Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 14.12.2018, Az.: 3 A 7642/16

Einkommen; Jugendhilfe; Kostenbeitrag; maßgeblicher Zeitraum

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
14.12.2018
Aktenzeichen
3 A 7642/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74399
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Für die Berechnung eines jugendhilferechtlichen Kostenbeitrages gegen den jungen Menschen selber ist gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII das durchschnittliche Monatseinkommen, das die kostenbeitragspflichtige Person in dem Kalenderjahr erzielt hat, welches dem jeweiligen Kalenderjahr der Leistung oder Maßnahme vorangeht, maßgeblich.

§ 94 Abs. 6 SGB VIII enthält demgegenüber keine speziellere Regelung.

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 23.11.2016 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Berufung und Sprungrevision werden zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Festsetzung eines Kostenbeitrages für Jugendhilfeleistungen durch den Beklagten.

Der 1998 geborene Kläger lebte seit der Trennung seiner Eltern im Jahr 2008 mit seinen drei Geschwistern gemeinsam im Haushalt seiner Mutter sowie deren neuem Ehemann. Es bestand regelmäßiger Kontakt zu seinem in unmittelbarer Nähe lebenden Vater. Im Jahr 2009 bekam die Mutter des Klägers mit ihrem neuen Partner Zwillinge. Am 22.01.2011 verstarb seine Mutter. Vater und Stiefvater des Klägers erhielten daraufhin die elterliche Sorge für ihre jeweiligen leiblichen Kinder. In Absprache mit dem sorgeberechtigten Vater zogen die Geschwister des Klägers im Laufe des Jahres 2011 zu ihrem Vater, während er selbst und seine Halbgeschwister im Haushalt des Stiefvaters verblieben. Der Kläger hatte zu dieser Zeit keinen Kontakt mehr zu seinem leiblichen Vater. Als der Stiefvater im Jahr 2012 plante, mit seiner neuen Lebensgefährtin nach A-Stadt zu ziehen, wurde in gemeinsamer Absprache zwischen dem Jugendamt des Beklagten, dem Kläger sowie dessen leiblichen Vater und dem Stiefvater beschlossen, dass der Kläger mit seinem Stiefvater umziehen solle. Der Stiefvater und dessen Lebensgefährtin nahmen den Kläger daraufhin ab dem 01.05.2012 als Vollzeitpflegekind auf. Im Juli 2012 erfolgte der Umzug des Klägers nach A-Stadt. Im Jahr 2015 trennten sich der Stiefvater und seine Lebensgefährtin. Beide verzogen in andere Städte. Um seine Schulausbildung vor Ort beenden zu können, entschied der Kläger sich dafür, in A-Stadt zu bleiben.

Der Kläger wurde in der Folge vom 13.08.2015 bis zum 31.12.2016 vom Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk in A-Stadt betreut, zunächst im Rahmen einer stationären Jugendhilfe im betreuten Einzelwohnen und vom 01.11.2016 bis 31.12.2016 im Wege der ambulanten Nachsorge. Nachdem er am 20.06.2016 volljährig geworden war, wurde die Maßnahme dabei auf seinen Antrag als Hilfe für junge Volljährige durchgeführt.

Während der Maßnahme besuchte der Kläger zunächst die 10. Klasse der C. -Oberschule in A-Stadt. Nach Erreichen des mittleren Schulabschlusses dort begann er zum 01.09.2016 eine Ausbildung beim Studentenwerk A-Stadt zum Kaufmann für Büromanagement. Seine Vergütung im ersten Lehrjahr betrug 832,76 Euro monatlich.

Am 07.11.2016 übersandte der Beklagte dem Kläger ein Anhörungsschreiben zur Festsetzung eines Kostenbeitrages. Der Kläger bat darum, von der Erhebung abzusehen, da er seine Ausbildungsvergütung nutzen wolle, um die Mietkaution für die von ihm geplante Anmietung einer eigenen Wohnung anzusparen. Mit Bescheid vom 23.11.2016 setzte der Beklagte gegen den Kläger für die gewährte stationäre Maßnahme für den Zeitraum vom 01.09.2016 bis 31.10.2016 einen Kostenbeitrag in Höhe von 506,13 Euro monatlich fest, mithin insgesamt 1.012,26 Euro. Wegen der Einzelheiten der Begründung und Berechnung wird auf den Bescheid verwiesen.

Am 14.12.2016 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, für die Berechnung des Kostenbeitrages zur Jugendhilfemaßnahme sei nicht das Einkommen des aktuellen Jahres zugrunde zu legen, sondern vielmehr nach § 93 Abs. 4 SGB VIII das Einkommen aus dem Vorjahr der jeweiligen Maßnahme. Diese Regelung gelte für alle Gruppen von Beitragspflichtigen. Somit sei für den hier betroffenen Zeitraum September und Oktober 2016 das Jahr 2015 maßgeblich. In dem Jahr habe er als Schüler kein Einkommen erzielt, sodass er auch nicht zu einem Kostenbeitrag herangezogen werden könne. Einen Antrag auf Heranziehung des aktuellen Einkommens anstelle des Vorjahreseinkommens könne gemäß § 93 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nur der Kostenpflichtige selbst stellen, es sei jedoch keine vergleichbare Ausnahme zugunsten des Jugendamtes vorgesehen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 23.11.2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, die Maßgeblichkeit des aktuellen Einkommens im Leistungszeitraum ergebe sich in Fällen der vorliegenden Art aus § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII. Diese Norm stelle eine Spezialregelung gegenüber § 93 Abs. 4 SGB VIII dar. Die Heranziehung junger Menschen werde durch § 94 Abs. 6 Satz 2 und 3 SGB VIII mit dem jeweiligen Zweck der gewährten Hilfe verbunden. Daraus ergebe sich, dass der maßgebliche Einkommenszeitraum für die Heranziehung junger Menschen zum Kostenbeitrag dem Leistungszeitraum entsprechen müsse. Nur das jeweils aktuell erzielte Einkommen stünde in unmittelbarem Zusammenhang mit den für den gleichen Zeitraum verfolgten Zielen der gewährten Hilfe. Ziel des Gesetzgebers sei es gewesen, mit dieser Regelung eine Motivation zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu geben. Werde hingegen das Vorjahreseinkommen zugrunde gelegt und der Kostenpflichtige verliere seine Beschäftigung, entstünde durch den Kostenbeitrag eine unangemessene und demotivierende Belastung. Bestätigt werde dieses Ergebnis auch durch die geplante Änderung des § 94 Abs. 6 SGB VIII, welcher zukünftig die Anwendung von § 93 Abs. 4 SGB VIII ausdrücklich ausschließen solle.

Die Beteiligten haben sich, der Kläger mit Schreiben vom 08.11.2018 und der Beklagte mit Schreiben vom 01.10.2018, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, ist zulässig und begründet.

I.

Der Bescheid des Beklagten vom 23.11.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Beklagte kann für den streitbefangenen Leistungszeitraum keinen Kostenbeitrag vom Kläger erheben.

1.

Rechtsgrundlage für die Festsetzung eines Kostenbeitrages gegen den Kläger dem Grunde nach ist § 91 Abs. 1 Nr. 8 SGB VIII i.V.m. § 92 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB VIII. Danach werden zu den Kosten einer stationären Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII auch die jungen Volljährigen selber aus ihrem Einkommen mittels Leistungsbescheides zu Kostenbeiträgen herangezogen.

2.

Der Festsetzung eines Kostenbeitrags gegen den Kläger für den streitbefangenen Zeitraum steht jedoch entgegen, dass dieser insoweit nicht über anrechenbares Einkommen verfügt.

a)

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist in Fällen der vorliegenden Art als Berechnungsgrundlage für einen zu erhebenden Kostenbeitrag gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII auf das Durchschnittseinkommen des jungen Menschen in dem Kalenderjahr, welches dem jeweiligen Kalenderjahr der Maßnahme vorangegangen ist, abzustellen und nicht auf das aktuelle Einkommen im Zeitraum der Leistungserbringung (Heranziehungszeitraum) selbst.

aa)

Die Anwendung von § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII wird nicht durch eine speziellere Regelung in § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII ausgeschlossen. Das ergibt sich im Wege der Auslegung sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik des Gesetzes.

(1)

In § 94 Abs. 6 SGB VIII ist festgelegt, dass junge Menschen „nach Abzug der in § 93 Absatz 2 genannten Beträge 75 Prozent ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen“ haben. Aus diesem Wortlaut kann für sich genommen die Maßgeblichkeit des im Heranziehungszeitraum selbst erzielten Einkommens für die Berechnung eines vom leistungsbegünstigten jungen Menschen zu erhebenden Kostenbeitrags nicht abgeleitet werden. Denn die Norm enthält eine in zeitlicher Hinsicht dahingehend weiter konkretisierende Beschreibung des verwendeten Begriffs des Einkommens nicht. Damit korrespondiert der Wortlaut des § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII mit demjenigen des § 94 Abs. 1 SGB VIII, der bezogen auf „(D)die Kostenbeitragspflichtigen“ anordnet, dass sie „aus ihrem Einkommen“ in angemessenem Umfang heranzuziehen seien. Auch dort verzichtet das Gesetz auf eine weitere Konkretisierung des Einkommensbegriffs in zeitlicher Hinsicht.

Auf der anderen Seite legt § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII seinem Wortlaut nach ausdrücklich fest, dass das durchschnittliche Monatseinkommen, „das die kostenbeitragspflichtige Person“ in dem der Leistung vorangehenden Kalenderjahr erzielt hat, für die Berechnung des Kostenbeitrags maßgeblich ist, ohne für eine bestimmte Teilgruppe der Kostenbeitragspflichtigen insoweit eine Ausnahme zu formulieren. Zu dem Personenkreis der „kostenbeitragspflichtige(n) Person(en)“ zählen gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII aber auch die leistungsbegünstigten jungen Menschen selbst, weshalb sie vom Wortlaut des § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII ohne Weiteres erfasst werden (ebenso VG Cottbus, Urteil vom 03.02.2017 – 1 K 568/16 –, juris Rn. 22; VG Arnsberg, Urteil vom 15.11.2016 – 11 K 1961/16 –, juris Rn. 18; Schindler in: FK-SGB VIII, 8. Aufl. 2018, § 94 SGB VIII Rn. 17; Söfker, Änderungen im Kostenbeitragsrecht der Kinder- und Jugendhilfe, JAmt 2013, 434, 436; Mann in: Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Aufl. 2017, § 93 SGB VIII Rn. 27; so auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 22.08.2017, Az. SN_2017_0557 Kr, JAmt 2018, 142 f.; a. A., aber ohne eigenständige Argumentation u. a. Krome in: jurisPK-SGB VIII, § 93 SGB VIII Rn. 61 unter Verweis auf VG Gera, Beschluss vom 02.09.2015 – 6 E 526/15 Ge –, juris, das sich aber ebenfalls nicht mit dem Wortlaut der Normen befasst; ebenfalls ohne eigenständige Argumentation Böcherer in: LPK-SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 94 SGB VIII Rn. 25).

Zu diesem Ergebnis der Wortlautanalyse der in den Blick zu nehmenden Normen passen auch deren amtliche Überschriften. Danach regelt § 93 SGB VIII insgesamt ausdrücklich die „Berechnung des Einkommens“, während § 94 SGB VIII Bestimmungen zum „Umfang der Heranziehung“ trifft.

Dass § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII im Übrigen im Hinblick auf die Berechnung des für die Kostenbeitragserhebung gegenüber den leistungsbegünstigten jungen Menschen selbst maßgeblichen Einkommens ausdrücklich auf § 93 Abs. 2 SGB VIII Bezug nimmt, führt zu keinem anderen Ergebnis. Dieser Umstand lässt im Rahmen der Wortlautbetrachtung ebenfalls keinen Schluss darauf zu, dass damit die Anwendbarkeit von § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII in diesen Fällen ausgeschlossen ist. Nach dem Wortlaut der Norm bezieht sich diese Textpassage vielmehr (nur) auf die Frage, welche Abzüge von dem zu Grunde zu legenden Ausgangseinkommen zu machen sind, und schließt nach allgemeiner Auffassung insoweit die Anwendbarkeit von § 93 Abs. 3 SGB VIII aus. Zur (Nicht-)Anwendbarkeit von § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII verhält sich diese Textpassage demgegenüber ihrem Wortlaut nach nicht. Indem § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII ausdrücklich auf § 93 Abs. 2 SGB VIII Bezug nimmt, wird vielmehr deutlich, dass auch hier im Grundsatz das nach Maßgabe des § 93 SGB VIII zu ermittelnde Einkommen zu Grunde gelegt wird. Dieser Befund wird schließlich wiederum im Vergleich mit § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bestätigt. Diese Grundnorm zum Umfang der Heranziehung gilt ihrem Wortlaut nach für alle Kostenbeitragspflichtigen. Auch dort ist aber – ebenso wie in § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII – nur von „ihrem Einkommen“ die Rede, ohne dass dazu vertreten würde, damit sei nicht das nach § 93 SGB VIII ermittelte Einkommen gemeint.

(2)

Auch die Gesetzessystematik spricht gegen ein Verständnis des § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII als eine den § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII verdrängende Spezialregelung.

In der Gesamtschau der die Heranziehung zu Kostenbeiträgen für (teil-)stationäre Maßnahmen und Leistungen regelnden §§ 91- 94 SGB VIII ergibt sich eine klare systematische Struktur dieses Regelungsbereiches. Die Prüfung und Festsetzung eines Kostenbeitrags vollzieht sich danach in vier Schritten, wobei jeder Schritt in einem eigenen Paragrafen geregelt wird. Welcher Prüfungsschritt in der jeweiligen Norm geregelt wird, ist dabei in den amtlichen Überschriften der Normen jeweils benannt. Auf der ersten Ebene legt das Gesetz danach die kostenbeitragspflichtigen Maßnahmen als solche fest (§ 91 SGB VIII). Auf der zweiten Ebene erfolgt die Bestimmung der für eine Kostenheranziehung in Betracht kommenden Personen und werden grundlegende verfahrensrechtliche Anforderungen an eine Heranziehung normiert (§ 92 SGB VIII). Die dritte Ebene befasst sich mit der Ermittlung des für die Heranziehung im Einzelfall zu Grunde zu legenden Einkommens (§ 93 SGB VIII). Auf der vierten Ebene schließlich regelt das Gesetz den Umfang der Heranziehung aus dem Einkommen (§ 94 SGB VIII). Die Normenfolge spiegelt damit auch die grundsätzliche Reihenfolge der durchzuführenden Prüfungsschritte wider. Im Verhältnis von § 93 SGB VIII zu § 94 SGB VIII ergibt sich dabei, dass nach § 93 SGB VIII zunächst das Einkommen der Höhe nach zu bestimmen ist, das für den abschließenden Verfahrensschritt, die Festlegung des konkret festzusetzenden Kostenbeitrags, maßgeblich ist. Steht dieses Einkommen fest, erfolgt daraus nach Maßgabe des § 94 SGB VIII die Bestimmung des Umfangs der Heranziehung.

Hierzu normiert § 94 SGB VIII binnensystematisch in den Absätzen 1 – 4 eine Reihe von Grundregeln, um sodann in Absatz 5 für den letzten Schritt, die Bestimmung der konkreten Kostenbeitragshöhe, zunächst auf die Anwendung der Kostenbeitragsverordnung zu verweisen. Hiervon trifft das Gesetz anschließend und somit auch binnensystematisch konsequent platziert in Absatz 6 eine abweichende Regelung für die leistungsbegünstigten jungen Menschen selbst, indem – anders als nach Absatz 5 i. V. m. der Kostenbeitragsverordnung – der Umfang der Heranziehung im Gesetz selbst abschließend festgelegt wird (vgl. zur systematischen Betrachtung auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 22.08.2017, Az. SN_2017_0557 Kr, a.a.O.; VG Arnsberg, Urteil vom 15.11.2016 – 11 K 1961/16 –, juris Rn. 18 f., m. w. N.).

bb)

Der aus dem Wortlaut und der Gesetzessystematik folgenden Anwendbarkeit des § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII in Fällen der vorliegenden Art steht auch eine teleologische Auslegung des Gesetzes nicht entgegen.

Ein davon abweichendes Verständnis des Gesetzes ergibt sich insoweit nicht unter Berücksichtigung von § 94 Abs. 6 Satz 2 und 3 SGB VIII. Die danach vorgesehene Möglichkeit zur Senkung des Kostenbeitrages für junge Menschen oder sogar den Verzicht auf eine Heranziehung, sofern das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, welche dem Zweck der Leistung dient, setzt nicht zwingend voraus, dass Einkommenserzielung und Heranziehungszeitraum zeitlich deckungsgleich sein müssen. Ausweislich der Entwurfsbegründung hatte der Gesetzgeber an dieser Stelle insbesondere Einkommen aus ehrenamtlichen oder sozialen Tätigkeiten im Blick (vgl. BT-Drucksache 17/13023, S. 15). Hingegen findet sich auch in der Entwurfsbegründung kein Anhaltspunkt dafür, dass eine solche Tätigkeit zwangsläufig im gleichen Zeitraum wie die Jugendhilfeleistung ausgeübt werden müsste, um den Zweck der Leistung zu fördern. Vielmehr können die vom Gesetzgeber in seiner Begründung in den Vordergrund gestellten übergreifenden Zwecke von Jugendhilfemaßnahmen, namentlich Verantwortungsbewusstsein und Eigeninitiative der jungen Menschen zu stärken, auch durch eine bereits im Vorjahr angetretene Tätigkeit nachhaltig gefördert werden und so dem Zweck der Jugendhilfemaßnahme auch im Folgejahr noch entgegenkommen.

Auch im Übrigen gebieten Sinn und Zweck des § 94 Abs. 6 SGB VIII nicht zwingend eine Unanwendbarkeit des § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII. Soweit das Regelungsziel bei der Einführung des Absatzes 6 mit dem Kinderförderungsgesetz (KiFöG) unter anderem darauf gerichtet war, den jungen Menschen eine Motivation zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu geben (vgl. BT-Drs. 16/9299, S. 19; ebenso auch BT-Drs. 17/13023, S. 15 zur Begründung der neu eingeführten Sätze 2 und 3 des § 94 Abs. 6 sowie VG Cottbus, Urteil vom 03.02.2017 – 1 K 568/16 –, juris Rn. 29), kann dem die Anwendung von § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII vielmehr durchaus gerade auch entgegenkommen. Dem in einer stationären Jugendhilfemaßnahme betreuten jungen Menschen bleibt so zunächst das Einkommen aus einer neu aufgenommenen Tätigkeit belassen, anstatt gemäß § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII sogleich 75 % und damit den Großteil des dafür bezogenen Entgeltes unmittelbar für den Kostenbeitrag aufwenden zu müssen. Er erhält dadurch insbesondere die Chance, eine größere finanzielle Selbstständigkeit zu etablieren, was gerade als Anreiz für die Aufnahme einer eigenen Erwerbstätigkeit geeignet ist. Gleichzeitig kommt ein solches Normverständnis dem Ziel der Jugendhilfe entgegen, den jungen Menschen bei einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu unterstützen. Dies stellt nicht nur gemäß § 41 Abs. 1 SGB VIII das ausdrückliche Ziel der Hilfe für junge Volljährige dar, sondern muss auch schon vor Volljährigkeit mit zunehmendem Alter der jungen Menschen eines der Ziele der Hilfeleistung sein. Zu einer solchen eigenständigen Lebensführung gehört aber auch das Erlernen eines eigenverantwortlichen Umgangs mit dem ersten eigenen Gehalt. Insofern kann die Heranziehung aus dem Vorjahreseinkommen und damit eine Heranziehungsfreiheit innerhalb des ersten Jahres einer neu aufgenommenen entgeltlichen Tätigkeit durchaus auch bestärkend im Hinblick auf die Ziele der Jugendhilfe wirken. Das zeigt sich geradezu exemplarisch im vorliegenden Fall. Der Kläger hatte nämlich ausweislich seiner Äußerung im Rahmen der Anhörung vor, aus seiner Ausbildungsvergütung im ersten Lehrjahr Geld anzusparen, um damit die Mietkaution für die Anmietung einer eigenen Wohnung zu bestreiten.

Wenn demgegenüber vertreten wird, für die betroffenen jungen Menschen müsse aus pädagogischer Sicht unmittelbar deutlich werden, dass sie aus dem selbst erworbenen Einkommen zu den Kosten ihrer jugendhilferechtlichen Unterbringung beizutragen hätten (vgl. beispielhaft DIJuF-Rechtsgutachten vom 04.10.2013, Az. J 8.300 Sch, JAmt 2013, S. 514, 515), überzeugt diese Behauptung die Kammer in ihrer unbegründet bleibenden fachlichen Einseitigkeit angesichts der zuvor dargelegten Überlegungen nicht. Vielmehr birgt eine derart einseitige Betrachtung die Gefahr, dass die betroffenen jungen Menschen zur Vermeidung eines weitgehenden „Verlustes“ ihres neu erzielten Einkommens infolge der Kostenbeitragserhebung von sich aus darauf drängen, möglichst umgehend die stationäre Jugendhilfemaßnahme zu beenden, obwohl ihre Persönlichkeitsentwicklung noch nicht so hinreichend fortgeschritten und gefestigt ist, dass dieser Schritt jugendhilfefachlich geboten bzw. zu befürworten wäre.

Soweit der Beklagte schließlich auf die geplante Neuregelung des § 94 Abs. 6 SGB VIII im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) verweist, ist das für eine teleologische Auslegung der derzeitigen Rechtslage unergiebig. Die vom (früheren) Bundestag noch im Sommer 2017 beschlossene Neuregelung des § 94 Abs. 6 SGB VIII zeigt zwar den Plan des Bundestages, junge Menschen zukünftig aus ihrem jeweils aktuellen Durchschnittseinkommen im Heranziehungszeitraum anstelle jenem des Vorjahres zum Kostenbeitrag heranzuziehen (vgl. zur geplanten Änderung BT-Drucks. 18/12330, S. 23). Allerdings ist nicht erkennbar, dass es sich dabei um eine reine Klarstellung der bisher schon geltenden Gesetzeslage handeln soll. Die vorgesehene Gesetzesänderung wäre vielmehr notwendig, um die bisher geltende Rechtslage auf die vom Bundestag nunmehr gewollte Heranziehung junger Menschen aus ihrem aktuellen Einkommen umzustellen (vgl. auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 22.8.2017, Az. SN_2017_0557 Kr, JAmt 2018, 142 f.). Gegen eine lediglich vorgesehene Klarstellung der Rechtslage sprechen sowohl die wiederholt verschobene und nach wie vor ausstehende Beschlussfassung durch den Bundesrat (vgl. die Plenarprotokolle der 959. und 960. Sitzung des Bundesrates, denen zufolge das KJSG jeweils wieder von der Tagesordnung genommen wurde), als auch die in der Neufassung des Gesetzes vorgesehene Absenkung des Kostenbeitrages junger Menschen auf 50 % ihres (aktuellen) Einkommens und die Einführung eines Schonbetrages von 150 € des jeweiligen Monatseinkommens (vgl. BT-Drucks. 18/12330, S. 67). Das verdeutlicht, dass es sich bei der geplanten Gesetzesänderung um eine umfassende inhaltliche und konzeptionelle Neuregelung handelt.

cc)

Eine Zugrundelegung des aktuellen Einkommens im Heranziehungszeitraum in Fällen der vorliegenden Art kann – entgegen der Auffassung des VG Gera (Beschluss vom 02.09.2015 – 6 E 526/15 Ge –, juris; sich dem ohne weitere Auseinandersetzung anschließend Mann, a.a.O., § 93 SGB VIII Rn. 27; Krome, a.a.O., § 93 SGB VIII Rn. 61) – auch nicht mit einer Analogie zu § 93 Abs. 4 Satz 2 bis 4 SGB VIII begründet werden.

Es fehlt dafür bereits an einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Regelungslücke. Das Gesetz regelt vielmehr Fälle der vorliegenden Art umfassend und eindeutig, indem es in § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII für die Berechnung des Kostenbeitrages allgemein anordnet, dass dafür auf das im Vorjahr erzielte Durchschnittseinkommen abzustellen ist. Diese Regelung kann ohne Weiteres auf die vorliegende Fallkonstellation angewendet werden, ohne dass das zu einem vom Gesetz eindeutig nicht gewollten Ergebnis führt. Auch das VG Gera hat in seiner o.a. Entscheidung bezeichnenderweise eine Regelungslücke im Gesetz gar nicht beschrieben.

Im Übrigen verböte sich, wenn es denn eine Regelungslücke gäbe, ein Rückgriff auf § 93 Abs. 4 Satz 2 bis 4 SGB VIII jedenfalls deshalb, weil darin keine mit dem hier vorliegenden Fall vergleichbaren Interessenlagen geregelt werden. Nach den benannten Normen kann auf Antrag des Kostenpflichtigen nachträglich, oder in Härtefällen auch schon vorläufig für einen bestimmten Zeitraum des laufenden Jahres, anstelle des Vorjahreseinkommens das aktuelle Einkommen im Jahr der Leistung zugrunde gelegt werden. Die danach ausnahmsweise mögliche Heranziehung des durchschnittlichen Einkommens im Jahr der jeweiligen Maßnahme stellt eine Regelung allein zu Gunsten und zum Schutz des Kostenpflichtigen dar. Das zeigt sich sowohl daran, dass das jeweils aktuelle Einkommen nur auf Antrag des Kostenpflichtigen und mithin zu dessen Vorteil im Falle eines zwischenzeitlich niedrigeren Einkommens zu Grunde gelegt wird, als auch an der in § 93 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII vorgesehenen Härtefallklausel zur vorläufigen Glaubhaftmachung des Einkommens im Jahr der Maßnahme (vgl. die Entwurfsbegründung in BT-Drucksache 17/13023, S. 15; VG Cottbus, Urteil vom 03.02.2017 – 1 K 568/16 –, juris Rn. 31). Eine Wahl der Behörde, welches Einkommensjahr Grundlage des Kostenbeitrages sein soll, ist dagegen nicht vorgesehen. Im entgegengesetzten Fall, dass im Heranziehungszeitraum selbst vom Beitragspflichtigen ein höheres Einkommen als im Vorjahr erzielt wird oder überhaupt erst ein Einkommen besteht, liegt insofern eine genau gegenläufige Interessenlage zu der in § 93 Abs. 4 Satz 2 bis 4 SGB VIII geregelten vor.

b)

Ausgehend von den dargestellten Maßstäben hat der Kläger für die geleistete stationäre Hilfe für junge Volljährige im September und Oktober 2016 keinen Kostenbeitrag zu erbringen. Denn im Jahr 2015, das nach den vorherigen Ausführungen gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII für die Berechnung des im vorliegenden Fall zu Grunde zu legenden Einkommens maßgeblich ist, war der Kläger noch Schüler und erzielte kein Einkommen.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

III.

Berufung und Sprungrevision werden gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO bzw. §§ 134 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen, da die Frage, ob in Fällen der vorliegenden Art für die Berechnung des für eine Kostenbeitragserhebung maßgeblichen Einkommens § 93 Abs. 4 SGB VIII anzuwenden ist, grundsätzliche Bedeutung hat. Diese Frage wird in der Rechtspraxis und der Fachliteratur unterschiedlich beantwortet und ist bisher weder obergerichtlich noch höchstrichterlich behandelt worden.