Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 08.03.2018, Az.: 3 A 8742/17

BAföG-Anspruch; BAföG-Leistungen; EU-Arbeitnehmer; EU-Arbeitnehmereigenschaft; untergeordnet; unwesentlich

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
08.03.2018
Aktenzeichen
3 A 8742/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74445
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Es verbietet sich, bezüglich der Frage, ob eine EU-Arbeitnehmereigenschaft i.S.d. § 8 Abs. 1 Nr. 3 BAföG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern gegeben ist, auf eine bestimmte durchschnittliche Wochenstundenarbeitszahl abzustellen; es ist jeweils eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen.

2. Bei der Frage, wann eine Tätigkeit lediglich "untergeordnet und unwesentlich" ist (und deshalb die Arbeitnehmereigenschaft zu verneinen wäre), ist insbesondere darauf abzustellen, wie hoch der tatsächliche Lebensbedarf in dem zu betrachtenden Mitgliedstaat ist.

3. Für Fälle des § 8 Abs. 1 Nr. 3 BAföG bietet es sich an, den tatsächlichen Lebensbedarf an der für den zu betrachtenden Fall im BAföG normierten Gesamtbedarfshöhe zu messen.

4. Soweit die erwirtschafteten Einkünfte bei fast einem Viertel der vorbezeichneten Gesamtbedarfshöhe liegen, dürfte eine Tätigkeit nicht als "untergeordnet und unwesentlich" zu bewerten sein.

Tenor:

Dem Kläger wird für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt.

Ihm wird Rechtsanwältin E., C., 30173 A-Stadt zur Vertretung in diesem Verfahren beigeordnet.

Gründe

I.

Der Kläger wendet sich gegen die nachträgliche Verkürzung des Zeitraumes, für welchen ihm von der Beklagten Leistungen nach dem BAföG gewährt wurden.

Er ist britischer Staatsangehöriger und reiste im Juni 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seit dem Wintersemester 2016/2017 studiert er an der Beklagten im Studiengang „Atlantic Studies in History, Culture and Society“. Von Mai 2016 bis Mitte Oktober 2016 arbeitete er in Vollzeit bei der Bäckerei & Konditorei F.  in 30419 A-Stadt. Anschließend führte er seine dortige Beschäftigung als Aushilfskraft im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses fort. Es besteht ein Arbeitsvertrag, nach welchem ihm unter anderem auch ein Urlaubsanspruch sowie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zustehen.

Von Oktober 2016 bis August 2017 arbeitete der Kläger folgende Stundenanzahl pro Woche bei der Bäckerei & Konditorei  G. bei folgendem Gehalt:

01. bis 16. Oktober 2016: 43,86 Std./Woche, 960,96 € (Bl. 75 d. A.)

17. bis 31. Oktober 2016: 10,73 Std./Woche, 206,08 € (Bl. 76 d.A.)

01. bis 30. November 2016: 11,14 Std./Woche, 427,84 € (Bl. 77 d.A.)

01. bis 31. Dezember 2016: 10,84 Std./Woche, 430,08 € (Bl. 78 d.A.)

01. bis 31. Januar 2017: 10,78 Std./Woche, 427,84 € (Bl. 79 d.A.)

01. bis 28. Februar 2017: 11,19 Std./Woche, 400,96 € (Bl. 80 d.A.)

01. bis 31. März 2017: 5,36 Std./Woche, 212,80 € (Bl. 81 d.A.)

01. bis 30. April 2017: 7,00 Std./Woche, 268,80 € (Bl. 82 d.A.)

01. bis 31. Mai 2017: 4,46 Std./Woche, 176,96 € (Bl. 83 d.A.)

01. bis 30. Juni 2017: 7,35 Std./Woche, 282,24 € (Bl. 84 d.A.)

01. bis 31. Juli 2017: 14,62 Std./Woche, 580,16 € (Bl. 85 d.A.)

01. bis 31. August 2017: 14,62 Std./Woche, 580,16 € (Bl. 86 d.A.)

01. bis 30. September 2017: dem Gericht nicht vorliegend

Vom 01. August bis 30. September 2017 arbeitete der Kläger darüber hinaus als studentische Hilfskraft für die Beklagte mit einer monatlichen Stundenzahl von 13 und einem Stundenlohn von 11,07 € (Bl. 87 d.A.).

Mit Bescheid vom 31. Januar 2017 (Bl. 88ff. d.A.) bewilligte ihm die Beklagte für den Zeitraum Oktober 2016 bis September 2017 Ausbildungsförderung nach dem BAföG i.H.v. 472,- € monatlich.

Mit Bescheid vom 07. Juli 2017 (Bl. 56ff. d.A.) begrenzte sie den Bewilligungszeitraum auf den Zeitraum Oktober 2016 bis Februar 2017 und forderte bereits gezahlte Leistungen für die Monate März bis Juli 2017 zurück. Dies begründete sie damit, dass die EU-Arbeitnehmerschaft des Klägers ab März 2017 entfallen sei und damit die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 3 BAföG nicht mehr erfüllt seien.

Hiergegen wandte sich der Kläger zunächst mit Schreiben vom 02. August 2017 und beantragte darin die Überprüfung und Rücknahme des Bescheides vom 07. Juli 2017. Mit Bescheid vom 31. August 2017 (Bl. 62ff. d.A.) lehnte die Beklagte diesen Antrag ab.

Der Kläger hat daraufhin am 02. Oktober 2017 Klage erhoben.

Er beantragt,

unter Abänderung des Bescheides vom 31.08.2017 den Bescheid vom 07.07.2017 rückwirkend und mit Wirkung für die Vergangenheit gem. § 44 SGB X aufzuheben

und

ihm ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf den angefochtenen Bescheid und ist der Meinung, die EU-Arbeitnehmereigenschaft sei in Person des Klägers nicht mehr gegeben.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.

II.

Dem Kläger ist gemäß §§ 114ff. ZPO i.V.m. § 166 VwGO antragsgemäß Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten zu gewähren.

Gemäß § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 166 VwGO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Voraussetzungen, insbesondere die erforderlichen Erfolgsaussichten sind hier gegeben.

1. Die nachträgliche Verkürzung des Bezugszeitraums von Leistungen nach dem BAföG dürfte rechtswidrig gewesen sein. Der Kläger dürfte die Voraussetzungen der EU-Arbeitnehmereigenschaft i.S.d. § 8 Abs. 1 Nr. 3 BAföG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) für den hier streitigen Zeitraum erfüllen. Danach wird Unionsbürgern Ausbildungsförderung geleistet, die sich als Arbeitnehmer in einem EU-Staat aufhalten wollen. Der Kläger ist Unionsbürger und hält sich (nach vorläufiger Bewertung) als Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland auf. Nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl.: EuGH, Urteil vom 23. März 1982 – 53/81 –, juris; EuGH, Urteil vom 26. Februar 1992 – C-357/89 –, juris; EuGH, Urteil vom 23. März 2004 – C-138/02 –, juris; EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – C-213/05 –, juris; EuGH, Urteil vom 04. Juni 2009 – C-22/08 –, juris; EuGH, Urteil vom 04. Februar 2010 – C-14/09 –, juris) ist jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Eine enge Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs verbietet sich (vgl.: EuGH, Urteil vom 26. Februar 1992 – C-357/89 –, juris).

In seinem Urteil vom 04. Februar 2010 (C-14/09 –, a.a.O.) hat der EuGH ausgeführt:

„Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und es somit ermöglicht, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft zuzuerkennen. Bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses des Betroffenen sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung eines Tarifvertrags auf den Arbeitsvertrag sowie der Umstand, dass das Arbeitsverhältnis mit demselben Unternehmen längere Zeit bestanden hat. Diese letztgenannten Gesichtspunkte können darauf hindeuten, dass es sich bei dieser Erwerbstätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt.“

In seinem Urteil vom 04. Juni 2009 (– C-22/08 –, a.a.O.) hat der EuGH zudem klargestellt, dass auch eine nicht existenzsichernde Beschäftigung ausreichen kann, um die Arbeitnehmereigenschaft zu bejahen.

Eine konkrete Stundenzahlangabe ist seitens des EuGH in keiner seiner Entscheidungen vorgenommen worden. Allerdings hat er beispielsweise in seinem Urteil vom 03. Juli 1986 (C-66/85, Celex-Nr. 61985CJ0066) die Arbeitnehmereigenschaft für eine Studienreferendarin mit einer Arbeitszeit von bis zu 11 Wochenstunden bejaht. In seinem vorzitierten Urteil vom 04. Februar 2010 (C-14/09 –, a.a.O.) hat er klargestellt, dass die vorzunehmende Würdigung der Gesamtumstände letztendlich den nationalen Gerichten vorbehalten bleibe.

Die Obergerichte in der Bundesrepublik Deutschland haben die EU-Arbeitnehmereigenschaft auch in Fällen bejaht, in denen die durchschnittliche Wochenstundenzahl deutlich unter der von der Beklagten geforderten Zahl lag. So hat beispielsweise das OVG Berlin-Brandenburg (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. März 2011 – OVG 12 B 15.10 –, juris) eine Arbeitszeit von durchschnittlich 5,5 Wochenstunden ausreichen lassen.

Die Frage, wann eine Tätigkeit „untergeordnet und unwesentlich“ ist, muss sich nach dem Dafürhalten der Kammer insbesondere danach bemessen, wie hoch der tatsächliche Lebensbedarf in dem zu betrachtenden Mitgliedstaat ist (so auch das OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. März 2011, a.a.O., Rn. 33), welches darauf abstellt, wie hoch das erzielte Einkommen im Verhältnis zu dem der Klägerin nach dem SGB II zustehenden Bedarf ist). Hierfür bietet es sich vorliegend an, die nach dem BAföG normierte Gesamtbedarfshöhe bezüglich des Klägers als Referenzwert heranzuziehen. Diese liegt derzeit gemäß §§ 13 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2, 13a Abs. 1 und 2 BAföG bei 735,- €. Das Einkommen des Klägers lag selbst im Monat Mai 2017, in welchem die geringsten Einkünfte erzielt wurden, bei fast einem Viertel dieser Bedarfssumme. Die Kammer vermag angesichts dessen nicht zu erkennen, inwiefern die Tätigkeit ab dem Monat März 2017 untergeordnet und unwesentlich in Bezug auf den Lebensbedarf des Klägers sein soll. Auch das OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 30. März 2011, a.a.O.) hat die EU-Arbeitnehmereigenschaft in einem Fall bejaht, in welchem die Klägerin ein Einkommen erwirtschaftete, welches rund 25 % des ihr nach dem SGB II zustehenden Bedarfes deckte.

Die durchschnittliche Wochenstundenzahl für den Zeitraum März bis August 2017 (für den Monat September liegen dem Gericht nicht die vollständigen Unterlagen vor) betrug ca. 9,39 und liegt damit bei fast einem Viertel der Arbeitszeit eines voll Erwerbstätigen, was nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich zu bewerten sein dürfte. Hinsichtlich der Frage, wie viele Wochenstunden zu arbeiten sind, damit ein Auszubildender als Arbeitnehmer zu qualifizieren ist, sollte vorliegend auch nicht außer Betracht bleiben, dass der Kläger seine Ausbildung neben der Arbeit noch voranzubringen hat. Es geht schließlich um die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem BAföG, welches in §§ 15, 15a normiert, dass die Ausbildung grundsätzlich in einer bestimmten Zeit abzuschließen ist, um förderungsfähig zu sein. Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 21. Juni 1990 (– 5 C 45/87 –, BVerwGE 85, 194-200) entschieden, dass der Auszubildende verpflichtet ist, seine Ausbildung umsichtig zu planen und zügig durchzuführen.

Dem Kläger stehen zudem in seinem Beschäftigungsverhältnis sowohl bezahlter Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz, als auch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz zu, wodurch er auch zwei der drei vom EuGH benannten „Zusatzkriterien“ erfüllt.

2. Schließlich ist der angegriffene Bescheid möglicherweise auch deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte gegen Art. 3 GG i.V.m. dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung verstoßen haben könnte. Nach den Erlassen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 11. Oktober 2016 (Geschäftszeichen 414-42531, Bl. 109ff. d. Beiakte) und vom 09. Januar 2015 (Geschäftszeichen 414-42501-ÄndG/25, Bl. 112ff. d. Beiakte) – auf welche sich die Beklagte auch selbst beruft – ist die EU-Arbeitnehmereigenschaft regelmäßig zu bejahen, wenn eine Mindestwochenarbeitszeit von 12 Stunden im Monatsschnitt vorliegt und das zu Grunde liegende Arbeitsverhältnis seit mindestens 10 Wochen besteht. Soweit diese Voraussetzungen nicht vorliegen, könne die EU-Arbeitnehmereigenschaft im Einzelfall dennoch gegeben sein. Zur Klärung der Frage, ob es sich um eine „echte Tätigkeit“ handele, könnten weitere Kriterien zur Klärung herangezogen werden, wie etwa ein Anspruch auf bezahlten Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie die Anwendung eines gültigen Tarifvertrages der Branche auf das Beschäftigtenverhältnis. Für den Fall, dass das Nichtvorliegen der EU-Arbeitnehmereigenschaft angenommen werde, sei im Ablehnungsbescheid kenntlich zu machen, dass eine umfassende Prüfung des Einzelfalles vorgenommen wurde. Dies ist vorliegend nicht geschehen. Die Beklagte hat einzig auf die Wochenarbeitszeit rekurriert und lediglich geschrieben, dass eine umfassende Prüfung des Einzelfalles erfolgt sei. Das eine solche stattgefunden hat, ergibt sich jedoch weder aus den Ablehnungsbescheiden selbst, noch aus dem Verwaltungsvorgang. Auf die in den Erlassen aufgeführten weiteren Kriterien ist die Beklagte mit keinem Wort eingegangen, obwohl dem Kläger vorliegend sowohl bezahlter Urlaub, als auch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zustehen (s.o.).

III.

Dieser Beschluss ist für die Beteiligten nicht anfechtbar (§ 166 VwGO, § 127 Abs. 2 Satz 1 ZPO).