Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 17.10.2018, Az.: 6 A 5213/17

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
17.10.2018
Aktenzeichen
6 A 5213/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74000
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.

Tatbestand:

Die Kläger, irakischer Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Die Kläger zu 1. und 2. reisten eigenen Angaben zufolge mit ihren Kindern, u.a. den Klägern zu 3. und 4. sowie dem Kläger im Verfahren 6 A 5177/17, am 8. Juli 2007 aus dem Irak aus und hielten sich im Anschluss ca. acht Jahre in Syrien auf. Am 17. September 2015 reisten sie, u.a. über den Libanon, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich kommend, in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie in der zuständigen Außenstelle des Bundesamts für Migration (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag stellten. Diesen beschränkten sie in ihrer späteren Anhörung auf den Antrag auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz.

In seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 30. November 2016 gab der Kläger zu 1. an, er habe den Irak verlassen, da er ehemaliger Mitarbeiter der Ba’ath-Partei sowie Offizier des Geheimdienstes unter Saddam Hussein gewesen sei, ferner, weil er infolge seiner beruflichen Tätigkeit als regierungskritischer Journalist von Angehörigen der neuen irakischen Regierung bedroht worden sei.

Zu seinem persönlichen Hintergrund erklärt der Kläger zu 1., er habe bis zu seiner Ausreise aus dem Irak in Bagdad gelebt, in Syrien sodann in der Provinz Damaskus. In Syrien sei er registrierter Flüchtling des UNHCR gewesen. Er habe dort jedoch nicht arbeiten dürfen und sich letztendlich mit seinen übrigen Familienangehörigen nach ca. neun Jahren zur Ausreise entschieden, als sich die Sicherheitssituation in Damaskus wegen der dort ausbrechenden Kämpfe deutlich verschlechtert habe. Zu seinem Werdegang gab der Kläger zu 1. an, er habe das Abitur abgelegt und anschließend Journalismus studiert. Dieses Studium habe er mit dem B.A. abgeschlossen. Bis zum Jahr 2003 sei er Mitglied der Ba’ath-Partei und Offizier beim Geheimdienst Jihas Almukbarat (Jihaz Al-Mukhabarat Al-Amma) gewesen. Dort habe er u.a. für die „Abteilung 5“ gearbeitet und Informationen über ausländische Staaten und Personen gesammelt. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein sei seine wirtschaftliche Situation nicht mehr gut gewesen. Von 2005 bis Mitte 2006 habe er im Irak als freier Autor für irakische Zeitungen gearbeitet, u.a. für die Zeitung Al-Safeer Al-Baghdadiya. In Syrien habe er im Jahr 2008 für eine libanesische Zeitung mit dem Namen Altahaulat gearbeitet; danach sei er nicht mehr berufstätig gewesen. In dieser Zeit habe er von staatlicher Hilfe sowie dem Erlös aus dem Verkauf seiner Zweitwohnung im Irak gelebt. Die Flucht nach Deutschland, welche 20.000 US-Dollar gekostet habe, habe er durch den Verkauf des Familienschmucks sowie durch ein Darlehen seiner in den USA lebenden Schwägerin in Höhe von 15.000,00 US-Dollar finanziert. Auf die Gründe seiner Flucht angesprochen, erklärte der Kläger zu 1., er sei im Jahr 2007 aus mehreren Gründen aus dem Irak geflohen. Zum einen habe er seit dem Jahr 2003 keine feste Arbeit mehr gehabt. Zum anderen habe er Angst gehabt, in die konfessionellen Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten verwickelt zu werden. Schließlich sei er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Journalist bedroht worden. Man habe gedroht, ihm die Hand abzuschlagen, wenn er weiterhin regierungskritische Artikel veröffentliche. Er habe Angst, dass sein Name an der Grenze hinterlegt sei und dass er bei seiner Rückkehr ins Gefängnis müsse.

Ende 2005 bzw. Anfang 2006, so der Kläger zu 1. im Weiteren, seien bewaffnete Angehörige des irakischen Innenministeriums mit ihren Dienstfahrzeugen zu seiner regierungskritisch eingestellten Zeitungsredaktion gefahren und hätten die elf Mitarbeiter bedroht. Anlass des Besuchs sei gewesen, dass die Zeitung in einem Artikel dafür geworben habe, dass die irakische Bevölkerung sowie der irakische Staat iranische Oppositionelle im Irak unterstützen sollten. Sie hätten seinen Chef mit einem Aschenbecher beworfen, die übrigen Anwesenden massiv beschimpft und ihnen Vorwürfe gemacht, wie sie es wagen könnten, derartige Artikel zu veröffentlichen. Danach habe er sofort gekündigt. Sein Chef und ein weiterer Kollege der Zeitung Al-Safeer Al-Baghdadiya seien später getötet worden.

Die Klägerin zu 2. gab in ihrer persönlichen Anhörung am 30. November 2016 an, sie habe bis zu ihrer Ausreise aus dem Irak am 8. Juli 2007 in Bagdad gelebt, danach ca. acht Jahre in der Provinz Damaskus. In Syrien hätten sie und ihre übrigen Familienangehörigen als anerkannte UNHCR-Flüchtlinge einen (befristeten) Aufenthaltstitel bis zum 8. Dezember 2015 gehabt. Zu ihrem persönlichen Werdegang erklärte die Klägerin zu 2., sie habe nach Ablegen des Abiturs erfolgreich ein Tourismusstudium an einer Fachhochschule abgeschlossen. Danach sei sie Hausfrau und Mutter gewesen. Nachdem ihr Mann seine Arbeit bei der Regierung verloren und auch die Tätigkeit als freier Journalist aufgegeben habe, hätten sie von dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Zweitwohnung sowie, in Syrien, von staatlicher Unterstützung und Zuwendungen ihrer in den USA lebenden Schwester gelebt. Auf die Gründe ihrer Flucht angesprochen, schilderte die Klägerin zu 2., sie hätten den Irak verlassen, weil ihr Mann nach seinem Ausscheiden aus dem irakischen Staatsdienst kritische Artikel gegen die neue Regierung veröffentlicht habe und deshalb u.a. im Internet bedroht worden sei. Ihr Mann habe ihr nicht viel von diesen Dingen erzählt; sein Chef bei der Zeitung sei jedenfalls getötet worden. Nach Deutschland seien sie gekommen, weil die Situation in Syrien wegen des dortigen Bürgerkrieges zu gefährlich geworden sei. Zudem hätten sie in Syrien als Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen und sich somit auch keine Existenzgrundlage schaffen können.

Der Sohn der Kläger zu 1. und 2., Kläger im Verfahren 6 A 5177/17, schilderte in seiner Anhörung am 13. März 2017, die Familie habe den Irak verlassen, weil sein Vater Geheimdienstmitarbeiter bei der Regierung Saddam Husseins gewesen sei. Sein Vater habe zudem für eine regierungskritische Zeitung politische Beiträge geschrieben und sei infolgedessen bedroht worden. Der Chefredakteur dieser Zeitung sei ebenso wie ein weiterer Journalist ermordet worden. Infolge dieser Bedrohungslage sei die Familie nach Syrien ausgereist, habe dieses Land aber nach ca. acht Jahren wegen des dortigen Bürgerkrieges verlassen. Sein Bruder Ahmad, der Kläger in einem beim Verwaltungsgericht Oldenburg anhängigen Verfahren, sei in einem Friseursalon ins Kreuzfeuer der syrischen Armee und der freien syrischen Armee geraten. Eine Kugel habe ihn getroffen und sein Herz nur knapp verfehlt. Im Falle einer Rückkehr in den Irak, so der Kläger im Verfahren 6 A 5177/17 im Weiteren, fürchte er, dass die gesamte Familie von der aktuellen Regierung verfolgt würde.

Mit Bescheid vom 27. Mai 2017, den Kläger am 30. Mai 2017 zugestellt, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) ab und erkannte den Klägern den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5).

Zur Begründung führte es u.a. aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Die vom Kläger zu 1. geschilderten Vorkommnisse stellten keine Handlungen dar, welche auf Grund ihrer Art oder Wiederholung als derart schwerwiegend anzusehen seien, dass sie eine gravierende Verletzung grundlegender Menschenrechte und damit eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 a AsylG darstellen würden. In diesem Zusammenhang sei zudem anzumerken, dass sich die Kläger nach eigenen Angaben nach Beendigung der journalistischen Tätigkeit des Klägers zu 1. noch eineinhalb Jahre unverfolgt im Herkunftsland aufgehalten hätten, bevor sie dann ausgereist seien. Weitere Verfolgungshandlungen, welche sich persönlich gegen die Kläger gerichtet hätten, hätten diese nicht geltend gemacht. Im Übrigen seien auch keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Kläger nunmehr elf Jahre nach ihrer Ausreise einer zukünftigen Verfolgung ausgesetzt sein könnten.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 8. Juni 2017 Klage erhoben. Zur Begründung lassen sie von ihrem Prozessbevollmächtigten ausführen, der Kläger zu 1. habe beim irakischen Geheimdienst den Rang eines Offiziers innegehabt. In den Jahren 1999 und 2000 sei er als Sicherheitschef der irakischen Botschaft in Venezuela tätig gewesen. Gegenstand seiner geheimdienstlichen Aktivitäten seien primär ausländischen Beziehungen gewesen, d.h. die Analyse der Beziehungen des Iraks zu dem Iran, China und europäischen Staaten sowie die Überwachung der in diesen Staaten ansässigen Oppositionsbewegung. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Tätigkeit habe auf der Ausforschung und Überwachung irakischer Oppositioneller im Iran gelegen, insbesondere von Mitgliedern der Islamischen Dawa-Partei um den ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Al-Maliki sowie von Angehörigen der Badr-Organisation, der u.a. der aktuelle irakische Innenminister Qasim Al-Araji angehöre. Nach dem Machtwechsel im Jahr 2003 habe der Kläger zu 1. zwangsläufig aus dem Geheimdienst ausscheiden müssen: bis zum Jahr 2005 sei es ihm aufgrund der politischen Situation nicht möglich gewesen, zu arbeiten. Seit 2005 sei er dann als freier Autor für verschiedene Zeitungen gewesen, darunter die Zeitung Al-Safeer Al-Baghdadiya, und habe insbesondere zu regierungskritischen Themen geschrieben. Hierfür sei er häufig, auch anonym, bedroht worden. Beim Überfall auf die Zeitungsredaktion hätten die Täter zudem sämtliche Mitarbeiter bedroht und aufgefordert, ihre journalistische Tätigkeit einzustellen. Im Jahr 2007 seien dann ein Mitarbeiter der Zeitung, Jamal Al-Zaidi, sowie der Chefredakteur der Zeitung, Hussein Al-Jubouri, in der Stadt Bab-Al-Shaqi getötet worden. Als die Übergriffe schiitischer Milizen gegen Anhänger des ehemaligen Regimes ihren Höhepunkt erreicht hätten, sei die Familie im Jahr 2007 nach Syrien geflohen. Auch dort habe der Kläger zu 1. als freier, kritischer Journalist publiziert.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16. August 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat den Klägern mit Beschluss vom 27. August 2018 Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug bewilligt.

Mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2018 übersandte der Prozessbevollmächtigte der Kläger ein umfangreiches Konvolut von Zeitungsartikeln, zum Teil nebst Übersetzungen durch einen allgemein beeidigten Übersetzer. Dieses Konvolut enthielt Artikel, welche der Kläger ab dem Jahr 2006 in der Zeitschrift Al-Safeer veröffentlichte, solche, die unter seinem Namen in den Jahren 2007 und 2008 in der Zeitung „Tahwlat“ erschienen sowie zahlreiche von ihm ab dem Jahr 2008 im Internet veröffentlichte Artikel.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 27. Mai 2017 zu verpflichten,

1. den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG vorliegen,

4. hilfsweise, das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 5 des Bescheides vom 27. Mai 2017 auf den Tag der Entscheidung zu befristen, hilfsweise auf den Tag der Abschiebung der Kläger, hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 5 des Bescheides zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. In Bezug auf die informatorische Anhörung der Kläger wird verwiesen auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 17. Oktober 2018.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 17. Oktober 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

1.

Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt sie in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs erfüllen die Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr in den Irak aus individuellen, an ihre Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung der Kläger sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Den Klägern kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihnen (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) nicht zugute. Die Kläger waren nach Überzeugung des Gerichts jedenfalls nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Ausreise aus dem Irak persönlich von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen. Das Gericht geht jedoch aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse davon aus, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der politischen Überzeugung des Klägers zu 1. Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG droht.

Eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG liegt vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2). Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Zwischen den Verfolgungsgründen und Verfolgungshandlungen muss dabei eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe, etwa der Familie des Betroffenen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rnr. 5; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 B 63.17, 1 PKH 23.17 -, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 28). Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle der Kläger die Voraussetzungen einer politischen Verfolgung vor (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG). Das Gericht ist aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse sowie unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen von staatlicher Seite ausgesetzt sehen würden, weil der Kläger zu 1. als ehemaliger Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes unter Saddam Hussein Operationen gegen iranische Gruppierungen bzw. Organisationen genehmigt hatte, deren Vertreter nunmehr bedeutende Positionen im irakischen Regierungsapparat bekleiden, ferner, weil der Kläger zu 1. seit dem Jahr 2005sowohl in Zeitungen als auch im Internet kontinuierlich Artikel veröffentlichte, in denen er die neuen staatlichen und religiösen Machthaber im Irak massiv kritisierte.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel gelten Journalisten als eine der am meisten gefährdeten Berufsgruppen im Irak (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 146).

Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen. Artikel 38 A und B der irakischen Verfassung garantieren die Freiheit der Meinungsäußerung, solange die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt wird. Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält diesbezüglich u. a. mehrere Kategorien des Straftatbestands der „Diffamierung“ aufrecht, die in ihrem Strafmaß z. T. unverhältnismäßig hoch sind (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2016), 7. Februar 2017, S. 11). Die Rahmenbedingungen der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit im Irak beschreibt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich in seiner Länderinformation betreffend den Irak für das Jahr 2017 dabei wie folgt (BFA, a.a.O., S. 120):

„Die Verfassung gewährt das Recht auf freie Meinungsäußerung, sofern die Äußerung nicht die öffentliche Ordnung oder die Moral verletzt, Unterstützung für die Ba’ath-Partei ausdrückt oder das gewaltsame Verändern der Staatsgrenzen befürwortet. Der größte Teil der Einschränkungen dieses Rechts kommt durch Selbstzensur auf Grund von glaubhafter Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionelle Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden zustande (USDOS 3.3.2017).

Tatsächlich wird die journalistische Arbeit durch Übergriffe auf Journalisten behindert. Nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ ist Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder (AA 7.2.2017). Laut einem Bericht der International Federation of Journalists von 2016 gilt der Irak als das gefährlichste Land für Journalisten (HRW 12.1.2017). Laut Human Rights Watch sind alleine in den Jahren 1990 bis 2015 300 Journalisten getötet worden (HRW 12.1.2017). Auch Familienmitglieder von Journalisten können bedroht werden (OA/EASO 2.2017). Auf dem Index für Pressefreiheit befand sich der Irak im Jahr 2016 auf Platz 158 von 180 Staaten. Journalisten und Medien sind im Irak systematischer Gewalt ausgesetzt. Es kommt auch zu gezielten Morden an Medienschaffenden. Auch in den autonomen Kurdengebieten wurden Journalisten ermordet. Laut „Reporter ohne Grenzen“ schützt der Staat bedrohte Journalisten nicht. Politiker aller Couleur behindern die Arbeit kritischer Berichterstatter durch Schikanen und Gerichtsverfahren – häufig mithilfe repressiver Gesetze, die aus der Diktatur Saddam Husseins stammen (ROG o.D.). Das Land nahm im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007 - 2016) des “Committee to Protect Journalists” zudem den weltweit vorletzten Platz in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Danach wurden in den letzten zehn Jahren 71 Morde an Journalisten nicht aufgeklärt. Zuletzt gab es auch einen Fall in der Region Kurdistan-Irak, bei dem ein oppositioneller Journalist mit offenbar durch Sicherheitskräfte beigebrachten Foltermerkmalen tot aufgefunden wurde (AA 7.2.2017).“

Sowohl private Dritte als auch staatliche Organe oder quasi-staatliche Organisationen, etwa konfessionelle Milizen, verüben Drohungen und (tödliche) Gewalt gegen Journalisten und sonstige Privatpersonen, die sich zu sensiblen Themen (z.B. Korruption oder Menschenrechtsverstößen von Milizen) öffentlich kritisch äußern (AI, Amnesty Report 2017, Irak. S. 5). So wurden beispielsweise am 12. Januar 2016 der Reporter Saif Talal sowie der Kameramann Hassan al-Anbaki, die für den Fernsehsender al-Sharkia arbeiteten, im Nordwesten der Provinz Diyala erschossen, nachdem sie über einen Selbstmordanschlag in Muqdadiya und Vergeltungsschläge von Milizen gegen arabische Stämme berichtet hatten. Der Sender machte unbekannte Milizionäre für die Tat verantwortlich, die Behörden leiteten jedoch keine gründlichen Untersuchungen ein, um die Tat aufzuklären (AI, a.a.O., S. 5). Einer der am meisten diskutierten Entführungsfälle des Irak war derjenige der im Dezember 2016 gekidnappten Journalistin Afrah Shawqi, welche nur wenige Tage nach Veröffentlichung eines Artikels über die Straffreiheit schiitischer Milizen in der Zeitschrift Asharq al-Awsat von einer bewaffneten Gruppe entführt und gefoltert wurde. Die Entführer ließen ihr Opfer erst frei, nachdem die Öffentlichkeit massiven Druck auf den Premierminister und das Innenministerium ausübte (BFA, a.a.O., S. 13). Im Irak erweist es sich dabei als besonders schwierig, eine Bedrohung von Journalisten o.ä. durch nichtstaatliche Akteure abzugrenzen von einer Gefährdung durch staatliche Organe oder staatsnahe Gruppierungen. Zwischen Vereinigungen, die Journalisten oder Angehörige anderer Berufsgruppen (insbesondere Richter, Wissenschaftlicher und Ärzte) aus ideologischen oder „staatspolitischen“ Gründen entführen oder bedrohen, und solchen, die rein kriminelle Zwecke verfolgen, besteht nach Erkenntnissen der Asylbehörden der Republik Österreich lediglich ein schmaler Grat. Hiernach gehen viele Entführungen auf das Konto krimineller Gruppen, die über einen gewissen Schutz durch Stämme verfügen, welche ihrerseits mit der Politik verwoben und oftmals diejenigen Akteure sind, die gerade an Stelle des Staates zur Konfliktlösung oder zum Schutz in Anspruch genommen werden (Bundesasylamt (BAA), Analyse der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 14).

Im Falle einer Bedrohung von Medienschaffenden durch religiöse Milizen ergibt sich eine besondere Abgrenzungsschwierigkeit zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Verfolgung aus der engen Einbindung dieser Gruppierungen in die offizielle Sicherheitsstruktur des Irak. Sämtliche religiösen Milizen des Landes sind mittlerweile unter dem Dachverband der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten zusammengefasst. In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten Geistlichen der irakischen Schiiten, Großayatollah Ali al-Sistani, der ebenfalls alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (AI, Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35). Offizielle Statistiken betreffend die Anzahl der Milizen innerhalb der PMF existieren nicht; die Schätzungen bezüglich ihrer zahlenmäßigen Stärke variieren. Medienberichte, die sich auf Schätzungen nicht näher spezifizierter Offizieller berufen, sprechen von 40 bis 50 Milizen. Das irakische Budget des Bundeshaushalts für das Jahr 2016 lässt nach Erkenntnissen von Amnesty International den Rückschluss darauf zu, dass sich zum damaligen Zeitpunkt 110.000 Personen in den PMF befanden; ein Sprecher der PMF nannte im Dezember 2016 eine Zahl von 141.000 affiliierten Kämpfern (AA, a.a.O., S. 9). Im Länderbericht Irak für das Jahr 2017 gibt das österreichische Bundesamt für Migration und Fremdenwesen die Zahl der Milizen schätzungsweise mit vierzig bis siebzig an, ihre Kämpfer mit 60.000 bis 140.000 (BFA, a.a.O., S. 73).

Die PMF- Milizen lassen sich in grob in vier inoffizielle Blöcke einteilen, wobei diese Unterteilung an ihre jeweils ähnlichen Ziele anknüpft, nicht hingegen an formelle Allianzen. Die nicht-schiitischen Milizen bilden den vierten Block und umfassen Sunniten, Yeziden, Christen und andere Minderheiten. Die ersten drei Gruppen bestehen demgegenüber aus schiitischen Milizen (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 3). Auch diese sind innerhalb der PMF jedoch nicht als Einheit zu sehen, sondern als viele unterschiedliche und zum Teil rivalisierende Gruppierungen, alle mit ihren eigenen Zugehörigkeiten zu verschiedenen schiitischen Führern (BFA, a.a.O., S. 97). Den ersten und einflussreichsten Block bilden die pro-iranischen, d.h. vom iranischen Regime etablierten Milizen. Innerhalb dieser Gruppe handelt es sich bei der von Haidi al-Amiri geführten Badr-Organisation (Munathamat Badr, Badr Brigades bzw. Badr Organization) um die größte und am besten ausgestattete Vereinigung, welche ca. 20.000 Kämpfer umfasst. Andere hier zu verortende Milizen sind Asa’ib Ahl al-Haqq (League of the Righteous bzw. Liga der rechtschaffenen Leute oder Chazali-Terrornetzwerk), Kata’ib Hizbullah (Hizbullah Brigades bzw. Hizbullah Brigaden), Saraya al-Khorasani und Harakat al-Nujaba. Hierbei handelt es sich um Gruppierungen, die jeweils der Doktrin des Obersten Religionsführers des Iran (Welāyat-e Faghīh) folgen und politische Ambitionen hegen. Der zweite Block setzt sich aus den Hashd al-Sistani zusammen, d.h. denjenigen Milizen, die im Lager des irakischen Großayatollah al-Sistani stehen (Liwa Ali al-Akbar, Furqat Imam Ali al-Qitaliyah, und Furqat al-Abbas al-Qitaliyah) und dem (früheren) Premierminister Abadi gegenüber loyal sind. Ihre Truppen sind zahlenmäßig schwächer als die pro-iranischen Gegenspieler und setzen sich aus ca. 20.000 Kämpfern zusammen. Ihre Anhänger sind überwiegend durch die Fatwa Sistanis motivierte Freiwillige ohne politischen Ambitionen., die jedoch auf die Unterstützung des irakischen Verteidigungsministeriums zurückgreifen können. Der dritte Block umfasst die Milizen, die den von Ammar al-Hakim geführten Islamic Supreme Council of Iraq (ISIC bzw. SIIC, Oberster Islamischer Rat des Irak (OIRI)) unterstützen, ferner die Anhänger des Predigers Muqtada al-Sadr. Hierbei handelt es sich um einflussreiche politische Fraktionen des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befinden. Die Pro-Hakim-Milizen umfassen dabei die Gruppen Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura. Bei der wichtigsten dem Prediger Sadr loyalen Miliz handelt es sich um die Gruppe Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ehemals bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)).

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel besteht des Weiteren im Irak eine besondere Gefährdungssituation für sunnitische Araber, die unter der ehemaligen Regierung Saddam Husseins (hochrangige) Positionen im Sicherheitsapparat oder der Ba’ath-Partei bekleidet haben. Die Situation sunnitischer Araber im Irak sowie das Verhältnis zur schiitischen Bevölkerungsmehrheit beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) dabei wie folgt:

„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Ba’ath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Ba’ath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“

Personen, die mit dem Regime Saddam Husseins in Verbindung gebracht wurden, sei es durch ihre Mitgliedschaft in der Ba’ath-Partei oder wegen ihrer (ehemaligen) Funktion bzw. ihres Berufs, sahen sich seit dem Fall des Regimes Saddam Husseins – insbesondere nach 2005, als schiitische Parteien an die Macht kamen – über mehrere Jahre systematischen Angriffen ausgesetzt. Als Verantwortliche hierfür wurden hier insbesondere schiitische Milizen mit Verbindungen zum Iran genannt, insbesondere die Badr-Organisation (ACCORD, Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen, S. 2, 5 der Druckversion m.w.N.). Gegenwärtig kommt es nicht mehr zu einer systematischen Verfolgung von Mitgliedern der Ba’ath-Partei oder des alten Regimes, was vielfach darauf zurückgeführt wird, dass viele dieser Personen bereits in den auf den Regimewechsel im Jahr 2003 folgenden Jahren verfolgt wurden oder aus dem Irak flohen, während sich die Verbliebenen mit den herrschenden Parteien arrangierten. Allerdings besteht auch weiterhin dem Grunde nach eine Gefahr, Opfer gezielter Übergriffe durch reguläre irakischen Sicherheitskräfte oder schiitische Milizen zu werden (UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Ba’athists, Version 1. 0, November 2016, Rn. 2.3.4 f., 6.4; Refugee Review Tribunal Australia, Entscheidung vom 17. Mai 2012 – Case Number 1112306, Rn. 61 f.; ACCORD, a.a.O., S. 2, 4 der Druckversion sowie Anfragebeantwortung vom 18. Februar 2010, Irak: Gefährdung ehemaliger Ba’ath-Mitglieder, Armeeangehöriger bzw. Mitglieder des Vereins "Freunde Saddam Husseins", insbesondere durch schiitische Milizen; Betreiber der Internetseite "darbabl" und Ernsthaftigkeit von Todeslisten; Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen; Anfragebeantwortung vom 10. Februar 2011, Irak: Repressionen gegen ehemalige Mitglieder der Ba’ath-Partei und der Armee nach dem Sturz Saddam Husseins; jeweils m.w.N.). Dass die Auseinandersetzung mit den ehemaligen Anhängern der Ba’ath-Partei nicht abgeschlossen ist, zeigt sich auch daran, dass die irakische Regierung noch im März 2018 per Anordnung die nach dem Regimewechsel vorweggenommene Enteignung der Vermögen des früheren Machthabers Saddam Husseins und mehr als 4000 seiner Anhänger und ihrer Angehörigen bzw. nahen Verwandten nachträglich bestätigte (N-TV, Artikel vom 5. März 2018, „Irak enteignet Saddam Hussein und Vertraute“).

Inwieweit Personen wegen ihrer Affiliation mit dem vorherigen Regime gefährdet sind, Opfer von Übergriffen zu werden, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab, namentlich dem Ausmaß der Identifikation mit der Ideologie der Ba’ath-Partei, dem ehemaligen Rang oder der Position der betreffenden Person und der öffentlichen Bekanntheit. Anknüpfungspunkt einer Verfolgung einer Person und ihrer Angehörigen kann dabei u.a. sein, dass der Betroffene für die unter der Regierung Saddam Husseins verübten Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird, beispielsweise weil er ein hochrangiges Mitglied der Ba’ath-Partei oder Angehöriger einer repressiven Institution war, etwa eines Geheimdienstes. Rang und Grad allein sind dabei nicht entscheidend, da insbesondere auf Gemeindeebene auch zahlreiche niederrangige Funktionäre von Übergriffen und Anschlägen betroffen waren (ACCORD, Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2010, Verfolgung von Kampfpiloten bzw. Militärangehörigen bzw. höheren Ba’ath-Partei-Mitgliedern und deren Angehörigen, insbesondere durch schiitische Milizen, S. 1; UK Home Office, a.a.O., Rn. 2.3.9-2.3.11, Rn. 6.1.1-6.1.4, Rn. 6.4.1-6.4.6). Entsprechendes gilt dann, wenn der Betroffene der Unterstützung des andauernden (sunnitischen) Widerstandes gegen die Zentralregierung verdächtigt wird (ACCORD, a.a.O., S. 4). Der letztere Gesichtspunkt hat in Anbetracht der Bedrohung durch den IS nochmals Bedeutung erlangt, weil sich in der Führungsstruktur der Organisation im Irak und in Syrien zahlreiche ehemalige Offiziere des Saddam-Regimes befinden (Welt-Online, Artikel vom 10. August 2015, „Saddam Husseins Offiziere – Die Geheimwaffe des IS“; The Washington Post, Artikel vom 4. April 2015, „The hidden hand behind the Islamic State militants? Saddam Hussein’s“; Zeit Online, Artikel vom 28. August 2014, „Islamischer Staat: Ex-Offiziere von Saddam Hussein haben das Sagen“; UK Home Office, a.a.O., Rn. 5.1.1-5.1.12).

Diese Erkenntnisse zur Verfolgung von Journalisten bzw. Regimekritikern, ehemaligen Mitgliedern der Ba’ath-Partei sowie solchen des Sicherheitsapparats unter Saddam Hussein finden ihre sachliche Entsprechung in der informatorischen Anhörung des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung.

Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften und äußerst substantiierten Schilderungen des Klägers zu 1. zu der Überzeugung gelangt, dass ihm und den übrigen Klägern im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht, weil der Kläger zu 1. aufgrund seiner früheren beruflichen Tätigkeit als Geheimdienstoffizier erklärter Gegner der nunmehr mehrheitlich im irakischen Staatsapparat vertretenen iranischen Gruppierungen ist und sich als Journalist bzw. Urheber diverser Online-Artikel entschieden gegen hochrangige Mitglieder der irakischen Regierung und des schiitischen Klerus aussprach. Der Kläger zu 1. schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Beschreibung deliktsspezifischer Merkmale sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Es steht insbesondere zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1. seit 1976 Mitglied der Ba’ath-Partei war und, nachdem ihn seine Schule nach dem Abitur hierfür vorgeschlagen hatte, von 1981 bis zum Jahr 2003 Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes Jihaz Al-Mukhabarat Al-Amma, wobei er zu Beginn als Schreibkraft tätig war, später dann als Geheimdienstoffizier sowie, in den letzten drei Jahren seiner Tätigkeit, als „Leiter der Prüfer“ in der Verwaltungsabteilung der Generaldirektion der Spionageabwehr (M 5), d.h. der Direktion zur Beobachtung der Aktivitäten ausländischer Geheimdienste im Irak. Der Kläger hat nicht nur entsprechende auf ihn ausgestellte Lichtbildausweise im Verfahren vorgelegt, sondern auch die Organisationsstruktur des Geheimdienstes aus dem Stegreif außerordentlich detailliert unter Verwendung von Fachtermini beschrieben, wobei er Detailkenntnisse offenbarte, die weit über das aus allgemein zugänglichen Quellen erhältliche Wissen hinausgingen. Dabei war er in der Lage, beispielswiese eine im Internet verfügbare Darstellung der Behördenstruktur kritisch zu kommentieren, indem er auf Ungenauigkeiten der Darstellung hinwies, die als Generaldirektionen bezeichneten vier wichtigsten Abteilungen beschrieb und zudem deren jeweiligen Führungsoffiziere benannte. Überdies vermochte der Kläger zu 1. anschaulich das Aufgabengebiet seiner (Unter-)Abteilung zu beschreiben, welche für die Überwachung iranischer Geheimdienstaktivitäten im Irak zuständig war. Dieses, so der Kläger zu 1. in seinen substantiierten Ausführungen, umfasste insbesondere die Beobachtung der iranischen Diplomaten im Irak sowie diejenige von irakischen Gruppierungen im Iran, darunter die im Iran im Jahr 1982 gegründete Fayla Badr bzw. Badr Organisation, die sich u.a. aus vom Iran rekrutierten irakischen Soldaten zusammensetzt. Ebenso vermochte der Kläger glaubhaft sein Aufgabenprofil erläutern, d.h. die Entscheidung, ob und in welchem Umfang für eine avisierte Geheimdienstoperation finanzielle Mittel bereitgestellt werden, was u.a. eine Prüfung der Erfolgsaussichten beinhaltete. Dabei hat der Kläger glaubhaft geschildert, dass seine Abteilung Operationen gegen zahlreiche Gruppierungen genehmigt hat, deren Vertreter nunmehr im Irak bedeutende Positionen im Staatsapparat innehalten. Dieses betrifft beispielsweise die schiitische Partei „Oberster Islamischer Rat im Irak“ (Islamic Supreme Council of Iraq (ISCI) bzw. Al-Majlis Al-A’ala) sowie – bezogen auf die Badr Organisation – deren Führer Hadi al-Amiri (Mitglied des irakischen Parlamentes und ehemaliger Verkehrsminister) und den irakischen Außenminister Ibrahim al-Jafaari, ferner – bezogen auf die Islamische Dawa-Partei – den gegenwärtigen stellvertretenden irakischen Präsidenten und früheren Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki. Schließlich hat der Kläger glaubhaft dargetan, einige Monate vor der mündlichen Verhandlung über eine irakische Kontaktperson bzw. deren Mittelsmann zusätzlich erfahren zu haben, dass der jetzige irakische Geheimdienst eine Abteilung unterhalte, die für die Beobachtung und Verfolgung der früheren Mitglieder des Jihaz Al-Mukhabarat Al-Amma zuständig sei. In diesem Zusammenhang konnte der Kläger auch den Namen des entsprechenden Abteilungsleiters benennen und angeben, dass dieser ein Mitglied der Islamischen Dawa-Partei sei und sich während der Herrschaft Saddam Husseins im iranischen Exil aufgehalten habe.

Des Weiteren hat der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass er sich seit dem Jahr 2005 kontinuierlich in Zeitungsartikeln bzw. eigenen Online-Publikationen auf einer regierungskritischen, aus dem Ausland betriebenen Internetseite gegen prominente Vertreter der neuen irakischen Regierung und des schiitischen Klerus im Irak ausgesprochen und infolgedessen auch Morddrohungen erhalten hat.

So hat der Kläger zu 1. beispielsweise in der mündlichen Verhandlung das Original eines im November 2006 veröffentlichten Zeitungsartikels (s. die Übersetzung auf Bl. 147 d. GA) vorgelegt, den er unter dem (Nach-)Namen seines Großvaters veröffentlichte. Hierin bezichtigte er den amtierenden Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki ebenso wie den amtierenden Finanzminister und andere Inhaber von Führungspositionen im irakischen Staat, statt ihres richtigen Namens weiterhin die Pseudonyme zu benutzen, die sie sich angeeignet hätten, als sie in Opposition zum irakischen Staat außerhalb des Landes gelebt hätten. Er stellte zudem in den Raum, unter Umständen in der Zukunft die wahren Namen dieser und weiterer Politiker aufzudecken.

In einem weiteren Online-Artikel (Bl. 147 d. GA), den der Kläger im März 2008 ebenfalls unter dem vorgenannten Pseudonym veröffentlichte, kritisierte der Kläger zu 1. die irakischen Medien u.a. dafür, nicht wahrheitsgemäß über Verbrechen der irakischen Streitkräfte an Zivilisten zu berichten. Überdies beschuldigte er den irakischen Staat, mit zweierlei Maß zu messen und Verbrechen von Soldaten an Zivilisten zu milde zu bestrafen, während irakische Aufständische gegen die amerikanische Besatzung schwere Strafen erhielten oder seit Jahren ohne Prozess inhaftiert seien.

In einem im Januar 2011 unter seinem eigenen Namen im Internet veröffentlichen Artikels (Bl. 86 d. GA) bezichtigte der Kläger zu 1. hochrangige schiitische Religionsgelehrte der Korruption. Auf diesen Artikel folgte noch im selben Monat eine Replik des irakischen Betreibers einer schiitischen Internetseite (Bl. 91 d. GA), der den Kläger zu 1. als „Tropfen Tinte im Meer süßen Wassers“ bezeichnete, ferner als Saddamisten und Anhänger der Ba’ath-Partei, der hohe Geistliche verunglimpfe und dessen Hand man „als Dank für seine Taten“ abschneiden solle in der Hoffnung, dass dadurch die Verbreitung von Gift auf der betreffenden Internetseite gestoppt werde. Der Kläger zu 1. hat in diesem Zusammenhang zudem glaubhaft dargelegt, dass es sich hierbei um eine verklausulierte Drohung handele, was sich auch am Beispiel eines ihm persönlich bekannten, im Irak ermordeten Journalisten zeige, der nach der Angabe seiner ihm ebenfalls bekannten Ehefrau zuvor die Drohung erhalten habe: „Ihr Stift wird zerbrochen werden.“

In einem im Juni 2018 unter seinem eigenen Namen veröffentlichten Artikel warf der Kläger zu 1. den gegenwärtigen Vertretern der irakischen Regierung vor, sie hätten ihre Menschlichkeit und Nächstenliebe verloren, vernachlässigten die bedürftigen Angehörigen des irakischen Volks und hielten stattdessen dem obersten religiösen Führer des Iran, Ali Chameni ebenso die Treue wie dem Kommandeur der al-Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, Agha Soleimani. Ebenso beschuldigte er den Führer des Obersten Islamischen Rates im Irak, Ammar al-Hakim, Menschen wegen deren Meinungsäußerungen massiv unter Druck gesetzt zu haben. Des Weiteren kritisierte er den ehemaligen irakischen Verkehrsminister und Anführer der Badr-Organisation, Hadi al-Amiri dafür, in einem TV-Interview den Moderator auf Arabisch mit starkem persischen Akzent beschimpft zu haben. Überdies bezichtigte er ein führendes Mitglied der islamischen Partei, eine Rechnung für eine Schönheitsoperation seiner Frau im Intimbereich beim Staat als berufliche Ausgabe eingereicht zu haben.

Dass derartige öffentliche Äußerungen die beachtliche Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen, verdeutlichen nicht nur die vorgenannten Erkenntnisquellen zum Verfolgungsrisiko von Journalisten im Irak, sondern auch die glaubhaften Schilderungen des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung zu einem Übergriff auf die ihn beschäftigende Zeitungsredaktion, der sich Ende 2005 bzw. Anfang 2006 zutrug. Diesbezüglich hat der Kläger unter außerordentlich plastischer Wiedergabe der räumlich-situativen Details sowie der Handlungen der beteiligten Personen geschildert, wie zwei (bewaffnete) Angehörige der Polizei den Leiter der Zeitung und die übrigen Mitarbeiter wegen eines Zeitungsartikels bedrohten. In diesem Artikel habe die Zeitung es verurteilt, dass schiitische Milizen eine im Irak befindliche Kaserne der Volksmudschahedin (Mujahidie Kaliq), einer iranischen Oppositionsbewegung, beschossen hätten. Das Risiko einer entsprechenden Verfolgung wertet der Einzelrichter dabei nicht zuletzt deshalb als sehr groß, weil der Kläger sich durch seine vorherige berufliche Tätigkeit und seine regierungs- und religionskritischen journalistischen Veröffentlichungen in Opposition zu nahezu allen Gruppierungen gesetzt hat, welche bedeutenden Einfluss auf das heutige irakische Staatswesen haben, Teile der regulären irakischen Sicherheitskräfte kontrollieren oder über Milizen innerhalb des PMF-Dachverbandes verfügen. Dieses betrifft die Islamische Dawa-Partei sowie sämtliche pro-iranischen PMF-Milizen, welche der Doktrin des (vom Kläger kritisierten) schiitischen Obersten Religionsführers Großayatollah Ali al-Sistani folgen, d.h. Asa’ib Ahl al-Haqq (Liga der rechtschaffenen Leute), Kata’ib Hizbullah (Hizbullah Briga-den), Saraya al-Khorasani, Harakat al-Nujaba und schließlich die Badr-Organisation, welche das irakische Innenministerium kontrolliert. Entsprechendes gilt für die Milizen, die den Obersten Islamischen Rat des Irak unterstützen (Saraya Ansar al-Aqeeda, Liwa al-Muntathar und Saraya Ashura), dessen Führer Ammar Al-Hakim ebenfalls massiv vom Kläger kritisiert wurde.

Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen droht dem Kläger zu 1. sowie den weiteren Angehörigen seiner Kernfamilie im Falle einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch Gewalt und Willkürmaßnahmen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Nr. 2, Abs. 3 AsylG). Den Anknüpfungspunkt der Verfolgung bildet dabei der Umstand, dass der Kläger die den Irak gegenwärtig regierenden Parteien, politischen und religiösen Gruppierungen sowie den Einfluss des iranischen Staates auf die irakische Politik in öffentlichkeitswirksamer Form politisch entschieden ablehnt und in seiner früheren beruflichen Funktion als Offizier des ehemaligen irakischen Geheimdienstes damit betraut war, geheimdienstliche Operationen gegen die vorgenannten Gruppierungen zu genehmigen. Dass die hiernach bestehende beachtliche Gefahr einer Verfolgung nicht nur den Kläger zu 1. selbst trifft, sondern in Anknüpfung an seine politische Überzeugung auch die weiteren Angehörigen seiner Kernfamilie, d.h. die Kläger zu 2. bis 4. sowie den Kläger im Verfahren 6 A 5177/17, steht zum einen im Einklang mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln zur Verfolgung von Angehörigen hochrangiger Mitglieder der Ba’ath-Partei und der Sicherheitsbehörden (UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Ba‘athists, Version 1.0., November 2016, Rn. 6.4.1-6.4.5; Refugee Review Tribunal Australia, Entscheidung vom 17. Mai 2012 – Case Number 1112306, Rn. 61-67). Der Befund entspricht zum anderen auch den Erkenntnissen, die der Einzelrichter aus anderen Klageverfahren irakischer Asylbewerber gewonnen hat (VG Hannover, Urteil vom 08.03.2018 – 6 A 6359/16, juris Rn. 81, 86 f. – Verfolgung von Journalisten und ihren Familienangehörigen durch die Mahdi-Armee; Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16, juris Rn. 49-51 – Verfolgung von Familienangehörigen ehemaliger Soldaten und Mitglieder der Ba’ath-Partei durch die Badr-Organisation).

Die den Klägern drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Partei-en oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, und zwar auch dann, wenn man davon ausgeht, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nicht von Angehörigen der regulären irakischen Sicherheitskräfte verfolgt werden, sondern von solchen der PMF-Milizen. Auch bei diesen handelt es sich um staatliche Organisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG, weil sich der irakische Staat der PMF-Milizen zur Herrschaftsausübung bedient und ihr (kriminelles) Handeln tatenlos zur Kenntnis nimmt (s. hierzu ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16, juris Rn. 52-61).

Den Klägern steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr überdies kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa VG Hannover, Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dazu heißt es im Urteil vom 26. Oktober 2017 (6 A 9126/17):

„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden.

Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“

Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass im Fall der Kläger besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, ihre Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen. Im Gegenteil: Insbesondere sofern aufgrund einer früheren Zugehörigkeit zur Ba’ath-Partei oder einer repressiven Sicherheitsbehörde die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche Institutionen vorliegt, besteht nach den Erkenntnissen des britischen Innenministeriums keine inländische Fluchtalternative (UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Ba‘athists, Version 1.0, November 2016, Rn. 3.1.4).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.