Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.06.2004, Az.: 12 LB 51/04
Büropersonal; Empfangsbekenntnis; Fehlverhalten; Frist; Organisationsverschulden; Verschulden; Wiedereinsetzung; Zustellung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 30.06.2004
- Aktenzeichen
- 12 LB 51/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 50973
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 26.11.2003 - AZ: 2 A 277/03
Rechtsgrundlagen
- § 60 VwGO
- § 73 Abs 3 S 2 VwGO
- § 5 Abs 2 VwZG
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich dagegen, dass die Beklagte ihr für November 2001 lediglich Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anstelle der begehrten Leistungen entsprechend dem Bundessozialhilfegesetz gewährt hat, und begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Leistungsbewilligung gemäß § 2 Abs. 1 AsylblG i.V.m. §§ 11 ff. BSHG.
Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige. Sie hält sich seit Juli 1998 in Deutschland auf und bezieht seit September 1998 Grundleistungen nach §§ 3 ff. AsylblG. Ihr Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte ist rechtskräftig abgelehnt, ihr Aufenthalt in Deutschland wird seit geraumer Zeit geduldet.
Im November 2001 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Ausstellung eines weiteren Leistungsbescheides über die ihr gewährte Hilfe. Mit Bescheid vom 9. November 2001 bewilligte die Beklagte für November 2001 - weiterhin - Grundleistungen nach § 3 ff. AsylblG. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch mit der Begründung, dass sie gemäß § 2 Abs.1 AsylblG Leistungen entsprechend dem Bundessozialhilfegesetz beanspruchen könne, da sie seit über 36 Monaten Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen habe und ihrer Abschiebung rechtliche Hinderungsgründe entgegenstünden.
Die Bezirksregierung Braunschweig wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2003 mit der Begründung zurück, die Klägerin könne freiwillig ausreisen. Die Bezirksregierung stellte den Widerspruchsbescheid dem vormaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis zu. Ausweislich des Eingangsstempels der Kanzlei des vormaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin ging der Widerspruchsbescheid dort am 6. Juni 2003 ein. Das zugehörige Empfangsbekenntnis unterschrieb der vormalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 10. Juni 2003 und sandte es an die Bezirksregierung Braunschweig zurück.
Am 10. Juli 2003 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 9. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 4. Juni 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr ab November 2001 gemäß § 2 AsylblG i.V.m § 11 ff BSHG Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Urteil des Einzelrichters vom 26. November 2003 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Klage sei unzulässig, da die Klägerin die einmonatige Klagefrist des § 74 VwGO versäumt habe. Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehene Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2003 sei dem vormaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 6. Juni 2003 zugestellt worden, die Klagefrist sei dementsprechend am Montag, den 7. Juli 2003 abgelaufen.
Auf den Antrag der Klägerin hat der Senat mit Beschluss vom 6. Februar 2004 die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils - unter Bezug auf die durch dieses angenommene Verfristung der Klage - zugelassen. Dieser mit einem Hinweis auf die einmonatige Berufungsbegründungsfrist des § 124 Abs. 6 Satz 1 VwGO versehene Beschluss ist dem jetzigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 12. Februar 2004 zugestellt worden.
Nachdem eine Begründung der zugelassenen Berufung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist nicht eingegangen war, hat der Berichterstatter die Klägerin mit einem ihr am 23. März 2004 zugegangenen Schreiben auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen.
Mit Schriftsatz vom 30. März 2004 hat die Klägerin die Berufung unter Wiederholung ihres Vortrages aus dem Zulassungsverfahren sowie unter Verweis auf die Erkrankung ihres Ehemannes begründet und zugleich hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO begehrt. Im Hinblick auf den Wiedereinsetzungsantrag trägt die Klägerin vor, sie habe die Berufungsbegründungsfrist aufgrund eines ihr nicht zurechenbaren Verschuldens der erfahrenen, in ihrer Tätigkeit regelmäßig überwachten Bürovorsteherin ihres Prozessbevollmächtigten versäumt. Obwohl ihr Prozessbevollmächtigter die Eintragung der Berufungsbegründungsfrist in den Fristenkalender verfügt habe, sei die Akte aufgrund eines nicht mehr aufklärbaren Versehens unbearbeitet in den Aktenschrank zurückgehängt worden. Dies hat die Bürovorsteherin des Prozessbevollmächtigten an Eides statt versichert.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 26. November 2003 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. November 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 4. Juni 2003 zu verpflichten, ihr ab November 2001 gemäß § 2 AsylblG i.V.m. §§ 11 ff. BSHG Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass Gründe, die einer freiwilligen Ausreise der Klägerin entgegenstehen könnten, nicht ersichtlich seien. Zu der Frage einer Verfristung der erhobenen Klage in erster Instanz und dem Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist nimmt die Beklagte nicht Stellung.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter anstelle des Senats einverstanden erklärt. Sie haben übereinstimmend beantragt, das Verfahren gemäß § 130 Abs. 2 VwGO an das Verwaltungsgericht Göttingen zurückzuverweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Bezirksregierung Braunschweig verwiesen. Die Unterlagen sind Grundlage der Entscheidungsfindung des Gerichts gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, über die der Berichterstatter des Senats mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 87a Abs. 2 u. 3, 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und führt gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht.
Die Berufung ist nicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist des § 124 Abs. 6 Satz 1 VwGO zu verwerfen. Zwar ist ein die Begründung des zugelassenen Rechtsmittels enthaltender anwaltlicher Schriftsatz erst am 30. März 2004 und damit nach Ablauf der einmonatigen Berufungsbegründungsfrist am 12. März 2004 bei dem Oberverwaltungsgericht eingereicht worden. Der Klägerin ist jedoch gemäß § 60 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der gesetzlichen Frist des § 124 Abs. 6 Satz 1 VwGO zu gewähren.
Die Klägerin war ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert. Dies ist durch die eidesstattliche Versicherung der Bürovorsteherin des Prozessbevollmächtigten der Klägerin und durch dessen anwaltliche Erklärung gemäß § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO glaubhaft gemacht. Aus beiden Schilderungen ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seine seit langem in seiner Kanzlei beschäftigte Bürovorsteherin zur Eintragung der von ihm zutreffend berechneten Berufungsbegründungsfrist in den Fristenkalender angewiesen hat, diese die Eintragung der Frist jedoch versäumt hat, so dass die entsprechende Akte unbearbeitet in den Aktenschrank zurückgehängt wurde. Ein solches Fehlverhalten einer Hilfsperson ihres Prozessbevollmächtigten hat die Klägerin nicht zu vertreten (vgl. dazu allgemein: Kopp/ Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 60, Rn. 21).
Ein Organisationsverschulden ihres Prozessbevollmächtigten, das der Klägerin nach § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbar wäre, liegt nicht vor. Ein Rechtsanwalt kann die Notierung von gewöhnlichen Rechtsmittelfristen gut ausgebildetem und sorgfältig beaufsichtigtem Büropersonal überlassen. Er muss auch nicht in jedem Einzelfall überprüfen, ob die von ihm veranlasste Eintragung in den Fristenkalender tatsächlich vorgenommen wurde. Es reicht aus, dass er die eigenständige Umsetzung dieser Tätigkeiten durch sein Personal regelmäßig kontrolliert und überwacht (Kopp/ Schenke, a.a.O., § 60, Rn. 21 m.w.N.; zu schärferen Anforderungen für Fristen in vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren: BVerwG, Beschl. v. 7.3.1995 - BVerwG 9 C 390/94 -, NJW 1995, 2122 f). Dass dies durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin geschehen ist, ist glaubhaft gemacht.
Die für die Wiedereinsetzung geltende zweiwöchige Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO hat die Klägerin eingehalten. Während dieser Frist hat sie entsprechend dem Erfordernis des § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO die versäumte Rechtshandlung in Gestalt der Begründung der zugelassenen Berufung nachgeholt.
In der Sache kann das erstinstanzliche Urteil keinen Bestand haben, da es fehlerhaft und deshalb aufzuheben ist. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die einmonatige Klagefrist des § 74 VwGO, die mit der Zustellung des Widerspruchsbescheides beginnt, bei Einreichung der Klage am 10. Juli 2003 bereits verstrichen war. Denn der Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2003 ist der Klägerin (erst) am 10. Juni 2003 nach § 73 Abs. 3 Satz 2 VwGO i.V.m. § 5 Abs. 2 VwZG gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden.
Entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts erfolgte die Zustellung des Widerspruchsbescheides nicht bereits durch den mittels Stempelaufdruckes dokumentierten Eingang in der Kanzlei des vormaligen Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 6. Juni 2003 (dem Freitag vor Pfingsten). Die Zustellung wurde vielmehr erst in dem Zeitpunkt bewirkt, in dem der Prozessbevollmächtigte das dem Widerspruchsbescheid beiliegende Empfangsbekenntnis unterschrieb, mithin am 10. Juni 2003 (dem Dienstag nach Pfingsten).
Nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 2 VwZG genügt als Nachweis der Zustellung das mit Datum und Unterschrift versehene Empfangsbekenntnis, das an die Behörde zurückzusenden ist. Hieraus wird in Rechtsprechung und Literatur - soweit ersichtlich einhellig - hergeleitet, dass die Zustellung in dem Zeitpunkt stattfindet, in dem der Rechtsanwalt das Schriftstück entgegennimmt und durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses den Willen äußert, das Schriftstück als zugestellt anzunehmen. Erst durch die Unterschrift ist das zugesandte Schriftstück als zugestellt zu behandeln, dies ist Sinn und Zweck der Unterschrift unter ein Empfangsbekenntnis (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 27.3.2001, - 2 BvR 2211/97 -, NJW 2001, 1563 f; BVerwG, Urt. v. 17.5.1979, - BVerwG 2 C 1/79 -, BVerwGE 58, 107, 108 ff ; Beschl. v. 7.5.2002 - BVerwG 3 B 114/01 , Buchholz 340, § 5 VwZG, Nr. 20; Meissner, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner (Hrsg.), VwGO, Loseblattsammlung, Stand: September 2003, § 56, Rn. 39; Sadler, VwVG-VwZG, 5. Aufl., § 5, Rn. 39 VwZG).
Dieser Handhabung kann nicht entgegengehalten werden, dass sie - wenn nicht in dem hier zu Entscheidung stehenden Fall, so doch allgemein - eine hohe Missbrauchsgefahr in sich berge, weil es der Rechtsanwalt in der Hand habe, die durch die Zustellung in Lauf gesetzte Frist hinauszuschieben. Der Gesetzgeber hat der Rechtsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege ein erhöhtes Vertrauen entgegengebracht und nimmt daher die Gefahr eines Missbrauchs im Einzelfall in Kauf (BVerwG, Urt. v. 17.5.1979, - 2 C 1/79 -, a.a.O.). Dem Zustellenden bleibt es ohnehin unbenommen, im Fall einer konkreten Besorgnis auf die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis zu verzichten und so die Gefahr eines Missbrauchs auszuschließen.
Der Senat sieht von einer abschließenden Sachentscheidung ab und verweist das Verfahren stattdessen gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO an das Verwaltungsgericht zurück. Nach dieser Vorschrift kann das Oberverwaltungsgericht eine Sache, in der das Verwaltungsgericht noch nicht über den materiellen Streitgegenstand entschieden hat und deren weitere Verhandlung erforderlich ist, auf Antrag eines Beteiligten unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils an das Verwaltungsgericht zurückverweisen. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Das Verwaltungsgericht hat eine Entscheidung in der Sache über die zwischen den Beteiligten streitige Frage eines Anspruches der Klägerin auf Leistungen entsprechend dem Bundessozialhilfegesetz noch nicht getroffen, da es die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen hat. Dementsprechend ist ein weiteres Verhandeln erforderlich, weil die im Rahmen des § 2 Abs. 1 AsylbLG entscheidungserhebliche Problematik einer etwaigen Unmöglichkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bzw. einer freiwilligen Ausreise der Klägerin einer bisher nicht vorgenommenen sachlichen Prüfung unterzogen werden muss. Schließlich haben beide Beteiligten die Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht beantragt.
Die Zurückverweisung erweist sich sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch unter demjenigen des effektiven Rechtsschutzes (vgl. dazu: Kopp/Schenke, a.a.O., § 130, Rn. 6; Meyer - Ladewig, in: Schoch/ Schmidt - Aßmann/ Pietzner (Hrsg.), a.a.O., § 130, Rn. 11) als sachgerecht. Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass das hier zur Entscheidung stehende Verfahren in engem Zusammenhang mit dem bei dem Verwaltungsgericht anhängigen ausländerrechtlichen Verfahren zum Aktenzeichen 2 A 2145/02 steht und die Ergebnisse der dort in Angriff genommenen Beweiserhebung auch hier fruchtbar gemacht werden können. Eine Verlängerung des Verfahrens tritt deshalb durch die Zurückverweisung nicht ein.