Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.06.2004, Az.: 2 LA 84/03
Beihilfe; Beihilfefähigkeit; Einzelzahnlücke; Implantat; Zahn; Überkronung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 16.06.2004
- Aktenzeichen
- 2 LA 84/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 51027
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 11.12.2002 - AZ: 2 A 4922/01
Rechtsgrundlagen
- § 6 Abs 1 Nr 1 BhV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Aufwendungen für implantologische Leistungen können im Falle einer Einzelzahnlücke im Sinne der Ziffer 4 Abs.1 a) der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV im Einzelfall auch dann beihilfefähig sein, wenn die beiden benachbarten Zähne bereits überkront sind.
Gründe
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Voraussetzungen des geltend gemachten Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind nicht erfüllt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sind erst dann zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163; Nds.OVG, Beschl. v. 3.6.2004 - 2 LA 26/03 -). Es kommt nicht darauf an, ob einzelne Begründungselemente der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung unrichtig sind, sondern darauf, ob diese im Ergebnis unrichtig ist (vgl. Nds.OVG, Beschl. v. 3.6.1004, a.a.O.). Das ist hier nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Urteil dargelegt und begründet, warum es zu der Auffassung gelangt ist, dass die zahnärztlichen Leistungen für das der Klägerin eingesetzte Implantat Zahn Nr. 45 dem Grunde nach beihilfefähig sind. Der Senat macht sich die Begründung des angefochtenen Urteils zu eigen und verweist auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO analog). Der Beklagte hat im Zulassungsverfahren keine gewichtigen, gegen die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sprechenden Gründe aufgezeigt, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg.
Mit Rücksicht auf das Vorbringen des Beklagten im Zulassungsantrag ist Folgendes hervorzuheben bzw. zu ergänzen:
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass hinsichtlich der den streitigen Zahn Nr. 45 betreffenden implantologischen Leistungen die Voraussetzungen der Ziffer 4 Abs. 1 a) der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV erfüllt sind. Danach sind Aufwendungen für implantologische Leistungen einschließlich aller damit verbundenen weiteren zahnärztlichen Leistungen beihilfefähig bei einer Einzelzahnlücke, wenn beide benachbarten Zähne intakt und nicht überkronungsbedürftig sind. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der der Einzelzahnlücke Nr. 45 benachbarte und überkronte Zahn Nr. 46 als intakt und nicht überkronungsbedürftig im Sinne der vorgenannten Vorschrift anzusehen ist. Dabei hat das Verwaltungsgericht entgegen der Ansicht des Beklagten die Grundsätze der juristischen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht verletzt. Das Verwaltungsgericht hat sich mit der von seiner Auffassung abweichenden Literatur (Topka/Möhle, Kommentar zum Beihilferecht Niedersachsens und des Bundes, Stand: März 2004, § 6 Anm. 3.8.3.1) hinreichend auseinandergesetzt und sich zu Recht der Kommentierung von Schröder/Beckmann/Weber (Beihilfevorschriften des Bundes und der Länder, Band I, Stand: November 2003, § 6 BhV - Erläuterungen (Anm. 3) - Teil 1/6, S. 64.1) angeschlossen, der auch der beschließende Senat folgt. Danach sind bei der Indikation "Einzelzahnlücke, wenn beide benachbarten Zähne intakt und nicht überkronungsbedürftig sind" die Voraussetzungen der Beihilfefähigkeit nach fachärztlicher Auffassung auch dann erfüllt, wenn die benachbarten Zähne - wie hier der Zahn Nr. 46 - bereits überkront sind. Maßgeblich ist, dass die benachbarten Zähne intakt sind. Diese Auffassung wird auch von dem Verwaltungsgericht Osnabrück geteilt, das sich in seinem Urteil vom 18. Juni 2003 (-3 A 193/02 -, V.n.b.) mit einer identischen Problematik zu befassen hatte und zutreffend zu der gleichen Einschätzung gekommen ist wie das Verwaltungsgericht Hannover.
Das Verwaltungsgericht Hannover ist richtigerweise der Auffassung, dass eine am Sinn und Zweck der genannten Vorschrift orientierte Auslegung zu dem Ergebnis gelangen muss, dass ein bereits überkronter Zahn, der auch ausweislich einer zahnärztlichen Stellungnahme als langfristig nicht versorgungsbedürftig eingestuft wurde, als intakt und nicht überkronungsbedürftig anzusehen ist. Eine andere Betrachtungsweise würde den Umstand verkennen, dass selbst nach Nr. 6.19 des Gemeinsamen Runderlasses des MF und des MFAS vom 6. August 2001 (Nds. MBl. S. 748) "intakt” nicht bedeutet, dass der Zahn zahnärztlich völlig unbehandelt sein muss.
Das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung auch hinreichend die im Zuge der Gesundheitsreform von 1997 eingeführten Modifizierungen bezüglich der Beihilfefähigkeit implantologischer Leistungen berücksichtigt. Entgegen der Auffassung des Beklagten wird den Bestrebungen dieser Gesundheitsreform nicht allein durch eine generelle sehr restriktive Auslegung der Beihilfevorschriften Rechnung getragen. Vielmehr kann im Einzelfall der anzustrebende Zweck der Kostenersparnis, der als übergeordneter Grundsatz das gesamte Beihilferecht beherrscht, auch dadurch erreicht werden, dass eine - auch im Hinblick auf zukünftig notwendige Eingriffe - kostengünstigere und zudem zahnschonendere Behandlung gewählt wird. Dies ist im vorliegenden Fall geschehen, wie der die Klägerin behandelnde Zahnarzt Dr. B. in seiner Stellungnahme vom 6. November 2001 zum Ausdruck gebracht hat.
Das von dem Verwaltungsgericht am Sinn und Zweck der Norm orientierte Auslegungsergebnis hält auch einer Überprüfung am Wortlaut stand. Eine Auslegung des Wortlautes der Ziffer 4 Abs. 1 a) der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV ergibt, dass ein Zahn, der bereits überkront ist, nicht mehr überkronungsbedürftig sein kann. Der dem Zahn Nr. 45 benachbarte Zahn Nr. 46 mag zwar vor der Überkronung überkronungsbedürftig gewesen sein. Mit der Überkronung ist aber das Bedürfnis, ihn zu überkronen, entfallen (vgl. ebenso VG Osnabrück, Urt. v. 18.6.2003, a.a.O.).
Der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover steht entgegen der Ansicht des Beklagten auch nicht das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Koblenz vom 30. Oktober 1998 (- 10 A 10692/98 -, IÖD 1999, 128) entgegen. Ungeachtet der Tatsache, dass eine anderslautende Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts keine Bindungswirkung für den beschließenden Senat entfalten würde, ist aber auch der dort zugrunde liegende Sachverhalt nicht mit dem vorliegend zur Entscheidung stehenden identisch. Denn der Kläger des vom Oberverwaltungsgericht Koblenz entschiedenen Rechtsstreits erstrebte über den genauen Wortlaut der einschlägigen Beihilfevorschriften hinaus aufgrund einer rein zahnmedizinischen Indikation die Gewährung eines Aufwendungsersatzes. Vorliegend ist die Beihilfegewährung jedoch, wie ausgeführt wurde, gerade vom Wortlaut der Ziffer 4 Abs. 1 a) der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV gedeckt.
Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover ist auch nicht insoweit zu beanstanden, als es eine Bindung der Rechtsprechung an die in Ziffer 6.19 des Gemeinsamen Runderlasses des MF und des MFAS vom 6. August 2001 (a.a.O.) getroffene Regelung abgelehnt hat. Nach der vorgenannten Regelung, auf die sich der Beklagte beruft, ist die implantologische Versorgung einer Einzelzahnlücke nur dann beihilfefähig, wenn keiner der benachbarten Zähne bereits überkront ist. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht hierzu darauf hingewiesen, dass die Beihilfevorschriften des Bundes aufgrund der gesetzlichen Verweisung des § 87 c Abs. 1 NBG anwendbar sind. Die Beihilfevorschriften des Bundes, die ihre rechtliche Grundlage in § 200 BBG finden, können nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht durch ministerielle Runderlasse eingeschränkt oder verbindlich interpretiert werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.3.1995 - 2 C 9.94 -, ZBR 1995, 275 m. w. Nachw.). Sie unterliegen mithin, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, in vollem Maße der gerichtlichen Kontrolle und Auslegung. Daher kann auch die verwaltungsgerichtliche Auslegung des Begriffs "intakt und nicht überkronungsbedürftig" nicht durch den zitierten Runderlass vom 6. August 2001 eingeschränkt werden (vgl. ebenso VG Osnabrück, Urt. v. 18.6.2003, a.a.O.).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine tatsächliche oder rechtliche Frage von allgemeiner fallübergreifender Bedeutung aufwirft, die im Berufungsrechtszug entscheidungserheblich ist und im Interesse der Rechtseinheit geklärt werden muss. Die in diesem Sinne zu verstehende grundsätzliche Bedeutung muss durch Anführung mindestens einer konkreten, sich aus dem Verwaltungsrechtsstreit ergebenden Frage, die für die Entscheidung des Berufungsgerichts erheblich sein wird, und durch die Angabe des Grundes, der die Anerkennung der grundsätzlichen Bedeutung rechtfertigen soll, dargelegt werden (vgl. Nds.OVG, Beschl. v. 3.6.2004, a.a.O.).
Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen des Beklagten nicht. Die von dem Beklagten aufgeworfene Frage, ob ein überkronter Zahn ein intakter und nicht überkronungsbedürftiger Zahn im Sinne der Ziffer 4 Abs. 1 a) der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV ist, ist - wie sich aus den Ausführungen zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergibt - bereits hinreichend geklärt. An einer die Berufungszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigenden Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage fehlt es jedoch, wenn sich - wie hier - die als vermeintlich grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Rechtsfrage auf der Grundlage der zu prüfenden Vorschriften oder bereits vorliegender höchstrichterlicher Rechtsprechung ohne weiteres beantworten lässt (vgl. Nds.OVG, Beschl. v. 19.4.2004 - 2 LA 293/03 -; vgl. zur Revisionszulassung: BVerwG, Beschl. v. 27.8.1996 - 8 B 165/96 -, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziffer 1 VwGO Nr. 13).
Es kommt hinzu, dass der von dem Beklagten aufgeworfenen Frage das für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wesentliche Element der Verallgemeinerungsfähigkeit fehlt. Die Frage, ob ein bereits überkronter Zahn seine Funktion zukünftig ohne weitere Restaurierungsmaßnahmen erfüllen wird und deshalb als intakt im Sinne der Ziffer 4 Abs. 1 a) der Anlage 2 zu § 6 Abs. 1 Nr. 1 BhV anzusehen ist, kann nur im konkreten Einzelfall und nicht verbindlich für eine unbestimmte Zahl von Fällen geklärt werden.
Daraus ergibt sich, dass die von dem Beklagten aufgeworfene Frage der Sache nach letztlich auf die vom Verwaltungsgericht aufgrund der Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Tatsachenwürdigung und Rechtsanwendung abzielt, die der Beklagte für fehlerhaft hält. Damit aber kann die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht erreicht werden.