Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 15.02.2002, Az.: 4 A 32/01

Behinderung; Eingliederungshilfe; Legasthenie

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
15.02.2002
Aktenzeichen
4 A 32/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 42340
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt die Bewilligung von Eingliederungshilfe für die Therapie einer Lese- und Rechtschreibschwäche.

2

Er ist am 04.04.1991 geboren und besucht zur Zeit die Orientierungsstufe in L.. Mit einem Schreiben vom 04.06.2000 beantragten seine Eltern beim Jugendamt des Beklagten die Kostenübernahme für eine Therapie des Klägers bei der Pädagogisch-Therapeutischen Einrichtung - PTE - in B.. Dem Antrag beigefügt war ein Bericht der schulpsychologischen Beratung bei der Bezirksregierung L. vom 22.06.2000. Darin heißt u.a. wie folgt:

3

Im Kontakt erschien J. deutlich auf die Untersucherin bezogen und war sehr gesprächig und freundlich. Die diversen Arbeitsanweisungen wurden von ihm widerspruchslos ausgeführt, die Konzentration erschien gut. Gegen Ende der etwa einstündigen Untersuchungszeit zeigten sich erste Hinweise auf Erschöpfung. Zur schulischen Situation berichtete J., er gehe meist gern dorthin, den Umgang der Lehrkräfte mit ihm empfinde er als fair. Wenn er Schwierigkeiten habe, werde ihm geholfen und nicht geschimpft. In einem persönlichen Gespräch besprach ich mit Klassen- und Förderlehrerin am 26.05.2000 in der Schule ausführlich schulische Unterstützungsmöglichkeiten durch interne Leistungsdifferenzierung, Förderunterricht und wöchentliche Einzelbetreuung durch die Beratungslehrerin. Beide Lehrerinnen betonten, dass es für J. sehr schwer sei, sich auf (neue) Anforderungen einzulassen, wenn deren Bewältigung ihm nicht sicher erscheine. Gefühlen wie Unsicherheit und Unterlegenheit gehe er durch diverse Verhaltensweisen (z.B. Verweigerung, Dominanzverhalten, Ablenkung) möglichst konsequent aus dem Weg.

4

Zusammenfassung:

5

Ausgehend von den Ergebnissen der von Ihnen vorgelegten Kaufman-Assessment Battery for Children und der daraus hervorgehenden durchschnittlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit von J. ergaben sich hier zahlreiche Hinweise auf eine gravierende Lese-Rechtschreib-Schwäche. Die gezeigten Leistungen in Bezug auf Lesegeschwindigkeit und -genauigkeit waren jeweils weit unterdurchschnittlich, die Sinnentnahme erschien hingegen ausreichend. Bei der Rechtschreibung zeigten sich insbesondere im Bereich der Wahrnehmungsfehler (Wortdurchgliederung und Trennschärfe) und der Merkfehler sehr große Probleme, aber auch die übrigen Ergebnisse im Bereich der sog. Regelfehler waren in der Mehrzahl sehr schwach. Die melodische Differenzierungsfähigkeit ist noch nicht altersentsprechend entwickelt. Die starke Ausprägung der beschriebenen Schwierigkeiten lässt m.E. neben der schulischen Unterstützung (siehe oben) eine zusätzliche außerschulische Lerntherapie sinnvoll erscheinen. Dabei wird neben einem gut strukturierten lerntherapeutischen Vorgehen besonders darauf zu achten sein, dass sich J. bereits jetzt nach Aussage von Eltern und Lehrerinnen bestehende Verweigerungshaltung bei der Konfrontation mit eigenen Defiziten oder unbekannten, neuen Anforderungen (nicht nur im Fach Deutsch) nicht noch verstärkt.

6

Weiter war dem Antrag beigefügt eine Äußerung der Praxisgemeinschaft für Ergotherapie in B., wo der Kläger seit dem 21.04.99 betreut wird. Darüber hinaus befindet sich bei den Akten ein Kurzbericht der Klassenlehrerin des Klägers vom 03.07.2000. Darin heißt es u.a.:

7

Von Anfang an ist mir an J. sein freundliches, sehr charmantes und zuvorkommendes Wesen aufgefallen. J. kennt keinerlei Berührungsängste. Bekannte Aufgaben erledigt J. zumeist selbständig und konzentriert. Falls er dann doch Fehler macht, sieht er diese schnell ein. Doch bei neuen, für ihn noch unbekannten Anforderungen blockt er erst einmal ab, reagiert mit "Das verstehe ich nicht" oder "Das schaffe ich nie". Vor allem bei längeren Lesetexten oder Schreibarbeiten verweigert J. zunächst. Dann ist gutes Zureden bzw. Überreden nötig. Geübte Texte liest er sehr gern vor, da er sich dann einigermaßen sicher fühlt. Ungeübte Texte bedeuten für ihn "Nicht-Können". Seine Unsicherheit überspielt er gerne mit Ablenkungsmanövern oder mit sehr dominantem Verhalten. Typisch für J. ist zudem, dass er gern versucht, mit mir zu handeln, oder dass er immer fragt, warum er etwas tun muss, oder ob er dass jetzt wirklich tun muss. Feste Freundschaften hat J. nicht. Einer der Mitschüler ist manchmal Spielpartner am Nachmittag. J. wird von seinen Klassenkameraden so akzeptiert wie er ist. Dies zeigt sich besonders im Montags-Erzählkreis, in welchem J. sehr gern und lange vom vergangenen Wochenende erzählt. Ohne Hemmungen ist er in der Lage, von Gefühlen und Empfindungen zu sprechen. Bewundernswert ist J. stoische Ruhe, wenn es darum geht, seine Sachen einzupacken oder in die Pause zu gehen. Hektik ist ein Fremdwort für ihn. J. erhält zusammen mit anderen Kindern zusätzlich zum Klassenunterricht eine Stunde pro Woche Förderunterricht im Fach Deutsch. Den Förderunterricht gibt eine andere Lehrkraft, die z.T. auf J. Schwächen noch einmal speziell eingeht (z.B. durch Übungen zur Lautfolge und Trennschärfe). Wöchentlich erhält J. eine Stunde Einzelbetreuung bei der Beratungslehrerin der Grundschule, deren Besuch er sehr genießt. Außerdem stehe ich in regelmäßigem Kontakt zu J. Eltern, um ihn so noch besser unterstützen zu können.

8

Das Jugendamt des Beklagten führte am 22.06.2000 einen Hausbesuch in der Familie des Klägers durch. Bei dieser Gelegenheit wurde mit beiden Eltern ein Gespräch geführt, bei dem auch der Kläger anwesend war. In einer daraufhin angefertigten Stellungnahme für die Sitzung des Entscheidungsteams des Jugendamtes ist Folgendes ausgeführt:

9

Nach Auffassung der Unterzeichnerin liegt hier zweifelsfrei eine Lese- und Rechtschreibschwäche vor. Der Junge hat offensichtlich erhebliche Probleme in der Ausbildung eines positiven Selbstbildes, er ist unsicher und ängstlich in Bezug auf die Bewältigung neuer Anforderungen und insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Gleichaltrigen. Eine beginnende Isolierung bzw. ein Einzelgängertum scheint sich abzuzeichnen. Beide Eltern sind sehr bemüht, die Entwicklung ihres Sohnes zu fördern. J. kommt nach den Sommerferien in die 4. Klasse. In diesem 4. Schuljahr wäre es für den Jungen wichtig, die beschriebenen Schwächen im Bereich Lesen und Schreiben aufzuarbeiten, damit er nicht mit diesem Handicap in die Orientierungsstufe überwechseln muss. Aus den oben dargestellten Gründen ist die Therapie der bestehenden Lese-Rechtschreibschwäche erforderlich und sollte möglichst bald einsetzen.

10

Mit Bescheid vom 18.08.2000 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Das Gutachten der schulpsychologischen Beratungsstelle sowie auch der Bericht der Klassenlehrerin ließen nicht den Schluss zu, dass die Eingliederung des Klägers in seinem sozialen Umfeld gefährdet sei. Er gehe gern zur Schule, habe keine Berührungsängste und werde von seinen Klassenkameraden akzeptiert. Allgemeine Schulprobleme oder auch Schulängste, wie sie auch bei anderen Schülern bestünden, begründeten nicht die Annahme einer vorliegenden oder drohenden seelischen Behinderung. Der Kläger sei deshalb nicht dem Personenkreis des § 35 a SGB VIII zuzuordnen. Allerdings habe der Kläger die Möglichkeit, die Hilfe der Erziehungsberatungsstelle des Landkreises C. in Anspruch zu nehmen. Die Notwendigkeit, geeignete Fördermaßnahmen in der Schule zu suchen, werde gesehen.

11

Gegen diesen Bescheid erhoben die Eltern des Klägers mit Schreiben vom 12.09.2000 Widerspruch. Die Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII setze nicht mehr voraus, dass eine seelische Behinderung wesentlich sein müsse. Es gehe darum, zum Wohle des Kindes frühzeitig präventiv einzugreifen, damit sich erkennbare seelische Fehlentwicklungen nicht zu einer bleibenden seelischen Behinderung verfestigten und dadurch eine Integration in die Gesellschaft verhinderten. Dazu sei eine professionelle Therapie notwendig. Bei dem Kläger gäbe es eine Reihe von Anhaltspunkten, die bereits jetzt auf konkrete seelische Störungen hindeuteten. Im Übrigen werde auch die Prüfung einer Hilfe zur Erziehung nach Maßgabe von § 27 SGB VIII beantragt.

12

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.12.2000 als unbegründet zurück. Zwar hätten die Eltern des Klägers darauf verwiesen, es gäbe Anhaltspunkte, die auf eine konkrete seelische Störung hindeuteten. So verweigere sich J. bei neuen Aufgaben und unbekannten Anforderungen und blocke ab, er habe Angst vor dem Versagen und kaue Nägel, anderen Kindern gegenüber sei er oft ruppig und aufbrausend, habe kaum Freunde oder Spielkameraden, lehne Menschen, die er nicht mag, offen ab und werde in der Klasse bei bestimmten Aktivitäten ausgeschlossen. Demgegenüber zeige der Bericht der Klassenlehrerin jedoch ein anderes Bild. Ebenso wenig ergäben sich aus dem Gutachten der schulpsychologischen Beratungsstelle Hinweise, dass die Eingliederung von J. in sein soziales Umfeld gefährdet sei. Bei dem Kläger handele es sich um allgemeine Schulprobleme oder auch Schulängste, wie sie auch bei anderen Schülern bestünden. Diese begründeten nicht die Annahme einer vorliegenden oder drohenden seelischen Behinderung.

13

Der Kläger hat am 08.01.2001 Klage erhoben, mit der geltend macht:

14

Die Auffassung des Beklagten sei nicht haltbar. Der Hilfebedarf des Klägers könne weder durch die Erziehungsberatungsstelle noch durch geeignete Fördermaßnahmen in der Schule gedeckt werden. So sei die Erziehungsberatungsstelle fachlich nicht hinreichend qualifiziert, um im erforderlichen Umfange tätig zu werden. Der Kläger könne sich im Übrigen auf sein Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 5 SGB VIII stützen, zumal die Kosten einer Fachleistungseinheit in der Erziehungsberatungsstelle wesentlich höher lägen als eine Einheit bei der vom Kläger gewünschten Einrichtung. Eine Bedarfsdeckung durch die Schule scheide aus, denn Förderunterricht werde nur bis zur 3. Klasse erteilt. Aus dem Bericht der Klassenlehrerin sei eine erhebliche Teilleistungsstörung zu entnehmen. Der schulpsychologische Dienst empfehle ausdrücklich eine zusätzliche außerschulische Lerntherapie. Wegen der vorhandenen Teilleistungsschwäche sei dem Kläger die Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt, er sei außerstande, Freundschaften mit gleichaltrigen Kindern zu schließen. Gemeinsame Freizeitaktivitäten seien sämtlich gescheitert, weil der Kläger wegen der bestehenden Defizite außerstande sei, Gemeinschaftsregeln zu beachten. Im Ergebnis sei er völlig isoliert, worunter er erheblich leide. Wenn er nach den Sommerferien 2001 auf die Orientierungsstufe komme, erwarteten ihn dort höhere Leistungsanforderungen. Diese seien ohne eine Therapie für ihn unüberwindbare Hindernisse. Zusätzlich werde auf eine vorgelegte Stellungnahme der pädagogisch-therapeutischen Einrichtung verwiesen. Bei seiner Bedarfsermittlung habe es der Beklagte im Übrigen unterlassen, das im SGB VIII vorgesehene Hilfeplangespräch durchzuführen. Auch hätte eine Fachbegutachtung des Klägers erfolgen müssen.

15

Der Kläger beantragt,

16

den Beklagten zu verpflichten, ihm auf seinen Antrag vom 4. Juni 2000 Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII für eine Therapie bei der pädagogisch-therapeutischen Einrichtung in B. zu bewilligen und den Bescheid vom 18. August 2000 sowie den Widerspruch vom 13. Dezember 2000 aufzuheben.

17

Der Beklagte beantragt,

18

die Klage abzuweisen.

19

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe lägen nicht vor. Seelisch behindert oder davon bedroht seien Kinder, bei denen infolge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt sei. Die seelische Störung müsse also Sekundärerscheinungen zur Folge haben, die den Grad einer Behinderung erreichten. Schulprobleme im weitesten Sinne stellten noch keine krankhafte Normabweichung dar. Beim Kläger seien bereits vorhandene neurotische Entwicklungsstörungen nicht ersichtlich. Er arbeite in der Schule mit, habe Kontakte zu anderen Kindern und lasse sich motivieren. Weder die Schulpsychologin noch die Ergotherapeutin oder die Klassenlehrerin des Klägers hätten von seelischen Störungen berichtet. Bei schulischen Problemen habe aber vorrangig die Schule selbst für eine Kompensation zu sorgen. Auf den Schulwechsel zur Orientierungsstufe komme es hier nicht an, denn der Streitgegenstand werde durch den Zeitraum bis zum Ergehen des Widerspruchsbescheides beschränkt. Im Übrigen stelle es reine Spekulation dar, dass die Lehrer an der Orientierungsstufe nicht auf die Probleme des Klägers eingehen würden. Den Kläger würden zudem zahlreiche Klassenkameraden zur Orientierungsstufe begleiten.

20

Nach den Angaben seiner Eltern im Termin zur mündlichen Verhandlung besucht der Kläger die PTE in B. seit September 2000. Hierdurch entstünden monatliche Aufwendungen von 345,00 DM. Die Situation des Klägers habe sich mit dem Besuch der Orientierungsstufe  eher verschlechtert. Symptomatisch seien Aggressionen, die sich u.a. gegen seine Spielsachen richteten. So habe er einem Stoffkraken die Fangarme abgeschnitten. Gleichwohl könnten die Eltern Fortschritte durch die Therapie bei der PTE erkennen.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

22

Die Klage hat keinen Erfolg.

23

Sie ist unbegründet, weil der Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nicht erfüllt. Dazu im Einzelnen:

24

Nach § 35a SGB VIII haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Anspruchsvoraussetzung ist damit eine (drohende) seelische Behinderung als Folge einer seelischen Störung. Hinsichtlich der Intensität (wesentlich, nicht wesentlich, nur vorübergehend) differenziert die Vorschrift anders als § 39 Absatz 1 BSHG nicht. Seelisch behindert sind Kinder und Jugendliche, bei denen in Folge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist (BVerwG, U.v. 26.11.98, FEVS 49, Seite 487 f.). Seelische Störungen können eine seelische Behinderung zur Folge haben, müssen es aber nicht. Seelische Störungen genügen also noch nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung; hinzukommen muss noch die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, kommt es damit auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störung an (BVerwG, U.v. 28.09.95, FEVS 46, 360f). Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Damit ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn einerseits bei bloßen Schulproblemen und auch bei Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft als behinderungsrelevante seelische Störungen, die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule angenommen werden.

25

Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine seelische Behinderung als Folge seelischer Störungen noch nicht vorliegt, der Eintritt der seelischen Behinderung aber nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (BVerwG, Urt. v. 26.11.98, aaO). Zu der bereits geschilderten Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen seelische Störungen eine seelische Behinderung bewirken, tritt im Falle einer bisher noch nicht eingetretenen Behinderung die Prognosebeurteilung hinzu, ob und ggf. wann und bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung zu erwarten ist. Dabei ist eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 vom Hundert zu verlangen. Für diese Prognose ist insbesondere bedeutsam, auf welche Zeit bezogen die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts einer Behinderung beurteilt werden soll. Hierfür kommt kein starrer Zeitrahmen in Betracht, sondern eine nach Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe bemessene Zeit. Ist es nämlich Ziel der Eingliederungshilfe, für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten, so ist der Beginn der Bedrohung so früh, aber auch nicht früher anzusetzen, dass noch erfolgversprechende Eingliederungshilfemaßnahmen gegen den Eintritt der Behinderung eingesetzt werden können.

26

Ausgehend von dieser Auslegung des § 35 a SGB VIII ist die Kammer der Überzeugung, dass beim Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum, also bis zum Ergehen des Widerspruchsbescheides, weder eine seelische Behinderung vorgelegen hat noch über vorübergehende seelische Störungen hinaus der Eintritt einer seelischen Behinderung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war.

27

Dabei stützt sich die Kammer im Wesentlichen auf die vorliegenden schriftlichen Stellungnahmen der Klassenlehrerin des Klägers, der schulpsychologischen Beratung bei der Bezirksregierung L. und die Einschätzung der Mitarbeiterin des Jugendamtes des Beklagten, die während des Verwaltungsverfahrens persönlichen Kontakt zur Familie des Klägers aufgenommen hat, wodurch der Beklagte im Übrigen den Vorgaben der §§ 8, 36 SGB VIII Rechnung getragen hat. Dabei kommt insbesondere aus der Äußerung der Klassenlehrerin zum Ausdruck, dass diese auch nicht ansatzweise Anhaltspunkte für die Annahme einer seelischen Störung oder Behinderung festgestellt hat. Dabei ist die Einschätzung der Klassenlehrerin deshalb von großer Bedeutung, weil diese den Kläger seit der Klasse 2 der Grundschule begleitet und damit in besonderem Maße in die Lage versetzt ist, Angaben zu eventuellen Auffälligkeiten in seiner Person zu machen. Der Stellungnahme der Klassenlehrerin ist vielmehr zu entnehmen, dass es in der Person des Klägers eher positiv zu bewertende Eigenschaften und Verhaltensweisen gibt. So hebt die Klassenlehrerin hervor, dass er keinerlei Berührungsängste kennt, selbständig und konzentriert arbeiten kann und dass er bereit ist, bei unbekannten Anforderungen sich anleiten zu lassen. Auch dass er in der Lage ist, ohne Hemmungen von Gefühlen und Empfindungen zu sprechen, spricht für eine vorhandene innere Ausgeglichenheit; seelische Beeinträchtigungen sind insoweit nicht nachzuvollziehen.

28

Die Schulpsychologin hält zwar eine zusätzliche außerschulische Lerntherapie für sinnvoll. Diese Einschätzung leitet sie jedoch nicht aus erkennbaren psychischen Auffälligkeiten des Klägers ab, sondern vorrangig aus der unstreitig vorhandenen gravierenden Lese-Rechtschreib-Schwäche. Anzeichen über eine drohende seelische Behinderung lassen sich auch dem Bericht der Schulpsychologin nicht entnehmen.

29

Zwar ist die Mitarbeiterin des Jugendamtes des Beklagten in ihrer Vorlage für die Entscheidungsteamsitzung der Auffassung, dass eine Therapie der bestehenden Lese-Rechtschreib-Schwäche erforderlich sei. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass diese Therapie Eingliederungshilfecharakter haben muss. Denn eine solche Einschätzung lässt sich den Ausführungen in der bei den Akten befindlichen Sitzungsvorlage nicht entnehmen. Auch in dieser Stellungnahme befinden sich zudem eher positive Feststellungen, die mit einem Eingliederungshilfebedarf keinesfalls zu vereinbaren sind. So wirkte der Kläger gegenüber der Mitarbeiterin des Jugendamtes außerordentlich freundlich, zugewandt und aufmerksam. Er war neugierig, wollte auch dann am Gespräch teilnehmen, wenn die Eltern ihn rausschickten, und im direkten Kontakt fiel sein erstaunlich großer Wortschatz auf. Er konnte differenziert und anschaulich auch komplizierte Vorgänge und Dinge beschreiben.

30

Demgegenüber sind die Eltern des Klägers zwar der Auffassung, es gebe eine Reihe von Anhaltspunkten, die auf konkrete seelische Störungen hindeuteten. Diese Anhaltspunkte, die die Eltern des Klägers in ihrer Widerspruchsbegründung vom 16.09.2000 im Einzelnen darlegen, mögen zwar zum Teil den Charakter einer seelischen Störung besitzen. Aber selbst wenn eine seelische Störung als vorhanden anzunehmen wäre, folgt daraus noch nicht zwingend das Vorhandensein oder Bevorstehen einer seelischen Behinderung. Dass die Fähigkeit des Klägers zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt wäre, vermag die Kammer der von den Eltern des Klägers gegebenen Auflistung jedenfalls mit dem erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit nicht zu entnehmen. Verhaltensauffälligkeiten, die derart gravierend sind, dass der Schluss auf eine drohende seelische Behinderung gerechtfertigt wäre, sind im Übrigen auch nicht in der Stellungnahme der pädagogisch-therapeutischen Einrichtung vom 29.06.2001 aufgeführt. Bei dieser Sachlage war die Kammer nicht gehalten, ein Fachgutachten einzuholen, zumal dieses sich auf den bereits vergangenen Zeitraum von der Antragstellung bis zur letzten Behördenentscheidung beziehen müsste. Inwieweit möglicherweise in der Zeit nach Ergehen des Widerspruchsbescheides zusätzliche Auffälligkeiten beim Kläger festzustellen sind, die auf eine drohende seelische Behinderung hindeuten mögen, ist für die Entscheidung des Rechtsstreits zudem nicht zwingend von Belang, da der vom Gericht seiner Beurteilung zugrunde zu legende Zeitraum durch den Erlass des Widerspruchsbescheides begrenzt wird. Soweit die Eltern des Klägers wegen der gegenwärtigen Situation  ihres Sohnes verstärkt besorgt sind, drängt sich allerdings für das Gericht die Frage auf, ob die Therapie bei der PTE dem Hilfebedarf des Klägers überhaupt gerecht werden kann, zumal diese Therapie seit nunmehr 1 Jahre erfolgt.

31

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass Überwiegendes dafür spricht, dass bei dem Kläger im streitbefangenen Zeitraum eine Schulleistungsschwäche vorlag, die insbesondere im Bereich des Faches Deutsch zu Tage tritt. Hierzu wird es vorrangig erforderlich sein, ergänzende Hilfen zu gewähren, die eine Verbesserung der Schreib- und Lesefähigkeiten des Klägers bewirken. Insoweit wird auch die vom Beklagten angebotene Erziehungsberatung zu erwägen sein. Dass - wie beantragt - darüber hinaus zwingend die Gewährung von Eingliederungshilfe geboten ist, mit der Folge, dass der Beklagte zu

32

Übernahme der hier aufgewendeten Kosten zu verpflichten wäre, ist für die Kammer jedoch nicht feststellbar.

33

Bei dieser Sach- und Rechtslage war die Klage abzuweisen.