Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 14.06.2023, Az.: 3 B 2960/23

Ausschluss; einstweiliger Rechtschutz; Ermessensfehler; Kindertagesstätte; materielle Rechtswidrigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung; mögliche formelle Rechtswidrigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung; Satzung; Teilausschluss; Verhältnismäßigkeit; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Verkürzung der bewilligten Betreuungszeit durch die Gemeinde in einer eigenen Kindertagesstätte auf Grundlage einer Satzung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
14.06.2023
Aktenzeichen
3 B 2960/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 22249
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0614.3B2960.23.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Der jugendhilferechtliche Anspruch eines (ab) dreijährigen Kindes aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII i. V. m. § 20 NKiTaG ist in eine Ermessenserwägung im Hinblick auf einen (Teil-)Ausschluss aus einer Kindertagesstätte durch die betreffende Gemeinde einzubeziehen.

  2. 2.

    Zwar richtet sich der jugendhilferechtliche Anspruch auf Kindertagesbetreuung nicht unmittelbar gegen die einen entsprechenden Betreuungsplatz zur Verfügung stellende Gemeinde selbst, sondern nach § 3 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII i. V. m. § 1 Nds. AG SGB VIII gegen den zuständigen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Allerdings wirkt die betreffende Gemeinde durch die Bereitstellung der Betreuungsplätze bei der Erfüllung dieses Anspruches mit, weil diese mit ihrem Wissen und Wollen in die jugendhilferechtliche Bedarfsplanung eingestellt sind und sie dafür auch öffentliche Förderung nach dem NKiTaG in Anspruch nimmt. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss die Verpflichtung für diese Gemeinde, den gesetzlich unbedingten jugendhilferechtlichen Betreuungsanspruch bei ihren eigenen Entscheidungen zu berücksichtigen, soweit sie geeignet sind, diesen zu verkürzen.

  3. 3.

    Der (Teil-)Ausschluss eines Kindes aus einer Kindertagesstätte darf nur ultima ratio sein, kommt mithin erst in Betracht, wenn alle zur Verfügung stehenden (milderen) Mittel, eine andere (vertretbare) Lösung zu finden, erfolglos ausgeschöpft wurden.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 27. April 2023 (Az. G.) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. April 2023 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die nachträglich durch die Antragsgegnerin angeordnete sofortige Vollziehung eines betreuungstäglichen (Teil-)Ausschlusses aus der Kindertagesstätte ab 12.00 Uhr.

Der 2016 geborene Antragsteller besucht seit dem 6. September 2022 die Kindertagesstätte H. der Antragsgegnerin. Der Aufnahmebescheid der Antragsgegnerin vom 31. August 2022 wies dem Antragsteller eine ursprüngliche tägliche Betreuungszeit von 8.00 bis 14.00 Uhr zu.

Laut einem undatierten Protokoll der Antragsgegnerin (Bl. 6 d. nicht paginierten VV) habe Anfang Februar 2023 ein Elterngespräch zwischen der Einrichtungsleitung, den Eltern des Antragstellers und einem Fachberater der Antragsgegnerin stattgefunden. Hierbei sei ein vom Einrichtungsleiter persönlich beobachteter Vorfall besprochen worden, bei dem der Antragsteller ein anderes Kind, welches ihm den Rücken zugekehrt habe, geschubst und dieses dabei verletzt habe. Da der Antragsteller "bereits mehrfach in dieser Hinsicht auffällig" gewesen sei, sei dessen Eltern eröffnet worden, dass der Antragsteller ab dem 6. Februar 2023 von der Gruppe I. in die Gruppe J. wechseln müsse, "um weiteren Schaden von den Kindern seiner derzeitigen Gruppe abzuwenden". Es sei gegenüber den Eltern des Antragstellers zudem thematisiert worden, dass dieser sich nur schwer (wenn überhaupt) durch die Fachkräfte bei grenzüberschreitendem Verhalten regulieren lasse. Dennoch solle er die Chance erhalten, weiter betreut zu werden, was aber den Gruppenwechsel unabdingbar mache. Es sei den Eltern des Antragstellers in diesem Zusammenhang eröffnet worden, dass ein weiterer "Vorfall", bei dem andere zu Schaden kämen, einen Ausschluss von der Betreuung nach sich ziehen würde. Ob ein solcher eventuell nur von begrenzter Dauer sein würde, müsse im Einzelfall geprüft werden und sei abhängig davon, wie verlässlich der Antragsteller nach einer "Auszeit" auf regulierende Ansprachen der Fachkräfte reagieren würde. Die Eltern des Antragstellers (insbesondere dessen Mutter) hätten über weite Strecken des Gesprächs versucht, "die Vorfälle zu verharmlosen und zu bagatellisieren". Beide hätten die Strukturen in der Einrichtung für das Verhalten des Antragstellers verantwortlich gemacht und suchten die Fehler bei Fachkräften und/oder anderen Kindern. Die Frage nach der "elterlichen Verantwortung" und dem, was sie unternehmen würden, um das Verhalten des Antragstellers zu beeinflussen, sei "eher oberflächlich" beantwortet worden. Der Fachberater habe die Eltern des Antragstellers gebeten, nochmals zu prüfen, was sie unternehmen könnten, um bei diesem eine Verhaltensänderung zu bewirken, und/oder sich ggf. an externe Fachkräfte - wie z. B. einen Kinderarzt - zu wenden. Letztlich sei die Entscheidung der Einrichtungsleitung und des Fachberaters von den Eltern des Antragstellers akzeptiert worden.

Mit Bescheid von Mitte März 2023 (Bl. 9f. d. nicht paginierten VV) erhöhte sich die tägliche Betreuungszeit aufgrund des Umstandes, dass die Mutter des Antragstellers nach der Elternzeit wieder ihre Beschäftigung aufnahm, sodass seitdem eine Betreuung von 8.00 bis 15.00 Uhr stattfand.

Aus einer wiederum undatierten "Dokumentation A." auf Blatt 11f. des Verwaltungsvorgangs geht Folgendes hervor:

Unter der Überschrift "Protokoll Elterngespräch am 02.02.23" wird über das bereits oben Geschriebene hinausgehend ausgeführt, dass der Gruppenwechsel innerhalb der Kindertagesstätte auch vor dem Hintergrund erfolgt sei, dass nunmehr eine Besserung erfolgen solle, bevor es in der Schule schlimmer werde. Dem Antragsteller könne "in der anderen Gruppe angeboten werden, bei hoher Energie rauszugehen und runter zu kommen".

Unter der Überschrift "Protokolle aus der K." wird ausgeführt, dass die ersten Wochen in der neuen Gruppe gut und ohne "große Auseinandersetzungen" verlaufen seien. Es seien mit dem Antragsteller Konsequenzen besprochen und festgelegt sowie Lösungsmöglichkeiten erarbeitet worden.

Am 28. Februar 2023 habe eine körperliche Auseinandersetzung zwischen dem Antragsteller und einem jüngeren Kind stattgefunden. Es sei "eine wilde Situation" gewesen, in der sich der Antragsteller auf das Kind gesetzt und dieses gewürgt habe. Es sei eingegriffen worden. Der Antragsteller habe gesagt, es habe sich um ein Spiel gehandelt. Es habe gewirkt, als sei ihm die Gefahr seiner Taten nicht bewusst. Der Vater des jüngeren Kindes habe um ein Telefonat gebeten, in welchem festgehalten worden sei, dass "mehr Augen" auf den Antragsteller gerichtet würden.

Am 13. März 2023 habe eine Auseinandersetzung zwischen dem Antragsteller und einem gleichaltrigen Jungen stattgefunden. Der Antragsteller habe diesem ins Gesicht geschlagen. In der Einrichtung sei es für das genannte Kind schnell wieder gut gewesen und der Antragsteller habe sich entschuldigt. Zu Hause solle es laut dem Vater des betroffenen Jungen für diesen schlimmer gewesen sein. Es habe ein Telefonat mit diesem Vater stattgefunden, der aufgrund der vermehrten Ereignisse auch eine zuständige Person seitens der Antragsgegnerin habe sprechen wollen. Daraufhin sei beschlossen worden, dass eine Fachkraft immer in der Nähe des Antragstellers sein solle; alles müsse dokumentiert werden.

Am 14. März 2023 habe sich der Antragsteller von hinten auf ein vor ihm sitzendes jüngeres Kind gesetzt. Dieses sei hochgekommen, woraufhin der Antragsteller auf den Kopf gefallen sei und anschließend mit den Füßen so stark gegen das andere Kind getreten habe, dass er selbst mit dem Kopf gegen einen Stuhl gestoßen sei. Erst nach Aufforderung habe er sich entschuldigt, aber wenig Einsicht gezeigt.

Am 22. März 2023 habe er gemeinsam mit einem gleichaltrigen Kind die parkenden und vorbeifahrenden Autos mit Matsch beworfen. Er habe sich gleichgültig gezeigt und es sei ihm schwergefallen, den darauffolgenden Ärger nachzuvollziehen.

Am 24. März 2023 habe er einem gleichaltrigen Kind einen "tieferen Kratzer" am Hals zugefügt. Daraufhin habe ein Gespräch mit dem Einrichtungsleiter, einer Kraft aus der Gruppe des Antragstellers und einem Fachberater der Antragsgegnerin stattgefunden. Die Kraft aus der Gruppe habe berichtet, dass die Situation mit dem Antragsteller vor allem ab dem Mittagessen sichtlich schwieriger werde. Es falle ihm schwer, seine Impulse zu kontrollieren und sich an soziale Regeln zu halten. Grenzen würden missachtet und es scheine ihm gleichgültig zu sein. Daraufhin sei festgelegt worden, dass mit dem Antragsteller ein Gespräch stattfinde und er noch eine Chance erhalte, sich binnen 14 Tagen zu bewähren. Sollte sich die Situation nicht bessern, könne er nur noch bis 12.00 Uhr betreut werden. Dies solle in einem Elterngespräch seitens der Einrichtungsleitung am Folgetag festgehalten werden. Noch am selben Tag habe ein Gespräch zwischen der vorbezeichneten Betreuungskraft und der Mutter des Antragstellers stattgefunden. Erstere habe mitgeteilt, dass der vorbezeichnete Tag ein schwieriger gewesen sei, an dem es viele Auseinandersetzungen mit verschiedenen Kindern gegeben habe. Ein Kind sei stark am Hals gekratzt worden, ohne dass dies eine "Vorgeschichte" gehabt bzw. ein vorheriger Konflikt stattgefunden habe. Die Mutter des Antragstellers habe gefragt, wie letzterer reagiert habe. Eine andere Betreuungskraft, welche die Situation mit den Kindern geklärt habe, habe gesagt, der Antragsteller habe reagiert "wie immer": "war ausversehen, tut mir leid". Die Mutter des Antragstellers habe darauffolgend mit der Einrichtungsleitung telefoniert und von einem anderen Gesprächsinhalt berichtet. Ihre Aussagen hätten nicht mit denen der pädagogischen Fachkräfte übereingestimmt. Ab diesem Tag solle der Antragsteller nur noch bis 12.00 Uhr betreut werden.

Nach der Einschätzung der pädagogischen Fachkräfte sei es schwierig, den Antragsteller ab 12.00 Uhr im Tagesgeschehen zu integrieren. Grenzen müssten immer verbal wiederholt werden. Konsequenzen würden aufgezeigt und umgesetzt, zeigten beim Antragsteller allerdings wenig Wirkung und Einsicht. Die Konzentration und kognitive Aufnahmefähigkeit ließen stark nach. Er sei schnell gereizt, wodurch vermehrt Konflikte mit Kindern und Erwachsenen auftreten würden. Es falle ihm schwer, sich zu regulieren und soziale Regeln einzuhalten. Derzeit seien ab dem Mittagessen nur noch zwei Fachkräfte in der Gruppe, was es noch schwieriger gestalte, immer an der Seite des Antragstellers zu sein. An Tagen, an denen nur zwei Kräfte vor Ort seien, sei es nicht möglich, Pausenzeiten einzuhalten, da sich sonst nur eine Fachkraft in der Gruppe befinde. Personell sei diese Situation "zurzeit nicht sicher und nicht pädagogisch angemessen zu leisten". Es sei anzunehmen, dass dem Antragsteller "eine kleinere Gruppe guttun würde". Alternativ sei eine Fachkraft vonnöten, die ausschließlich für ihn zuständig sei. In der aktuellen Konstellation erfahre der Antragsteller zurzeit überwiegend negative Situationen im Kindergarten.

Ende März 2023 (Bl. 13f. d. nicht paginierten Verwaltungsvorgangs) hörte die Antragsgegnerin die Eltern des Antragstellers zu einem beabsichtigten Ausschluss des Antragstellers ab dem 20. April 2023 von der Betreuung nach 12.00 Uhr in der Kindertagesstätte H. gemäß § 9 Abs. 1 Ziffer 1 ihrer Satzung über die Aufnahme, den Besuch sowie die Benutzungsgebühren für die Kindertagesstätte der Stadt A-Stadt (im Folgenden: Satzung, auf Bl. 40ff. d. A. abgedruckt) an. Diese Satzungsvorschrift regele, dass ein Kind, welches sich nicht in die Gemeinschaft integrieren lasse oder andere Kinder gefährde, vom weiteren bzw. vorübergehenden Besuch der Kindertagesstätte ausgeschlossen werden könne. Im Kern hob die Antragsgegnerin hervor, dass in dem Elterngespräch Anfang Februar 2023 mitgeteilt worden sei, dass der Antragsteller bei weiterem auffälligen Verhalten von der Betreuung in der Kindertagesstätte ausgeschlossen werde. Der Antragsteller habe am 24. März 2023 ein anderes Kind verletzt. Da er dieses Verhalten bisher nur am Nachmittag gezeigt habe, werde von einem Ausschluss vor 12.00 Uhr abgesehen. Der Ausschluss nach 12.00 Uhr sei jedoch nötig, weil eine Gefährdung der übrigen Kinder durch den Antragsteller nicht mehr auszuschließen sei. Sollte bis zum 14. April 2023 keine schriftliche Stellungnahme eingehen, werde der Ausschluss in der vorbezeichneten Form erfolgen.

Einen Tag vor Fristablauf legitimierte sich der jetzige Verfahrensbevollmächtigte für den Antragsteller und bat um Akteneinsicht, um dann zu dem Anhörungsschreiben eine Stellungnahme abgeben zu können.

Aus einem Bericht der zuständigen Schulärztin zur Einschulungsuntersuchung des Antragstellers vom 18. April 2023 (Bl. 63 d. A.) ergibt sich, dass eine Einschulung unter Berücksichtigung der darin enthaltenen schulrelevanten Befunde empfohlen werde; eine Überprüfung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfes sah sie nicht. Die Schulärztin kreuzte an, dass der Sehtest auffällig gewesen sei (Ziffer 1.), "Stifthaltung" (Ziffer 3) und "Konzentration" und "Ausdauer" (Ziffer 7.). Kein Kreuz setzte sie u. a. bei Ziffer 8.: "Sozial-emotionale Entwicklung (z. B. Frustrationstoleranz gering, Trennungsangst, Selbstunsicherheit)".

Mit Bescheid vom 20. April 2023 verfügte die Antragsgegnerin den Ausschluss des Antragstellers ab dem 1. Mai 2023 jeweils ab 12.00 Uhr von der Betreuung. Zur Begründung des Ausschlusses nach § 9 Abs. 1 Ziffer 1 der Satzung führte sie aus, nach Rücksprache mit der Einrichtungsleitung sowie mit dem pädagogischen Fachberater zeige der Antragsteller nachmittags in der Kindertagesstätte H. vermehrt ein auffälliges und teils aggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern, wobei Grenzen wiederholt überschritten worden seien. Er habe bereits mehrfach Kinder angegriffen und verletzt. Eine Gefährdung dieser anderen Kinder könne nicht mehr ausgeschlossen werden. Im Übrigen wiederholte die Antragsgegnerin die Ausführungen aus ihrer Anhörung im Hinblick auf den Vorfall am 24. März 2023 und das alleinige Auftreten eines solchen Verhaltens ab dem Nachmittag.

Erst am 3. Mai 2023 gewährte die Antragsgegnerin dem jetzigen Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers die begehrte Akteneinsicht.

Unter dem 12. Mai 2023 (zugegangen am 13. Mai 2023) ordnete die Antragsgegnerin den Sofortvollzug des in ihrem Bescheid vom 20. April 2023 verfügten Ausschlusses des Antragstellers von der Betreuung ab 12.00 Uhr an. Diese Anordnung enthält eine mit dem o. g. Bescheid wortidentische Begründung.

Erst im gerichtlichen Verfahren reichte die Antragsgegnerin am 22. Mai 2023 eine (weitere) undatierte "Dokumentation A." ein (Bl. 39 d. A.), aus der sich Folgendes ergibt:

Am 18. April 2023 habe der Antragsteller andere Kinder mit Steinen beworfen. Es habe "keine größeren Verletzungen" gegeben. Wiederholt hätten Gespräche mit ihm und den betroffenen Kindern stattgefunden. Er selbst habe angegeben, es habe sich um ein Spiel gehandelt.

Am 24. April 2023 habe der Antragsteller auf dem Außengelände einem Passanten den Mittelfinger gezeigt. Letztgenannter sei darüber aufgebracht gewesen und habe eine Fachkraft informiert. Es habe ein Gespräch mit dem Antragsteller stattgefunden, in welchem dieser keine Einsicht gezeigt habe. Auch seine Eltern hätten sich von diesem Vorfall "unbeeindruckt" gezeigt.

Am 5. Mai 2023 habe der Antragsteller zusammen mit zwei anderen Kindern das Auto eines Mannes mit Matsch beworfen.

Am 11. Mai 2023 habe er die Kindereingangstür mit Matsch beworfen. Als Konsequenz habe er diese selbst reinigen müssen, wobei er wenig Einsicht gezeigt und dabei gelacht habe.

Am 15. und 16. Mai 2023 habe der Antragsteller Kinder mit Steinen und Stöcken beworfen. Es habe am ersten Tag mehrere Verwarnungen gegeben, die dann eine "Auszeit" nach sich gezogen hätten. Der Antragsteller habe keine Einsicht gezeigt und sein Verhalten am Folgetag wiederholt. Zudem habe er andere Kinder grundlos geschubst und gehauen. Diese hätten sich in einer Vielzahl über sein Verhalten beschwert.

Es sei weiterhin sehr schwer, den Antragsteller in den Gruppenalltag zu integrieren. Er nehme kaum bis gar nicht an Aktionen teil und verbringe die Zeit überwiegend draußen. Durch die personelle Lage sei dieser Zustand für die Fachkräfte "nicht zu leisten". Der Antragsteller benötige mehr Unterstützung, was in der bestehenden "Großgruppe" nicht möglich sei. Er sei sehr "reizoffen", was ihm den Gruppenalltag mit 23 anderen Kindern sehr erschwere. Derzeit müsse er immer öfter vom Gruppenalltag ausgeschlossen werden, um die anderen Kinder zu schützen.

Bereits am 27. April 2023 hat der Antragsteller gegen den Bescheid vom 20. April 2023 Klage erhoben (Az. G.) und am 16. Mai 2023 um einstweiligen Rechtsschutz gegen die Anordnung des Sofortvollzuges vom 12. Mai 2023 nachgesucht. Er meint, der Bescheid sei schon deshalb rechtswidrig, da eine Anhörung unterblieben sei. Auch bestehe für § 9 der Satzung keine Rechtsgrundlage, zumal sich sein Betreuungsanspruch aus dem Gesetz ergebe. Zudem sei im Hinblick auf den angeordneten Sofortvollzug ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse, welches das private Aussetzungsinteresse überwiege, weder gegeben noch vorgetragen. Er behauptet, der letzte Vorfall datiere vom 24. März 2023, und bestreitet, dass sich dieser wie von der Antragsgegnerin behauptet ereignet habe. Dieser Vorfall sei von keinem Erzieher beobachtet worden. Vielmehr sei dieser lediglich von dem verletzten Kind geschildert worden. Sein Vater - der des Antragstellers - habe den Kratzer zwar gesehen, seine Mutter - die des Antragstellers - habe ihn aber nicht erkennen können, wobei sie allerdings nicht direkt bei dem verletzten Kind gestanden habe. Es habe sich aber jedenfalls nicht um eine schwerwiegende Verletzung gehandelt. Selbst wenn es diesen Vorfall jedoch gegeben haben sollte, so gehe aus der Dokumentation nicht hervor, dass er sich nicht lediglich gegen einen Angriff des anderen Jungen gewehrt habe. Die von der Antragsgegnerin dokumentierten Vorfälle vom 28. Februar und 13. März 2023 seien seiner Mutter nicht bekannt. Sie sei darüber nicht informiert worden. Der Vorfall vom 14. März 2023 sei ihr zwar bekannt, allerdings nur insoweit, dass er - der Antragsteller - auf einem anderen Kind gelegen habe und beide umgefallen seien. Mehr wisse sie nicht. Sie habe keine Kenntnis darüber, dass er nachgetreten haben soll. Er - der Antragsteller - ist der Auffassung, dass in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sei, dass der Ausschluss erst einen knappen Monat und die Anordnung der sofortigen Vollziehung weitere drei Wochen später erfolgt seien. Allein dieser zeitliche Ablauf belege, dass der gegen ihn ausgesprochene Teilausschluss rechtswidrig sei und ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse schon vor diesem Hintergrund nicht bestehen könne. Schließlich behauptet er, es gehe aus der Dokumentation der Antragsgegnerin hervor, dass ihm nach dem von ihr behaupteten Vorfall am 24. März 2023 noch "eine Chance von 14 Tagen" gegeben worden sei. Danach sei ein Ausschluss ab 12.00 Uhr nur dann beabsichtigt gewesen, wenn er diese Chance nicht genutzt hätte. Es habe aber nach diesem Datum keinen weiteren Vorfall gegeben, bei dem ein anderes Kind angegriffen worden sei. Es sei zwar richtig, dass er danach zunächst im Urlaub gewesen sei. Er sei dann aber (unbestritten) ab dem 11. April wieder in der Kindertagesstätte gewesen. Er bestreitet in diesem Zusammenhang, am 18. April 2023 Steine auf andere Kinder geworfen zu haben. Vielmehr habe er Steine lediglich auf einen Baum geworfen, was in der Kindertagesstätte erlaubt sei. Dieser Vorgang sei seiner Mutter auch so von der Erzieherin mit dem Vornamen L. beim Abholen geschildert und im Nachgang telefonisch bestätigt worden. Dass er am 15. und 16. Mai 2023 andere Kinder mit Stöcken und Steinen beworfen habe, sei zu keiner Zeit kommuniziert worden. Da zuvor und danach alle Vorkommnisse jedenfalls beim Abholen angesprochen worden seien, sei davon auszugehen, dass an den vorbezeichneten Tagen keine gravierenden Vorkommnisse stattgefunden haben könnten. Dass die Schulärztin gerade kein Kreuz bei Ziffer 8. "Sozial-emotionale Entwicklung (z. B. Frustrationstoleranz gering, Trennungsangst, Selbstunsicherheit)" des Bewertungsbogens gesetzt habe, spreche dafür, dass gerade die Probleme, die seitens der Antragsgegnerin geschildert würden, bei ihm nicht bestünden. Die Schulärztin habe seiner Mutter versichert, dass mit diesem alles in Ordnung sei und sie keine Probleme sehe. Es sei auch üblich, dass Kinder vor dem Wechsel in die Schule unter einer gewissen Verunsicherung litten, die auch zu Aufregung führe, was dann als Folge habe, dass "gewisse Probleme" auftreten würden.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 27. April 2023, Az. G., gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. April 2023 wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt (konkludent),

den Antrag abzulehnen.

Sie behauptet, unmittelbar nach dem Vorfall am 24. März 2023 tätig geworden zu sein, indem sie vier Tage später die Anhörung an die Eltern des Antragstellers versendet habe. Insofern ist sie der Auffassung, dass sie eine Anhörung ordnungsgemäß durchgeführt habe. Es sei schlichtweg keine Äußerung innerhalb der von ihr gesetzten Frist erfolgt. Die am 13. April 2023 durch den Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers ersuchte Akteneinsicht habe insofern "keine aufschiebende Wirkung". Aus dem NKomVG ergebe sich zudem, dass sie das Recht habe, per Satzung einen Tatbestand für den Ausschluss eines Kindes aus der Kindertagesstätte zu schaffen. Nach § 9 Abs. 1 Ziffer 1 sei sogar ein vollständiger Ausschluss möglich gewesen. Sie habe aber aufgrund der vorliegenden Gefährdungslage erst ab dem Nachmittagsbereich von einem solchen abgesehen. Dadurch solle dem Antragsteller die Möglichkeit gegeben werden, weiterhin an den die SchulanfängerInnen betreffenden Angeboten in der Kindertagesstätte teilzunehmen. Das überwiegende öffentliche Vollzugsinteresse bestehe darin, dass sie nicht nur das Wohl eines einzelnen Kindes, sondern das aller Kinder der betreffenden Gruppe der Kindertagesstätte H. zu berücksichtigen habe. Da es wiederholt zu Gefährdungen und Verletzungen von anderen Kindern der Kindergartengruppe durch den Antragsteller gekommen sei, stünde zu befürchten, dass dies auch so bleibe. Sie behauptet, es stehe keine andere geeignete Maßnahme zur Verfügung, eine solche Gefährdung auszuschließen bzw. dieser vorzubeugen. Der Personalschlüssel einer Kindertagesstätte sehe auch nicht vor, dass ein einzelnes Kind eine pädagogische Fachkraft binde, sondern dass diese für die gesamte Gruppe zuständig sei. Unter den bisherigen Umständen könne der Gruppenalltag nicht in normalem Umfang, auch nicht für die übrigen Kindergartenkinder, stattfinden. Sie bestreitet, dass der Antragsteller die 14-tägige "Frist (Chance)", welche ihm nach dem Vorfall am 24. März 2023 eingeräumt worden sei, genutzt habe. Vielmehr sei dieser vom 27. März bis einschließlich zum 10. April 2023 in den Osterferien gewesen. Bereits eine Woche später hätten erneute Vorkommnisse stattgefunden. Schließlich ist sie der Meinung, es sei zu berücksichtigen, dass sie in ihrem Bescheid vom 20. April 2023 den Ausschluss erst ab dem 1. Mai 2023 ausgesprochen habe, da sie auch den Postweg habe berücksichtigen müssen. Erst als der Antragsteller nach diesem Datum die Einrichtung zeitweise länger als bis 12.00 Uhr besucht habe, sei nachträglich die sofortige Vollziehung angeordnet worden.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges sowie auf die Niederschrift des Sitzungsprotokolls zum Erörterungstermin vom 6. Juni 2023 (Bl. 68ff. d. A.) Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag des Antragstellers ist auch begründet.

Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das private Aufschubinteresse des Antragstellers bzw. der Antragstellerin einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts andererseits. Diese Interessenabwägung fällt regelmäßig zu Gunsten des Antragstellers bzw. der Antragstellerin aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, weil am sofortigen Vollzug eines solchen Verwaltungsakts kein überwiegendes öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich demgegenüber der Verwaltungsakt - bei zumindest summarischer Prüfung - als (voraussichtlich) rechtmäßig, geht die Interessenabwägung in Fällen, in denen die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO im Gesetz selbst angeordnet ist, regelmäßig zu Lasten der Antragstellerin bzw. des Antragstellers aus, da in diesen Fällen das öffentliche Interesse am Vollzug des Verwaltungsaktes auf Grund der gesetzlichen Festlegung der sofortigen Vollziehbarkeit das private Aufschubinteresse in aller Regel überwiegt. In Fällen, in denen - wie vorliegend - die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes nicht im Gesetz selbst, sondern gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO von der Behörde angeordnet ist, hat eine weitergehende gerichtliche Prüfung zu erfolgen, ob die Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO vorliegen und ob inhaltlich die Aufrechterhaltung der behördlicherseits angeordneten sofortigen Vollziehung der angegriffenen Entscheidung insbesondere unter Berücksichtigung davon betroffener Grundrechtspositionen des Antragstellers bzw. der Antragstellerin mit Blick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG gerechtfertigt erscheint.

Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben erweist sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung des an den Antragsteller gerichteten Bescheides vom 20. April 2023 vom 12. Mai 2023 als rechtswidrig.

1.

Fraglich ist schon, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 12. Mai 2023 die formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO erfüllt. Danach ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Dabei sind an den Inhalt der Begründung keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist gleichwohl eine auf den konkreten Einzelfall abstellende, nicht lediglich formelhafte Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80, Rn. 85 m. w. N.). Da das Interesse an der sofortigen Vollziehung im Regelfall über dasjenige Interesse hinausgehen muss, dass den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigt, müssen zur Begründung regelmäßig andere Gründe angeführt werden als zur Rechtfertigung des Verwaltungsakts (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19. Juni 1991 - 4 M 43/91 -, Rn. 18ff., juris). Zum Zwecke der Vereinfachung kann aber auf die Begründung des Verwaltungsaktes Bezug genommen oder die dort bereits genannte Begründung wiederholt werden (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. September 2003 - 13 B 1313/03 -, Rn. 1, juris), wobei jedoch aus der Begründung in einem solchen Fall auch die Erwägungen der Behörde zum besonderen Interesse an der sofortigen Vollziehung deutlich hervorgehen müssen (vgl. BeckOK VwGO/Gersdorf, 65. Ed. 1. Juli 2021, VwGO, § 80, Rn. 88). Außerdem muss die Behörde in einem solchen Fall deutlich machen, dass sie in der Begründung des Verwaltungsakts auch die Gründe für die Anordnung der sofortigen Vollziehung sieht (vgl. Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26. Oktober 1990 - 2 B 12027/90 -, juris).

Vorliegend ist die Begründung der nachträglich angeordneten sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 20. April 2023 wortlautidentisch mit derjenigen des Bescheides selbst. Es stellt sich deshalb für die Kammer die Frage, ob der Antragsgegnerin bewusst war, dass es grundsätzlich eines über den Erlass des vorbezeichneten Bescheides hinausgehenden öffentlichen Interesses an der Anordnung der sofortigen Vollziehung bedarf. Die Begründung enthält insofern keinen Anhalt dafür, nicht einmal einen etwaigen Zusatz, dass im vorliegenden Fall eine Sonderkonstellation gegeben sei, in der sich ausnahmsweise die Gründe für den Erlass des Verwaltungsaktes mit denjenigen der Anordnung der Sofortvollzuges decken. Zum Aufschubinteresse des Antragstellers enthält die Anordnung des Sofortvollzuges keinerlei Ausführungen.

2.

Die Anordnung des Sofortvollzuges erweist sich unabhängig davon jedenfalls als materiell rechtswidrig, da der Bescheid vom 20. April 2023 ermessensfehlerhaft ergangen ist; insbesondere erweist sich der darin verfügte Ausschluss als unverhältnismäßig.

Rechtsgrundlage des von der Antragsgegnerin verfügten (Teil-)Ausschlusses ist § 9 Abs. 1 Ziffer 1 der Satzung. Danach kann ein Kind, welches sich nicht in die Gemeinschaft integrieren lässt oder andere Kinder gefährdet, vom weiteren bzw. vorübergehenden Besuch der Kindertagesstätte ausgeschlossen werden. Diese Satzungsnorm ist - entgegen der Auffassung des Antragstellers - rechtmäßig und damit dem Grunde nach anwendbar. Das Recht einer Gemeinde, Vorschriften über die Benutzung einer von ihr betriebenen Kindertagesstätte - dabei auch mögliche Ausschlussgründe - zu erlassen, ergibt sich aus ihrer kommunalverfassungsrechtlich garantierten Satzungshoheit in Bezug auf die Benutzung eigener (öffentlicher) Einrichtungen (vgl. § 10 Abs. 1 i. V. m. 30 NKomVG sowie Art. 28 Abs. 2 GG). Auch in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung des § 9 Abs. 1 Ziffer 1 der Satzung hat die Kammer keine Bedenken.

Die Antragsgegnerin hat jedoch ihr in dieser Satzungsnorm statuiertes Ermessen ("kann") fehlerhaft ausgeübt.

a)

Die Antragsgegnerin hat in fehlerhafter Art und Weise nicht in ihre Ermessensabwägung einfließen lassen, dass durch den Teilausschluss der Anspruch des Antragstellers auf Förderung in einer Tageseinrichtung gemäß § 24 Abs. 3 SGB VIII i. V. m. § 20 NKiTaG tangiert ist.

Der jugendhilferechtliche Anspruch eines (ab) dreijährigen Kindes aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII i. V. m. § 20 NKiTaG umfasst die Förderung in einer Tageseinrichtung in einem Umfang von sechs Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche (Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 15. Dezember 2021 - 10 ME 170/21 -, juris), weshalb dieser durch die von der Antragsgegnerin verfügte Verminderung der Betreuungszeit auf täglich vier Stunden an fünf Tagen in der Woche nicht mehr vollständig gedeckt ist.

Dieser Umstand wäre in die von der Antragsgegnerin zu treffende Ermessenserwägung einzustellen gewesen - insbesondere, da der Teilausschluss auf Dauer angelegt ist - (vgl. hierzu: Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 3. April 2017 - 3 EO 66/17 -, Rn. 13, juris).

Zwar richtet sich der jugendhilferechtliche Anspruch des Antragstellers auf Kindertagesbetreuung nicht unmittelbar gegen die Antragsgegnerin selbst, sondern nach § 3 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII i. V. m. § 1 Nds. AG SGB VIII gegen den Beigeladenen als zuständigen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (vgl. Wiesner/Wapler/Struck/Schweigler, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 24 Rn. 19f.). Allerdings wirkt die Antragsgegnerin durch die Bereitstellung der Betreuungsplätze bei der Erfüllung dieses Anspruches mit, weil diese mit ihrem Wissen und Wollen in die jugendhilferechtliche Bedarfsplanung eingestellt sind und sie dafür auch öffentliche Förderung nach dem NKiTaG in Anspruch nimmt. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss die Verpflichtung für die Antragsgegnerin, den gesetzlich unbedingten jugendhilferechtlichen Betreuungsanspruch bei ihren eigenen Entscheidungen zu berücksichtigen, soweit sie geeignet sind, diesen zu verkürzen.

b)

Weiterhin ist in die Ermessenserwägungen fehlerhaft nicht mit einbezogen worden, dass der Antragsteller ohnehin bereits im August 2023 in die Schule kommt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es innerhalb der Einrichtung nicht zumutbar gewesen wäre, für den überschaubaren Zeitraum bis zum regulären Ausscheiden des Antragstellers aus der Einrichtung "alle Kräfte zu bündeln", um in besonderem Maße auf den Antragsteller einzugehen und damit möglichen Gefühlsausbrüchen o. ä. vorzubeugen, oder jedenfalls für einen kurzen Zeitraum eine zusätzliche Kraft für die betroffene Gruppe zu erhalten. Dass diese Möglichkeiten objektiv nicht zur Verfügung stünden oder mit einem auch unter Berücksichtigung der mit dem Teilausschluss verbundenen Verkürzung des jugendhilferechtlichen Betreuungsanspruchs unverhältnismäßigen Aufwand verbunden wären, hat die Antragsgegnerin nicht ausreichend dargelegt.

c)

Zudem ist in das Ermessen der Antragsgegnerin nicht erkennbar eingeflossen, welche psychischen Auswirkungen der Teilausschluss auf den Antragssteller haben und wie man darauf ggf. reagieren könnte. Weiterhin sind auch die Auswirkungen des Teilausschlusses auf das familiäre System des Antragstellers, insbesondere auf die von den Kindeseltern ausgeübten beruflichen Tätigkeiten, nicht in die Ermessensbetätigung eingeflossen. Die gesetzliche Einräumung eines unbedingten Betreuungsanspruchs im Umfang von betreuungstäglich sechs Stunden dient aber gerade auch dazu, die Vereinbarkeit von familiären Verpflichtungen und einer Berufsausübung der Erziehungsberechtigten zu ermöglichen.

d)

Darüber hinaus dürfte sich der Bescheid vom 20. April 2023 auch als rechtswidrig erweisen, da der verfügte Teilausschluss sich nach summarischer Prüfung der Sachlage nach bisherigem Sach- und Streitstand vor dem Hintergrund des durch die Antragsgegnerin zu beachtenden allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) als nicht verhältnismäßig erweist.

Der (Teil-)Ausschluss eines Kindes aus einer Kindertagesstätte darf nur "ultima ratio" sein, kommt mithin erst in Betracht, wenn alle zur Verfügung stehenden (milderen) Mittel, eine andere (vertretbare) Lösung zu finden, erfolglos ausgeschöpft wurden.

Dass der (Teil-)Ausschluss erst das letzte Mittel sein darf, gilt schon vor dem Hintergrund des o. g. Rechtsanspruches des Antragsgegners auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass ein Ausschluss für das betroffene Kind eine gravierende Maßnahme darstellt, welche zu erheblichen psychischen Belastungen führen kann. Weiterhin ist auch das Betreuungsinteresse der Kindeseltern zu berücksichtigen.

Auf Nachfrage des Berichterstatters im Erörterungstermin vom 6. Juni 2023, ob seitens der Antragsgegnerin alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden seien, ggf. auch die Durchführung einer Supervision, um zu reflektieren, was in der Einrichtung mit dem Antragsteller passiere, und von außen noch einmal einen "Input" zu geben, teilte deren Vertreterin mit, dass es noch möglich wäre, ein "Beratungsteam" in die Einrichtung zu schicken. Demnach hat die Antragsgegnerin jedenfalls dieses ihr zu Verfügung stehende Mittel nicht genutzt, aber auch nicht dargelegt, dass davon keine positive Veränderung der Situation zu erwarten wäre. Es ist auch nicht ersichtlich, dass bzw. in welchem Umfang versucht worden wäre, den Antragsteller weniger Reizen auszusetzen, damit es eventuell vermieden werden könnte, dass dieser ab 12.00 Uhr in eine Situation kommt, in der er aus etwaiger Überforderung gewalttätig wird. Lediglich auf Blatt 11 des nicht paginierten Verwaltungsvorgangs ist festgehalten, dass dem Antragsteller ab dem Gruppenwechsel vom 6. Februar 2023 "in der anderen Gruppe angeboten werde(n), bei hoher Energie rauszugehen und runter zu kommen". Dass bzw. ob dies tatsächlich erfolgt ist, ergibt sich aus dem Verwaltungsvorgang nicht. Auch enthält dieser keinen sonstigen Hinweis darauf, dass sich die Antragsgegnerin damit auseinandergesetzt hätte, ob bzw. dass sie selbst möglicherweise eigene Steuerungsmöglichkeiten hätte, den Antragsteller davor zu bewahren, für ihn zu starken Reizen ausgesetzt zu sein. Weshalb die ersten Wochen nach dem Gruppenwechsel aus Sicht der Antragsgegnerin unproblematisch verliefen, es dann aber in der Folge wieder zu Vorfällen gekommen sei, hat die Antragsgegnerin auch nicht erkennbar evaluiert. Die Mutter des Antragstellers hat - bislang unwidersprochen - im Erörterungstermin vom 6. Juni 2023 ausgeführt, sie habe in der Einrichtung auch schon einmal angesprochen, ob der Antragsteller dort nicht irgendwie die Möglichkeit haben könne, eine Höhle zu bauen oder etwas Ähnliches, um sich zurückzuziehen. Dies sei aber zurückgewiesen worden. Es lässt sich für das Gericht nicht erkennen, dass mit den Eltern des Antragstellers besprochen worden wäre, welche Möglichkeiten bestehen, den Antragsteller "reizarmer" zu betreuen bzw. zu verhindern, dass dieser ab 12.00 Uhr "überreizt" ist. Aus dem Verwaltungsvorgang und dem Vortrag im gerichtlichen Verfahren lässt sich lediglich entnehmen, dass zwei (gezielte) Elterngespräche stattgefunden hätten, in denen es ausschließlich um das Verhalten des Antragstellers und die Steuerungsmöglichkeiten von dessen Eltern gegangen sei.

3.

Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob die weitestgehend durch den Antragssteller bestrittenen Vorwürfe der Antragsgegnerin überhaupt in der Sache zutreffen. In Bezug auf die entsprechende Dokumentation der Antragsgegnerin ist allerdings anzumerken, dass aus dieser nicht hervorgeht, wer die darin beschriebenen Vorfälle jeweils beobachtet haben soll. Vielmehr handelt es sich bei der Dokumentation um zwei Schriftstücke (Bl. 11 des nicht paginierten VV sowie Bl. 39 d. A.), in denen die Vorfälle jeweils in chronologischer Reihenfolge aufgelistet sind. Dabei ist allerdings nicht erkennbar, wer sie verfasst hat. Im Hinblick auf die zweitgenannte Dokumentation ist zudem zu bemerken, dass diese nicht im Verwaltungsvorgang enthalten ist und dementsprechend erst während des gerichtlichen Verfahrens und nach der Anordnung des Sofortvollzuges erstellt worden sein dürfte. Die darin enthaltenen Vorwürfe sind auch weder im Bescheid vom 20. April 2023 noch in der Anordnung des Sofortvollzuges vom 12. Mai 2023 aufgegriffen worden, obgleich die Antragsgegnerin dem Antragsteller unstreitig nach dem 24. März 2023 eine letzte "Bewährungschance" von 14 Tagen gegeben hatte. Das letzte Ereignis, auf das die Antragsgegnerin in ihren angegriffenen Entscheidungen selbst abgestellt hatte, ist demgegenüber das vom 24. März 2023.

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.