Amtsgericht Göttingen
Beschl. v. 27.11.2009, Az.: 74 IN 271/09
Anforderungen an die örtliche Zuständigkeit gem. § 3 Insolvenzordnung (InsO) unter Berücksichtigung des Zeitpunktes der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes; Willkürlichkeit eines Verweisungsbeschlusses
Bibliographie
- Gericht
- AG Göttingen
- Datum
- 27.11.2009
- Aktenzeichen
- 74 IN 271/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 34055
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:AGGOETT:2009:1127.74IN271.09.0A
Rechtsgrundlage
- § 3 InsO
Fundstellen
- DStR 2010, 11
- NZI 2010, 4
- ZIP 2010, 640-641
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Für die örtliche Zuständigkeit gem. § 3InsO genügt es, dass ein zunächst unzuständiges Gericht vor der Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens zuständig wird. Die Rechtsprechung des EuGH, dass auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist, gilt hier nicht.
- 2.
Eine unter Missachtung dieser Grundsätze erfolgte Verweisung kann willkürlich sein und keine Bindungswirkung entfalten.
Tenor:
In dem Insolvenzantragsverfahren ... wird die Übernahme des Verfahrens abgelehnt.
Gründe
I.
Gegen den Schuldner sind beim AG Magdeburg am 29.07/31.07.2009 und 25.08/02.09.2009 zwei Fremdanträge auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt worden. Am 23./27.10.2009 hat der Schuldner Eigenantrag gestellt. Als Adresse ist jeweils eine Anschrift in dem Ort H. angegeben. Auf eine Anfrage des Insolvenzgerichtes übersandte das Amtsgericht Quedlinburg die Abschrift einer am 14.08.2009 vom Schuldner abgegebenen Eidesstattlichen Versicherung.
Die vom Insolvenzgericht beauftragte Sachverständige teilte in einem Zwischenbericht vom 12.10.2009 mit, nach Angaben des Schuldners sei der Geschäftsbetrieb praktisch eingestellt, da keine Aufträge bestünden, sämtliche Arbeitsverhältnisse seien beendet. In einem am 20.10.2009 beim Insolvenzgericht eingegangenen Fragebogen teilte der Schuldner mit, er habe den in B. betriebenen Hausmeisterservice zum 05.10.2009 geschlossen und das Gewerbe am selben Tag abgemeldet. Das Mietverhältnis sei zum 05.10.2009 einvernehmlich aufgelöst worden, ein Vermieterpfandrecht werde nicht geltend gemacht, Geschäftsräume seien "seit dem 05.10.2009 nicht mehr vorhanden".
Die Sachverständige sandte am 29.10.2009 einen Zwischenbericht an das AG Magdeburg mit folgendem Eingang: " In dem Insolvenzantragsverfahren über das Vermögen des Herrn W..., wohnhaft .....H......, ehem. Inh. des Einzelunternehmens:. Hausmeisterservice W.,......, B." Die Sachverständige führt aus, der Schuldner müsse noch weitere Unterlagen, u.a. Bilanzen, BWA, Gewerbeabmeldung vorlegen. Weiter heißt es: "Zudem wurde nach der Übergabe der Unterlagen festgestellt, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der selbständigen Tätigkeit des Schuldners in B. gewesen ist. Die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichtes richtet sich gem. Art. 3 EUInsVO, Art. 102 § 2 EGInsO, § 3 InsO nach dem Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners. ..... Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist der Antragseingang bei Gericht". Bis zu der Gewerbeabmeldung sei der Schuldner nach seinen Angaben täglich zwischen seinem Wohnort und B. gependelt.
Mit Anschreiben vom 30.10.2009 hat das Insolvenzgericht Magdeburg darauf hingewiesen, dass nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO örtlich ausschließlich das Amtsgericht zuständig ist, in dessen Bezirk der Antragsgegner seinen allgemeinen Gerichtsstand unterhält. Weiter heißt es: "Wenn der Mittelpunkt einer - aktuellen- selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit an einem anderen Ort liegt, so ist vorrangig das dortige Insolvenzgericht zuständig (§ 3 Abs. 1 Satz 2 InsO). Ausweislich des anliegenden Berichtes der Sachverständigen lag der Geschäftssitz des Schuldners bei Antragstellung nicht im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Magdeburg. Deshalb unterhält der Antragsgegner seinen Insolvenzgerichtsstand in B." Bei den Fremdantragstellern ist angefragt worden, ob Verweisung beantragt wird. Der Schuldner ist darauf hingewiesen worden, dass sein Einverständnis mit einer Verweisung unterstellt wird, sofern er nicht binnen einer Woche widerspricht. Beide Antragsteller haben Verweisung beantragt (der das Verfahren 340 IN 844/09 betreffende Antrag ist in dem Eigenantragsverfahren 340 IN 1031/09 abgeheftet.). In dem Eigenantragsverfahren 340 IN 1031/09 ist der Schuldner lediglich darauf hingewiesen worden, dass sein Antrag unvollständig ist.
Mit gleichlautenden Beschlüssen vom 13.11.2009 hat das Insolvenzgericht Magdeburg die Verfahren an das AG Göttingen verwiesen unter Hinweis auf die Verfügung vom 30.10.2009.
II.
Das Insolvenzgericht Göttingen hält die Verweisung nicht für bindend und lehnt die Übernahme der Verfahren ab.
Gem. § 4 InsO i.V.m. § 281 ZPO ist eine Verweisung grundsätzlich bindend. Eine Bindungswirkung wird abgelehnt u.a. bei schweren Verfahrensverstößen (HambK-Rüther § 3 Rz. 30) oder Willkür (FK-InsO/Schmerbach § 3 Rz. 28). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
1)
In dem Eigenantragsverfahren 340 IN 1031/09 hat der Schuldner keinen Verweisungsantrag gestellt. Die Verweisung ist nicht bindend (LG Rostock ZInsO 2001, 914).
2)
Die Verweisungen in den Fremdantragsverfahren sind willkürlich.
a)
Willkür wird in der Rechtsprechung u.a. bejaht bei folgenden Konstellationen:
- Annahme einer die Zuständigkeit gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO begründenden Zuständigkeit nach Einstellung des Geschäftsbetriebes und Schließung des Ladenlokales ohne Vornahme der gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO gebotenen Prüfung (BGH ZInsO 2006, 146; OLG Celle ZInsO 2006, 503), ob überhaupt noch eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt wird (OLG Celle ZInsO 2005, 100, 101; ZInsO 2006, 1106, 1107) - Offensichtlich unzureichende Erfassung des Sachverhaltes mit der Folge, dass die Zuständigkeit unzutreffend beurteilt wird (KG ZInsO 2000, 44, 45 = EWiR 2000, 679; OLG Braunschweig ZInsO 2000, 286, 287 = EWiR 2000, 1021; OLG Naumburg ZIP 2001, 753 = EWiR 2001, 875; OLG Frankfurt NZI 2002, 499, 500; OLG Stuttgart ZInsO 2004, 750, 751). Soweit die Rechtsprechung Willkür verneint hat bei bloßen Rechtsirrtum bei Annahme der Zuständigkeit nach Einstellung der werbenden Tätigkeit einer GmbH am Wohnsitz des Geschäftsführers (OLG Naumburg InVo 2000, 12, 13 m. abl. Anm. Stapper; OLG Köln ZIP 2000, 672, 673 m. zust. Anm v. Gerkan EWiR 2000, 535; OLG Celle OLG-Report 2000, 205, 206 f.; Vorlagebeschluss OLG Karlsruhe NZI 2005, 505), ist dieser Auffassung durch die Rechtsprechung des BGH (ZInsO 2006, 146) eine Absage erteilt worden.
b)
Nach der vom Insolvenzgericht Magdeburg im Schreiben vom 30.10.2009 enthaltenen Hinweis greift die Zuständigkeit gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO am Geschäftssitz ein, wenn der Schuldner "aktuell" wirtschaftlich tätig ist. Das ist seit dem 05.10.2009 nicht mehr der Fall. Es liegt keiner der Fälle vor, in denen nach Beendigung des Geschäftsbetriebes die Zuständigkeit fortdauert (MK-InsO/Ganter § 3 Rz. 7b; FK-InsO/Schmerbach § 3 Rz. 9 ff.). Die Geschäftsräume sind aufgegeben, die Sachverständige hat keine Feststellungen getroffen, dass sich dort noch Geschäftsunterlagen befinden. Über einen satzungsmäßigen Sitz verfügt der Schuldner als natürliche Person nicht.
c)
Für die Beurteilung der Zuständigkeit kommt es auch nicht auf den Zeitpunkt des Antragseinganges beim Insolvenzgericht, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens an.
Der EuGH hat zwar entschieden, dass bei Sitzverlegung nach Antragstellung, aber vor Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit nicht entfällt (ÈuGH ZInsO 2006, 86 = EWiR 2006, 141; ebenso BGH ZInsO 2006, 321; AG Köln ZInsO 2008, 388,389). Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um die Internationale Zuständigkeit und die Problematik des "forum shopping", sondern um die örtliche (nationale) Zuständigkeit alleine gem. § 3 InsO. Streitig ist, ob es auf den Zeitpunkt des Einganges des Antrages ankommt (OLG München NJW-RR 1987, 382 [383]; OLG Frankfurt NZI 2002, 499; AG Düsseldorf NZI 2000, 555; OLG Naumburg ZIP 2001, 753,754 = EWiR 2001, 875; Jaeger/Gerhardt InsO, § 3 Rz. 40; MünchKomm-InsO/Ganter § 3 Rz. 5; Uhlenbruck InsO, § 3 Rz. 3; FK-InsO/Schmerbach § 3 Rz. 17) oder die Zustellung (OLG Düsseldorf ZInsO 2004, 507). Diese Problematik stellt sich hier nicht.
Es genügt vielmehr, wenn eine bei Antragseingang fehlende Zuständigkeit des Gerichtes bis zur Entscheidung über den Antrag begründet wird (HK-InsO/Kirchhof § 3 Rz. 5; Jaeger/Gerhardt § 3 Rz. 40). So verhält es sich hier hinsichtlich der beiden Fremdanträge. Bei Stellung des am 27.10.2009 eingegangenen Eigenantrages war der Geschäftsbetrieb bereits seit mehr als drei Wochen eingestellt.
d)
Für eine Zuständigkeitserschleichung (vgl. MK-InsO/Ganter § 3 Rz. 38 ff; FK-InsO/Schmerbach § 3 Rz. 18 ff.) ist nichts ersichtlich. Der Schuldner hat lediglich seinen Geschäftsbetrieb eingestellt und hält sich an seinem schon vorher innegehabten Wohnort auf.
3)
Die Verweisung im Eigenantragsverfahren ist auch deshalb willkürlich, weil bei Eingang des Eigenantrages am 27.10.2009 der Geschäftsbetrieb bereits seit mehr als drei Wochen eingestellt war.