staat verknüpft. Amnesty International weist darauf hin, dass Angehörige der PMF-Milizen Militäruniformen tragen, zum Teil unabhängig von, zum Teil auch gemeinsam mit den regulären Regierungstruppen im Gefecht und an Checkpoints agieren und zudem die Stützpunkte und Haftzentren der regulären Truppen nutzen (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.). Auch das Auswärtige Amt erklärt in seinem Lagebericht zum Irak aus Februar 2017, durch die staatliche Akzeptanz, teilweise Führung und Bezahlung der Milizen der PMF verschwimme die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 15).
Sämtliche der PMF zugeordneten Milizen genossen seit der Gründung des Dachverbandes starke Unterstützung durch die irakische Regierung. Am 19. Juni 2014 erließ der damalige irakische Premierminister Nouri al-Maliki eine Anweisung, PMF-Freiwilligen ein staatliches Gehalt zu zahlen und sie im Falle ihrer Verwundung oder ihres Todes den Angehörigen des Innen- und Verteidigungsministeriums gleichzustellen. Am 30. September 2014 verfügte darüber hinaus der irakische Ministerrat, die PMF-Milizen mit Waffen und anderem militärischen Equipment auszustatten. Im November 2014 wies der Generalsekretär des Kabinetts dem Verteidigungsministerium Haushaltsmittel für die Gehälter der PMF-Kämpfer zu. Das Budget des zentralirakischen Haushalts stellte den PMF im Jahr 2016 nahezu 1,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung und räumte dem Finanzministerium die Berechtigung ein, weitere 2 Milliarden US-Dollar zum Zwecke der Waffenbeschaffung und des Anlagenbaus an das Ministerium der Verteidigung, des Inneren und die PMF zu überweisen. Zudem gründete der Ministerrat im Jahr 2014 die Volksmobilisierungskommission (Popular Mobilization Commission (PMC)), die für die Verwaltung der PMF zuständig ist (AI, Iraq: Turning a blind eye. The arming of the Popular Mobilization Units, S. 9). Im Februar 2016 erließ der irakische Premierminister des Weiteren eine Verfügung, welche den PMF den Status einer „unabhängigen militärischen Formation, Teil der irakischen Streitkräfte und angekoppelt an den obersten Befehlshaber der Streitkräfte“, verlieh. Zudem spezifizierte die Verfügung, dass die PMF der Militärgesetzgebung unterliegen und verlieh ihnen eine ähnliche Organisationsstruktur wie die Iraqi Counter Terrorism Force, welche sowohl vom Verteidigungs- als auch vom Innenministerium unabhängig ist. Diese Verfügung setzte das irakische Parlament am 26. November 2016 vollumfänglich in ein Gesetz betreffend die Volksmobilisierungseinheiten um, welches am 26. Dezember 2016 in Kraft trat. Zusätzlich sah das Gesetz vor, dass der Einsatz der PMF-Milizen an spezifischen Orten der Autorität des Oberbefehlshabers der Streitkräfte unterliegt und das Parlament der Ernennung von Führungsoffizieren der PMF oberhalb eines bestimmten Ranges zustimmen muss (AI, a.a.O., S. 14).
Darüber hinaus nimmt der irakische Staat das (kriminelle) Handeln von Mitgliedern der Mahdi-Armee tatenlos zur Kenntnis. Die tatsächliche Möglichkeit des irakischen Staates, über Befehle und Weisungen auf die PMF Einfluss zu nehmen, beschreibt das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seinem den Irak betreffenden Länderbericht für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 78):
„Obwohl das Milizenbündnis unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die Volksmobilisierung dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Ministerpräsidenten als Oberkommandierendem unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. […] Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert […].“
An anderer Stelle heißt es zu den Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf die PMF in noch deutlicheren Worten (BFA, a.a.O., S. 35, 108):
„Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt.“
„Den staatlichen Stellen ist es nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen, insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht einher mit Repressionen, mitunter auch Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession. Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten (AA 7.2.2017).“
Auch Amnesty International hebt hervor, dass Angehörige der PMF-Milizen nicht der Befehlsgewalt der regulären Truppen unterstellt sind. Die Milizen schienen vielmehr über größere Autorität und Schlagkraft vor Ort zu verfügen als die mitgenommenen Regierungstruppen, die als schwach und ineffektiv gälten (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 17 f.).
Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist zudem insbesondere die irakische Polizei nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen seien hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 07.02.2017, S. 9; BFA, a.a.O., S. 70). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23). Mutmaßliche Rechtsverletzungen schiitischer Milizen vermag die Polizei nicht zu ahnden. Führungskräfte der Polizei sind in Bagdad überdies gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befinden sich überhaupt unter Polizeikontrolle.
Ausgehend von ihrer zahlenmäßigen Größe und ihrem Wirkungsgrad im Südirak handelt es sich bei der Mahdi-Armee selbst bei einer abweichenden Betrachtungsweise zu § 3c Nr. 1 AsylG jedenfalls um eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrscht (§ 3c Nr. 2 Var. 2 AsylG). Der Kläger könnte sich schließlich auch dann nicht auf wirksamen staatlichen Schutz berufen, sofern man die ihm drohende Verfolgung durch die Mahdi-Armee als eine Verfolgung von sonstigen nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG einstufen würde. Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteure sind nämlich, wie dargestellt, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung durch Angehörige der PMF zu bieten.
Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr überdies kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17, S. 7 f.):
„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden.
Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.
Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“
Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass im Fall des Klägers besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, seine Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen.
Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.