Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 14.03.2018, Az.: 6 A 2357/16
Manische Depression; Prüfung; Rücktritt; Prüfungsunfähigkeit; Attest; Dauerleiden; Glaubhaftmachung; unerkannte Prüfungsunfähigkeit; Krankheit
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 14.03.2018
- Aktenzeichen
- 6 A 2357/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 74361
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 16 Abs 1 S 2 JAG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Rücktrittsmöglichkeit nach § 16 Abs. 1 S. 2 Var. 1 NJAG trägt dem Umstand Rechnung, dass die im Zustand der zeitweisen krankheitsbedingten Prüfungsunfähigkeit erbrachte Prüfung nicht die "normale" Leistung des Kandidaten widerspiegelt. Abzugrenzen ist die zeitweise krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit vom sogenannten Dauerleiden, welches als persönlichkeitsbedingte Eigenschaft die generelle Leistungsfähigkeit des Kandidaten einschränkt.
2. Die Frage, ob ein Dauerleiden zum Zeitpunkt der Prüfung vorliegt, ist nicht lediglich aufgrund einer abstrakten Diagnose zu bestimmen (hier: manisch-depressive Erkrankung), sondern auf Basis des individuellen Krankheitsbildes, d.h. der Schwere der Erkrankung und dem bisherigen Krankheits- und Genesungsverlauf.
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 13. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2016 verpflichtet, die Klägerin erneut zur Wiederholung der Zweiten Juristischen Staatsprüfung zuzulassen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen das wiederholte Nichtbestehen der Zweiten juristischen Staatsprüfung.
Seit Ende 2007 leidet die Klägerin an einer bipolaren affektiven Störung (manisch-depressive Erkrankung). Diese Krankheit äußert sich grundsätzlich in phasenhaften, zweipolig entgegengesetzten (d.h. bipolaren) Extremschwankungen der Stimmung, des Antriebs und der Aktivität. Depressive Phasen zeichnen sich dabei durch eine überdurchschnittlich gedrückte Stimmung und einen erheblich verminderten Antrieb aus. Eine manische Episode ist demgegenüber durch gesteigerten Antrieb und Rastlosigkeit gekennzeichnet, die oftmals mit inadäquat überschwänglicher oder gereizter Stimmung einhergeht. In dieser Phase ist die Fähigkeit des Erkrankten zur Prüfung der Realität eingeschränkt. In Ermangelung eines einheitlichen Krankheitsbildes kann die Erkrankung im Einzelfall sehr unterschiedlich verlaufen.
Die Klägerin befindet sich seit dem Jahr 2007 in kontinuierlicher fachärztlicher Behandlung.
Die Erste juristische Staatsprüfung legte die Klägerin im August 2011 beim Beklagten mit der Gesamtnote „Befriedigend“ (8,23 Punkte) ab. Im Zeitraum von Juni 2012 bis November 2014 nahm die Klägerin sodann an der Referendarausbildung des Oberlandesgerichts D. teil. Im Verlauf des Jahres 2013 erlitt die Klägerin erneut eine manische Dekompensation („Nervenzusammenbruch“). Im Juli 2014 schrieb die Klägerin die Klausuren der Zweiten juristischen Staatsprüfung. Nachdem die Klägerin das Zweite Staatsexamen beim Beklagten im ersten Versuch nicht bestanden hatte, absolvierte sie seit Januar 2015 den juristischen Ergänzungsdienst. An den Klausurterminen im Juli 2015 nahm die Klägerin nicht teil; diese Nichtteilnahme wertete der Beklagte nach Vorlage eines amtsärztlichen Attests als entschuldigt.
Im Zeitraum vom 5. Oktober bis zum 16. Oktober 2015 absolvierte die Klägerin sodann die Klausurtermine der Zweiten juristischen Staatsprüfung.
Am 7. Oktober 2015 kontaktierte die Klägerin ihren behandelnden, in Berlin niedergelassenen Facharzt Herrn Dr. E. per E-Mail. Sie berichtete ihm, unablässig an die Klausuren zu denken, wobei die Gedankenspiralen sie seit dem 5. Oktober 2015 am Einschlafen hinderten. Herr Dr. E. informierte sie daraufhin fernmündlich, dass diese Zustände lediglich Anzeichen prüfungsbedingten Stresses seien. Die Klägerin sah in der Folgezeit von einem persönlichen Arztbesuch ab.
In einer E-Mail vom 21. Oktober 2015 äußerte sie gegenüber Herrn Dr. E. erneut die Befürchtung einer manischen Dekompensation. Hier bat sie ihn um Mitteilung, ob es in Anbetracht der körperlichen und psychischen Belastungen des Examens normal sei, dass sie bereits während des Examens ständig habe weinen können und dieser Zustand noch anhalte. Zudem brachte sie ihre Angst zum Ausdruck, dass eine etwaige manische Phase für sie zum damaligen Zeitpunkt äußerst ungünstig sein würde. In einem fernmündlichen Gespräch versicherte der Arzt ihr daraufhin, dass dieser Zustand in Anbetracht der enormen nicht alltäglichen Erschöpfung nur eine natürliche körperliche Reaktion sei, d.h. ein typisches Burnout-Syndrom nach einer Prüfungsphase. In ihrem anschließenden Urlaub verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Klägerin nochmals deutlich. Ende November 2015 diagnostizierte ihr weiterer behandelnder Facharzt Herr Dr. F. das Vorliegen einer Manie.
Mit E-Mail vom 7. Januar 2016 bat die Klägerin den Beklagten darum, eine ungefähre Angabe zum Zeitraum der mündlichen Prüfung zu treffen, da ihre Familie ihr anlässlich ihres Staatsexamens eine Urlaubsreise schenken wolle (Bl. 20 d. Beiakte (BA)).
Mit Schreiben vom 7. Januar 2016, der Klägerin am Freitag, dem 8. Januar 2016 zugegangen, teilte der Beklagte ihr mit, ihre schriftlichen Prüfungsleistungen wie folgt bewertet zu haben:
ZU-Klausur:
mangelhaft
(3 P.)
ZG-Klausur:
mangelhaft
(2 P.)
SR-Klausur:
mangelhaft
(2 P.)
VR-Klausur:
mangelhaft
(3 P.)
VA-Klausur:
ausreichend
(6 P.)
A2-Klausur:
mangelhaft
(2 P.)
WVR-Klausur:
mangelhaft
(1 P.)
Am Montag, dem 11. Januar 2016 bevollmächtigte die Klägerin sodann ihren Prozessbevollmächtigten, ihre Prüfungsunfähigkeit während der vorangegangenen Klausurphase gegenüber dem Beklagten geltend zu machen. Herr Dr. F. stellte ihr zudem am 12. Januar 2016 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus.
Mit Bescheid vom 13. Januar teilte der Beklagte der Klägerin mit, sie habe die Zweite Juristische Staatsprüfung abermals nicht bestanden. Zudem gab er ihr das noch ausstehende Ergebnis der A1-Klausur bekannt („mangelhaft“ (3,5 P.)).
Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 20. Januar 2016 legte die Klägerin gegen diesen Bescheid des Beklagten Widerspruch ein. Zur Begründung gab sie an, während der Anfertigung der Prüfungsleistungen im Oktober 2015 unerkannt krankheitsbedingt prüfungsunfähig gewesen zu sein.
Am 2. Februar 2016 unterzog sich die Klägerin einer amtsärztlichen Untersuchung beim des Landkreises G.. Grundlage der Untersuchung bildeten ausweislich der amtsärztlichen Stellungnahme vom 17. Februar 2016 (Bl. 3 d. GA) neben der persönlichen Exploration der Klägerin eine fachärztliche psychiatrische Stellungnahme von Herrn F. vom 13. Januar 2016, fachärztliche Stellungnahmen von Herrn Dr. E. vom 13. Januar und 11. Februar 2016 sowie Ausdrucke diverser E-Mails, welche die Klägerin im Oktober 2015 an Herrn Dr. E. geschickt hatte.
In seiner amtsärztlichen Stellungnahme vom 17. Februar 2016 (Bl. 7 d. Gerichtsakte (GA)), welche die Klägerin am 25. Februar 2016 beim Beklagten einreichte, teilte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Herr C. mit, aus amtsärztlicher Sicht habe er keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Klägerin im Zeitraum vom 5.Oktober bis 16. Oktober 2016 krankheitsbedingt prüfungsunfähig gewesen sei, die bestehende Prüfungsunfähigkeit infolge der Eigenart ihrer Erkrankung zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht habe erkennen können. Es erscheine durchaus stimmig sowie durch die ihm vorliegenden Befunde belegt, dass sich bereits seit Beginn des Examens am 5. Oktober 2015 eine manische Episode angebahnt habe, die zunächst weder von der Betroffenen selbst noch durch ihren behandelnden Facharzt erkannt worden sei. Diese Einschätzung folge aus den ihm vorliegenden fachärztlichen Befunden, dem Schriftverkehr der Klägerin mit ihren Fachärzten sowie ihrer persönlichen Exploration. So habe Herr Dr. E. als behandelnder Facharzt noch am 18. November 2015 in seinen die Klägerin betreffenden Aufzeichnungen eine reaktive Erschöpfung der Patientin diagnostiziert sowie eine Änderung der Medikation zur Vorbeugung einer depressiven Symptomatik erwogen. Es sei auch geradezu charakteristisch für die manische Erkrankung, dass die Betroffene selbst diese zunächst nicht als Krankheit erkenne, sondern als Zugewinn an Fähigkeiten und Leistungsfähigkeit, was im Gegensatz zu der krankheitsbedingten Einschränkung der Kritik- und Urteilsfähigkeit sowie einer gestörten Konzentrationsfähigkeit nebst Beeinträchtigung logischer Denk-abläufe stehe. Die Klägerin habe ihm berichtet, sie habe sich in der Prüfung „allmächtig“ bzw. „wie Gott“ gefühlt; eine Klausur habe sie schlichtweg „als Witz“ abgetan. Neben diesen euphorischen Größenideen habe sie Symptome geschildert, welche aus psychiatrischer Sicht als Antriebssteigerung und Ideenflucht zu interpretieren seien, d.h. als krankhafte Beschleunigung und Zusammenhangslosigkeit des Gedankenverlaufs. Bei Einsicht in die Klausuren, so die Klägerin im Behandlungsgespräch, habe sie darüber hinaus festgestellt, dass die Prüfer sehr oft die Ausführungen der Klägerin als „unzusammenhängend und unlogisch“ kritisiert hätten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. März 2016, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 14. März 2016 zugegangen, wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück (Bl. 42 d. BA). Zur Begründung führte er aus, dieser sei zulässig, aber unbegründet. Den Widerspruch verstehe er als nachträgliche Rücktrittserklärung wegen krankheitsbedingter Prüfungsunfähigkeit nach § 16 Abs. 1 S. 1 Niedersächsisches Gesetz zur Ausbildung der Juristinnen und Juristen (NJAG), da die Klägerin das Ziel verfolge, ihre Wiederholungsprüfung als nicht unternommen zu werten. Ein wirksamer Rücktritt von der Prüfung scheide indessen aus. Die durch das eingereichte amtsärztliche Gutachten attestierte Erkrankung, so der Beklagte, könne grundsätzlich eine krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit in Gestalt einer ungewöhnlichen äußeren Einwirkung auf die Konzentrationsfähigkeit darstellen. Indessen habe die Klägerin die Prüfungsunfähigkeit nicht unverzüglich angezeigt, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (§ 16 Abs. 1 S. 3 NJAG). Diese gesetzliche Regelung solle im Interesse der Chancengleichheit verhindern, dass ein Prüfling sich eine ungerechtfertigte Rücktrittsmöglichkeit verschaffe, indem er zunächst spekulativ abwarte, ob er die Prüfung bestanden habe, um sodann ggf. erst im Anschluss an die Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse den Rücktritt zu erklären. So sei es im vorliegenden Fall. Die Klägerin hätte sich, ihren Vortrag als zutreffend unterstellt, in Anbetracht ihrer langjährigen Krankheitsgeschichte während und nach der Klausurphase im Oktober 2015 nicht darauf verlassen dürfen, dass ihr behandelnder Facharzt lediglich fernmündlich eine reaktive Erschöpfung diagnostiziert habe. Vielmehr hätte es ihr oblegen, nachhaltig auf eine persönliche Untersuchung zu drängen und ihre Prüfungsunfähigkeit zeitnah feststellen zu lassen. Jedenfalls in der sich an die Klausurphase anschließenden Zeit bis einschließlich November 2015 hätte sie, die Klägerin, ihre mögliche Prüfungsunfähigkeit im laufenden Prüfungsverfahren geltend machen müssen. Stattdessen habe sie unter schuldhaftem Verstoß gegen ihre zumutbaren Mitwirkungsobliegenheiten hiermit bis nach der Bekanntgabe ihrer Prüfungsergebnisse im Januar 2016 gewartet.
Am 14. April 2016 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Hannover einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 13. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2016 gestellt.
Mit Beschluss vom 31. August 2016 hat die Kammer der Klägerin im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt und ihr mit weiterem Beschluss vom 12. September 2016 ihren Prozessbevollmächtigten in diesem Verfahren beigeordnet.
Am 9. September 2016 hat die Klägerin Klage erhoben und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Zur Begründung der Klage wiederholt und vertieft sie die Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren. Sie habe mit ihrem Widerspruch vom 20. Januar 2016 ihren krankheitsbedingten Rücktritt vom Prüfungstermin unverzüglich im Sinne des § 16 Abs. 1 S. 3 NJAG erklärt. Im Zeitraum vom 5. Oktober bis zum 16. Oktober 2015 sei sie infolge einer manischen Episode prüfungsunfähig gewesen, wobei es ihr bis Januar 2016 unmöglich gewesen sei, zu dieser Einsicht zu gelangen. Während der Klausurphase sowie im sich anschließenden Zeitraum bis zur ärztlichen Diagnose einer manischen Phase Ende November 2015 habe sie, die Klägerin, ihre Prüfungsunfähigkeit nicht erkennen können. Die mangelnde Einsichtsfähigkeit in den eigenen Gesundheitszustand bzw. die Unfähigkeit zur objektiven Selbstreflexion sei einer sich anbahnenden bzw. bestehenden manischen Episode wesensimmanent. Erschwert werde eine Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes dadurch, dass sich die Erkrankung nicht immer in einer gleichlaufenden schematischen Symptomatik äußere. Die Tatsache, dass sie während des Examens Kontakt zu ihrem behandelnden Facharzt aufgenommen und Bedenken bezüglich ihres Gesundheitszustandes geäußert habe, sei ebenfalls charakteristisch. Von einer manischen Episode Betroffene seien nämlich zunächst durchaus noch in der Lage, ihre manische Symptomatik vorübergehend zu unterdrücken. Sie besäßen einerseits noch genügend Kritikfähigkeit, um zu erkennen, dass andere Leute sie als gestört empfänden. Andererseits ließen sie sich letztendlich durch ihre manische Selbstüberschätzung leiten, womit ihr Handeln eher durch die Krankheit als durch die normalpsychologischen Motive eines gesunden Menschen bestimmt werde. Sie, die Klägerin, habe sich angesichts ihrer Schlaflosigkeit und Emotionalität während der Prüfungsphase darüber hinaus im guten Glauben auf die fernmündlich geäußerten Einschätzungen ihres langjährig behandelnden Facharztes Dr. E. verlassen, der eine manische Phase ausgeschlossen habe. Entsprechendes gelte hinsichtlich der Antworten von Herrn Dr. E. auf ihre Nachfragen bezüglich ihres Gesundheitszustandes in der zweiten Hälfte des Oktobers 2015. Sie habe auch deshalb keinen Grund gehabt, an seiner Einschätzung zu zweifeln, weil ihre letzte manische Phase zwei Jahre zurückgelegen habe und sie einen sehr kritischen Umgang mit ihrer Erkrankung pflege, indem sie sich häufig selbst bei Kleinigkeiten telefonisch mit ihren Fachärzten in Verbindung setze. Dabei habe sie nie irgendeinen Anlass gehabt, an der Qualität der telefonischen Beratung zu zweifeln.
Bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse am 8. Januar 2016 sei sie aufgrund des krankheitsbedingten Größenwahns sogar davon ausgegangen, ein Prädikatsexamen erzielt zu haben. So habe sie wenige Tage nach den Klausuren gegenüber einer Freundin und gegenüber ihrer eigenen Schwester geäußert, sie habe die Klausuren als sehr leicht empfunden und hervorragend gelöst (Bl. 51 f. d. GA). Umso weniger habe sie Zweifel an ihrer Prüfungsfähigkeit während der Klausurphase gehegt. Auch nach der Diagnose der manischen Depression Ende November 2015 sei es ihr unmöglich gewesen, zu erkennen, bereits während der Klausurphase unter einer manischen Episode gelitten zu haben. Die vom Beklagten geäußerte gegenteilige Ansicht laufe darauf hinaus, dass sie mitten während ihrer Manie ein gesundes Urteilsvermögen hätte entwickeln sollen. Mangels Urteils- und Einsichtsfähigkeit könne sie in einer konkreten Manie jedoch keine Erfahrungswerte herleiten und Zusammenhänge erkennen. Ein Maniker sei eben gerade nicht in der Lage, eine gesunde Einsicht zu bilden. Hiermit korrespondierend habe sie auch nach Diagnose der manischen Phase im November 2015 gegenüber ihrem Arzt Herrn F. darauf gedrängt, ihren Gesundheitszustand schnellstmöglich medikamentös zu bessern, weil sie fest mit einer Teilnahme an der mündlichen Prüfung gerechnet habe.
Erst nach Bekanntgabe der negativen Klausurergebnisse am Freitag, dem 8. Januar 2016, habe sie schlagartig erkannt, dass sie sich bereits bei Anfertigung der Aufsichtsarbeiten in einer manischen Phase befunden und ihre Leistungen in einer Art Größenwahn völlig falsch eingeschätzt habe. Hieraufhin habe sie umgehend am Montag, dem 11. Januar 2016, ihren Prozessbevollmächtigten kontaktiert und eine entsprechende Vollmacht zur Geltendmachung ihrer Erkenntnisse erteilt.
Der Hinweis des Beklagten auf die Chancengleichheit der übrigen Prüflinge (Art. 3 Abs. 1 GG) überzeuge nicht. Aufgrund der während der Klausurphase bestehenden Erkrankung habe sie, die Klägerin, wegen der Beeinträchtigung ihres logischen Denkvermögens niemals eine reelle Chance besessen, unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen Kandidaten an den Aufsichtsarbeiten teilzunehmen. Die mit einer manischen Episode einhergehenden psychopathologischen Veränderungen beeinträchtigten nämlich in massiver Form die Denkweise, Erlebens- und Handlungsfähigkeit der Betroffenen, weil die Wahnsymptomatik mit einer Ideenflucht sowie einem gesteigerten Hemmungsverlust und Risikoverhalten einhergehe, d.h. einer krankhaft veränderten Bewertung der eigenen Person und Leistungsfähigkeit.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 13. Januar 2016, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2016, zu verpflichten, die Klägerin erneut zur Wiederholungsprüfung in der zweiten juristischen Staatsprüfung zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verteidigt den angefochtenen Bescheid unter Wiederholung und Vertiefung seines bisherigen Vorbringens. Es sei bereits fraglich, ob die bei der Klägerin diagnostizierte bipolare affektive Störung überhaupt einen prüfungsrechtlich zu akzeptierenden Rücktrittsgrund im Sinne des § 16 Abs. 1 S. 2 NJAG darstellen könne. In Anbetracht ihrer langjährigen Erkrankung könne ein sogenanntes Dauerleiden vermutet werden, d.h. eine krankheitsbedingte, generelle und damit zur Person der Kandidatin gehörende Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit. Hierfür genüge es, dass es sich um ein auf unbestimmte Zeit andauerndes, d.h. nicht in absehbarer Zeit heilbares Leiden handele, unabhängig davon, ob es Stadien gebe, in denen das Leistungsvermögen der Kandidatin nicht eingeschränkt sei. Ein Rücktritt vom Prüfungstermin scheide jedenfalls deshalb aus, weil die Klägerin ihre Prüfungsunfähigkeit nicht unverzüglich gemäß § 16 Abs. 1 S. 3 NJAG geltend gemacht habe. Sie hätte die Prüfungsunfähigkeit bereits während der Klausurphase bei Auftreten der Schlafstörungen anzeigen müssen. Insbesondere hätte sie sich in Anbetracht ihrer Krankheitsgeschichte bei Auftreten der Indizien für eine manische Phase nicht auf die Ferndiagnose ihres Facharztes verlassen dürfen. Sei es typisch für eine manische Episode, dass der Erkrankte diese nicht zutreffend einschätzen könne, so hätte die Klägerin im Vorfeld der Klausuren zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. Sie hätte beispielsweise ihren behandelnden Arzt besonders instruieren müssen, dass er im Verlauf der Klausurphase bei irgendwelchen Anzeichen auf eine Erkrankung auf eine persönliche Untersuchung beharren solle. Zudem hätte sie das Prüfungsamt während der Klausuren von ihrer Erkrankung informieren müssen. Jedenfalls aber hätte es der Klägerin oblegen, nach Diagnose einer manischen Depression Ende November 2015 ihre Prüfungsunfähigkeit gegenüber dem Prüfungsamt anzuzeigen.
Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch Vernehmung des Amtsarztes Herrn C. als Zeugen. Hinsichtlich des Inhalts der Zeugenaussage wird verwiesen auf die Sitzungsniederschrift vom 14. März 2018.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
1.
Sie ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden. Der Klägerin war hier nach § 173 S. 1 VwGO in Verbindung mit § 233 S. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da sie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtsschutzgleichheit für Vermögenslose (Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 GG) schuldlos außerstande war, die Klagefrist einzuhalten und zudem fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Prozesskostenhilfebeschlusses einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat (§ 234 Abs. 1, Abs. 2 ZPO).
2.
Die Klage erweist sich überdies als begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen den Beklagten, erneut zur Wiederholungsprüfung der Zweiten Juristischen Staatsprüfung zugelassen zu werden, weil sie nach § 16 Niedersächsisches Juristenausbildungsgesetz (NJAG) wirksam von der Wiederholungsprüfung zurückgetreten ist. Der Bescheid des Beklagten vom 13. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 11. März 2016 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Ein wirksamer Rücktritt erfordert zunächst nach § 16 Abs. 1 S. 1, S. 2 Var. 1 NJAG einen wichtigen Grund dergestalt, dass der Kandidat nicht prüfungsfähig ist. Prüfungsunfähig ist ein Kandidat, wenn sein Leistungsvermögen zum Zeitpunkt der Prüfung aufgrund einer zeitweisen Beeinträchtigung seines psychischen oder physischen Zustandes erheblich gemindert oder gänzlich aufgehoben ist. Im Falle einer psychischen Beeinträchtigung muss diese in ihrer Qualität zusätzlich über eine allgemeine Examenspsychose hinausgehen, d.h. einen echten „Krankheitswert“ aufweisen (BVerwG, Beschluss vom 03.07.1995 – 6 B 34/95 -, juris Rn. 7). Die gesetzliche Rücktrittsmöglichkeit trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass die im Zustand der Erkrankung erbrachte Prüfung nicht die „normale“ Leistung des Kandidaten widerspiegelt, womit die Berücksichtigung der unter Krankheitseinfluss erbrachten Leistung dessen Erfolgschancen unzumutbar schmälern würde (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.04.2009 – 9 S 502/99 -, juris Rn. 4). Abzugrenzen ist die zeitweise Prüfungsunfähigkeit vom sogenannten Dauerleiden, welches als persönlichkeitsbedingte Eigenschaft die generelle Leistungsfähigkeit des Kandidaten einschränkt. Derartige Leiden stellen vor dem Hintergrund des prüfungsrechtlichen Grundsatzes der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) keinen wichtigen, zum Rücktritt berechtigenden Grund dar, weil ihre Folgen das normale Leistungsbild des Prüflings prägen, welches gerade durch die Prüfung festgestellt werden soll (BVerwG, Beschluss vom 13.12.1985 – 7 B 210/85 -, juris Rn. 6 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts soll dabei nicht entscheidungserheblich sein, ob sich in Fällen eines Dauerleidens mit schwankendem Krankheitsbild auch Phasen bestimmen lassen, in denen das Leistungsvermögen des Kandidaten nicht eingeschränkt sei (BVerwG, a.a.O., Rn. 5, Rn. 7), weil es sich auch in diesen Fällen um eine nicht irreguläre Leistungsbeeinträchtigung handele. Ob eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu einer Prüfungsunfähigkeit im Rechtssinne führt, erfordert vor diesem Hintergrund die Unterscheidung, ob es sich um eine aktuelle und zeitweise Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit handelt oder ob die Beeinträchtigung auf ein Leiden zurückgeht, dessen Behebung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist (VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 4). Maßgeblich für die Beurteilung des Leidens ist dabei sein Charakter im Zeitpunkt der Prüfung (BVerwG, Beschluss vom 5.7.1983 - 7 B 135/82 -, juris Rn. 6; Sächsisches OVG, Beschluss vom 19.12.2008 - 4 B 187/07 -, juris Rn. 6; VG Dresden, Beschluss vom 2.7.2008 - 5 L 285/08 -, juris Rn. 47).
Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle der Klägerin für den Klausurenzeitraum vom 5. Oktober bis zum 16. Oktober 2015 die Voraussetzungen einer krankheitsbedingten Prüfungsunfähigkeit vor.
Das Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den überzeugenden Ausführungen des sachverständigen Zeugen Herrn C. in der mündlichen Verhandlung an. Dieser hat ausgeführt, seinerzeit im Februar 2016 aufgrund der Angaben der Klägerin, welche Symptome sie während der Prüfungsphase an sich beobachtet habe, der ihm vorliegenden Atteste ihrer behandelnden Fachärzte sowie der Ausdrucke des Schriftverkehrs zwischen diesen und der Klägerin zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass die Klägerin bereits seit Beginn der Prüfungstermine am 5. Oktober unter einer Manie gelitten habe. Die bei der Klägerin vorliegende bipolare affektive Psychose sei charakterisiert durch drei Zustände, namentlich einen normalen Zustand, einen manischen und einen depressiven. Der depressive Zustand kennzeichne sich in erster Linie durch Niedergeschlagenheit und geminderten Antrieb, der manische Zustand hingegen durch einen gesteigerten Antrieb und eine besondere Hochstimmung, d.h. den Eindruck, man habe besondere Fähigkeiten. In einer manischen Phase spiele das logische Denken an sich keine große Rolle mehr, was im Einzelfall sogar dazu führen könne, dass die Fähigkeit hierzu völlig aufgehoben werde. Bei der Klägerin habe er auch deshalb eine Manie im Prüfungszeitraum diagnostiziert, weil sie ihm in der persönlichen Exploration diesbezügliche Symptome geschildert habe, d.h. für ihre Verhältnisse außergewöhnlich viel geschrieben zu haben, wobei sie bei Einsicht in die Klausurergebnisse habe feststellen müssen, dass die Prüfer insbesondere unzusammenhängende und unlogische Formulierungen kritisiert hätten. Diesen substantiierten Ausführungen, die sich auf zahlreiche Erkenntnisquellen stützen, erweisen sich als schlüssig und nachvollziehbar, wobei die Kammer keinen Anlass daran hat, an der besonderen Sachkunde des Zeugen als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zu zweifeln. Zudem misst der Gesetzgeber dem Inhalt des in § 16 Abs. 1 S. 4 NJAG geforderten amtsärztlichen Attests eine erhöhte Beweiskraft zu, weil der Amtsarzt in einem besonderen Neutralitätsverhältnis zum Prüfling steht, da er dessen gesundheitliche Situation ohne Rücksicht auf ein etwaiges Interesse an einer längerfristigen Patientenbindung beurteilen kann (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 15.03.2007 – 2 LA 1237/06 -, juris Rn. 9). Insbesondere steht der Bejahung einer manischen Phase im streitgegenständlichen Prüfungszeitraum nicht entgegen, dass einer der behandelnden Fachärzte der Klägerin im November 2015 zunächst eine Depression diagnostiziert hatte. Diesbezüglich hat der Zeuge Herr C. in der mündlichen Verhandlung substantiiert ausgeführt, es habe sich um eine Fehldiagnose gehandelt, welche sich zwanglos daraus erkläre, dass es bei einer manisch-depressiven Erkrankung auch Mischformen der einzelnen Zustände gebe. So beginne die klassische Manie abrupt, jedoch seien auch andere Verläufe denkbar, etwa ein langsamer Aufbau einer manischen Phase.
Die Anerkennung einer Prüfungsunfähigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum scheitert überdies nicht am Vorliegen eines sogenannten Dauerleidens. Die Kammer ist aufgrund des aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks zu der Überzeugung gelangt, dass die manisch-depressive Erkrankung der Klägerin im streitgegenständlichen Prüfungszeitraum eine zeitweise Beeinträchtigung ihrer Leistungsfähigkeit darstellte, nicht aber ein permanentes Leiden, welches ihre Leistungsfähigkeit dauerhaft herabsetzte. Bereits in seiner amtsärztlichen Stellungnahme vom 17. Februar 2016 (Bl. 7 d. GA) hatte der Zeuge Herr C. substantiiert dargelegt, im Falle der Klägerin hätten die behandelnden (Fach-) Ärzte u.a. durch eine psycho-pharmakologische Behandlung mit einer medikamentösen Phasenprophylaxe eine deutliche Verbesserung des Krankheitsverlaufs erzielen können, wobei die letzte manische Phase zum Prüfungszeitraum bereits zwei Jahre zurückgelegen habe. In der mündlichen Verhandlung hat der Zeuge diese Ausführungen nachvollziehbar konkretisiert und ausgeführt, zwar existiere keine Garantie dafür, manische oder depressive Phasen zu verhindern, die im Einzelfall durch besondere Lebenssituationen ausgelöst werden könnten. Es sei aber durchaus möglich, eine völlige Beschwerdefreiheit durch eine gute medikamentöse Einstellung zu erreichen. Dass die Leistungsfähigkeit der Klägerin zum Zeitpunkt der Prüfung nicht auf unabsehbare Zeit beeinträchtigt war, lässt sich zudem indiziell dadurch untermauern, dass sie im Referendariat beim jeweiligen Ausbilder wie auch in der jeweiligen Arbeitsgemeinschaft durchweg den Anforderungen entsprechende Ergebnisse erzielt hatte, ferner durch den Umstand, dass sie im August 2011, mithin ca. vier Jahre nach der erstmaligen Diagnose ihrer Erkrankung, die Erste Juristische Prüfung mit der Note „Befriedigend“ abgelegt hatte (vgl. Bl. 15 f. d. BA). Ebenso hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt, dass sie einen äußert kritischen Umgang mit ihrer Erkrankung pflegt und ihren Gesundheitszustand engmaschig überwacht, indem sie sich regelmäßig, d.h. auch bei Kleinigkeiten, vorsorglich ratsuchend an ihre behandelnden Ärzte wendet, um etwa eine manische Phase auf jeden Fall zu verhindern, da sie ihr eigenes Verhalten in einer derartigen Phase als sehr unangenehm empfinde.
Dass die Frage, ob ein Dauerleiden vorliegt, nicht lediglich aufgrund einer abstrakten Diagnose zu bestimmen ist, sondern nach Lage des individuellen Krankheitsbildes, d.h. der Schwere der Erkrankung und dem bisherigen Krankheits- und Genesungsverlauf, steht auch mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Einklang. So hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht etwa im Beschluss vom 12. August 2016 (Az.: 2 ME 150/16 -, juris Rn. 22- 28) die beim Antragsteller des dortigen Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes u.a. diagnostizierte generalisierte Angststörung (ICD -10: F 41.1) mit rezidivierenden depressiven Episoden (F 31.1) nicht per se als Dauerleiden eingeordnet, sondern dem erstinstanzlichen Gericht aufgegeben, diese Frage unter ausführlicher Auswertung der individuellen Krankheitsgeschichte im Hauptsacheverfahren zu klären. Hieran anknüpfend hat auch das Verwaltungsgericht Göttingen in seinem anschließenden Urteil die Erkrankung nicht aufgrund einer abstrakten Diagnose als Dauerleiden eingestuft, sondern sich ausführlich mit der Krankheitsgeschichte des Klägers auseinandergesetzt (VG Göttingen, Urteil vom 28.03.2017 – 4 A 66/16 -, n.v., S. 5 f.). Auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Dezember 1985 (BVerwG, Beschluss vom 13.12.1985 – 7 B 210/85 -, juris), auf welche das vom Beklagten zitierte Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg (VG Arnsberg, Urteil vom 19.02.2010 – 9 K 1116/08 -, juris) Bezug nimmt, stufte die biphasische endogen Psychose der dortigen Antragstellerin lediglich unter Analyse ihrer Krankheitsgeschichte als Dauerleiden ein, namentlich unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Erkrankung zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits seit 15 Jahren bestand, nach Auskunft des behandelnden Arztes eine Heilung nicht absehbar war und sich der Verlauf der Erkrankung nicht einmal kurzfristig vorhersagen ließ. Eine derartige Konstellation steht bei der Klägerin ausweislich der Einschätzung des sachverständigen Zeugen Herrn C., der sich hierbei auch auf die Erkenntnisse der die Klägerin langjährig behandelnden Fachärzte gestützt hat, nicht in Rede.
Darüber hinaus hat die Klägerin ihre Prüfungsunfähigkeit gegenüber dem Landesjustizprüfungsamt des Beklagten unverzüglich angezeigt (§ 16 Abs. 1 S. 3 NJAG) und unverzüglich durch ein amtsärztliches Attest glaubhaft gemacht hat (§ 16 Abs. 1 S. 4 NJAG), d.h. in Anlehnung an die Legaldefinition des § 121 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ohne schuldhaftes Zögern.
Eine Rücktrittserklärung erfolgt dann ohne schuldhaftes Zögern, wenn der Kandidat sie zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt abgibt, zu dem sie zumutbarerweise hätte erwartet werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.10.1988 - BVerwG 7 C 8.88 -, juris). Die Frist beginnt mit der Kenntnis von der Prüfungsunfähigkeit. Eine solche Kenntnis hat ein Prüfling bereits dann, wenn ihm sein gesundheitlicher Zustand in den wesentlichen Merkmalen bewusst ist und er die Auswirkungen der Erkrankung auf seine Leistungsfähigkeit im Sinne einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“ erfasst (vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.2.2017 - 14 A 2071/16 -, juris, m. w. N.). Die genaue krankheitsbedingte Ursache muss dem Prüfling nicht bekannt sein. (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.12.1993 - BVerwG 6 C 28.92 -, juris; OVG NRW, a.a.O.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.10.2017 – 3 M 83/17 -, juris Rn. 7). In Anwendung dieser Grundsätze erklärte die Klägerin ihren krankheitsbedingten Rücktritt von der Prüfung zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt, zu dem er zumutbarerweise erwartet werden konnte, d.h. mit anwaltlichen Schriftsatz vom 20. Januar 2016.
Die Klägerin konnte während der Klausurphase im Oktober 2015 keine positive Kenntnis von ihrer Prüfungsunfähigkeit erlangen, da ihr zur damaligen Zeit aufgrund der Natur ihrer Erkrankung die nötige Einsichtsfähigkeit in ihren Gesundheitszustand fehlte. Dieses ergibt sich aus der ausführlichen amtsärztlichen Stellungnahme von Herrn C. vom 17. Februar 2016, welcher die Einsichtsfähigkeit der Klägerin in Bezug auf die Klausurwochen auf Grundlage seiner fachärztlichen Expertise nachvollziehbar verneinte. Gegen eine positive Kenntnis der Klägerin spricht zudem die vom Amtsarzt in Bezug genommene Aufzeichnung von Herrn Dr. E., der noch am 18. November 2015 unzutreffend von einer reaktiven Erschöpfung seiner Patientin ausging (Bl. 3 (4) d. GA). Weshalb die Klägerin in einer manischen Phase eine bessere Einsichtsfähigkeit in ihren Gesundheitszustand haben sollte als der sie langjährig behandelnde Facharzt, erschließt sich nicht.
Die Kammer schließt sich in diesem Zusammenhang auch nicht dem Argument des Beklagten an, die Klägerin hätte sich nicht auf die fernmündlich vorgetragenen Aussagen ihres Facharztes verlassen dürfen, sondern hätte auf eine persönliche Untersuchung drängen bzw. bereits im Vorfeld der Klausuren Vorsorgemaßnahmen treffen müssen, d.h. ihren Facharzt zur persönlichen Untersuchung anweisen müssen. Dieses gilt zum einen in tatsächlicher Hinsicht in Ansehung des bestehenden Vertrauensverhältnisses zu Herrn Dr. E. sowie der Frage, wie die Klägerin einen eigenverantwortlich handelnden Facharzt bereits im Vorfeld der Prüfung zur kurzfristigen Vergabe eines Untersuchungstermins zu einem späteren, noch ungewissen Zeitpunkt hätte verbindlich anhalten sollen. Zum anderen weicht dieser Einwand des Beklagten in rechtlicher Hinsicht vom gesetzlichen Maßstab des § 16 Abs. 1 S. 3 NJAG ab. Dieser verlangt die unverzügliche Geltendmachung einer (in der Laiensphäre) erkannten Prüfungsunfähigkeit, sobald der Kandidat die nötige Einsicht hierin erlangt hat, was seinerseits die Einsichtsfähigkeit des Kandidaten voraussetzt. Die Norm verlangt hingegen nicht, dass der Prüfling vor der Prüfung im Zustand der Einsichtsfähigkeit (und Prüfungsfähigkeit) vorsorglich Maßnahmen für den Fall trifft, dass er zum Zeitpunkt der Prüfung seine Einsichtsfähigkeit und Prüfungsfähigkeit verliert. Hierin läge eine vom Gesetz nicht gedeckte Anwendung des Gedankens des Rechtsinstituts der „actio libera in causa“ nach dem Prinzip der zeitlichen Vorverlagerung des rechtlichen Anknüpfungspunktes.
Des Weiteren ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin ihre Prüfungsunfähigkeit während der Klausurphase im Oktober 2015 auch nicht nachträglich dadurch erkennen konnte, dass ihr behandelnder Facharzt Ende November 2015 eine manische Phase diagnostizierte. Bereits die Klägerin hat in ihrer Klagebegründung nachvollziehbar ausgeführt, sie wisse nicht, wie sie gerade in einer manischen Phase und damit im Zustand fehlender Einsichtsfähigkeit den zutreffenden Rückschluss darauf hätte ziehen sollen, dass die Krankheitsphase bereits Anfang Oktober 2015 vorgelegen habe. Dieses gilt umso mehr, als ihr behandelnder Facharzt sie noch während der Klausurphase beruhigt hatte, es läge keine manische Phase vor. Im Übrigen folgt das Gericht den überzeugenden Ausführungen des Zeugen Herrn C. in der mündlichen Verhandlung, der ausführte, die Klägerin habe nach der Diagnosestellung Ende November 2015 keine Möglichkeit gehabt, einen zutreffenden Rückschluss auf ihren Gesundheitszustand im Zeitpunkt der Klausurphase zu ziehen. Als einziger Anknüpfungspunkt habe der Klägerin lediglich ihr subjektives Empfinden über die Prüfung dienen können, und dieses sei ja gerade grandios gewesen, da sie in ihrer Erinnerung das Gefühl hatte, die Klausuren seien sehr gut gelaufen. Ein Indiz dafür, dass die Klägerin davon ausging, dass sie die Klausuren im Zustand der Prüfungsfähigkeit geschrieben zu haben, ist zudem der Umstand, dass sie noch im Januar 2016 sicher vom Bestehen der Klausuren ausging, da sie den Beklagten mit E-Mail vom 7. Januar 2016 (Bl. 20 d. BA) um Mitteilung des Terminzeitraums der bevorstehenden mündlichen Prüfungen bat.
Außerdem ist das Gericht aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin frühestens am 8. Januar 2016 erkannte, die Klausuren im Oktober 2015 im Zustand der unerkannten krankheitsbedingten Prüfungsunfähigkeit geschrieben zu haben. Die Kammer folgt insofern ebenfalls der in sich schlüssigen fachärztlichen Einschätzung des Zeugen Herrn C., es sei absolut nachvollziehbar, dass die Klägerin erst mit der schriftlichen Mitteilung realisiert habe, sich bereits zum Zeitpunkt der Prüfung in einer manischen Phase befunden zu haben. Letzte Sicherheit bezüglich ihres damaligen Gesundheitszustandes hätte sie streng genommen sogar erst dann haben können, als sie Einsicht in ihre Klausuren genommen und erkannt habe, dass ihre Ausführungen weitgehend als unzusammenhängend bzw. nicht nachvollziehbar kritisiert worden seien.
Es bieten sich für das Gericht ferner keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin entgegen der Zielsetzung der gesetzlichen Regelung des § 16 Abs. 1 S. 3 NJAG versucht haben könnte, sich eine ungerechtfertigte Rücktrittsmöglichkeit dergestalt zu verschaffen, dass sie zunächst spekulativ abwartete, ob sie die Prüfung bestanden habe, um sodann erst im Anschluss an die Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse den Rücktritt zu erklären. Hierfür bieten sich bereits deshalb keine Anhaltspunkte, weil eine manische Phase wegen der damit einhergehenden Beeinträchtigung des logischen Denkvermögens die Chancen zum Bestehen der Zweiten Juristischen Staatsprüfung deutlich verringert, ist diese doch darauf angelegt, unter extremen Zeitdruck eine rechtlich fundierte und damit logisch stringente Lösung eines anspruchsvollen Klausursachverhalts zu erbringen. Im Übrigen erachtet die Kammer ein derartiges Vorgehen der Klägerin auch deshalb als fernliegend, weil sie in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt hat, ihr eigenes Verhalten während einer manischen Phase als sehr unangenehm zu empfinden und infolgedessen äußerst darauf bedacht zu sein, derartige Zustände zu vermeiden. Dieses wird aus Sicht der Kammer zudem durch den Schriftverkehr der Klägerin mit ihrem behandelnden Facharzt während und nach der streitgegenständlichen Klausurphase nachhaltig bestätigt.
Schließlich hat die Klägerin das ihr übersandte amtsärztliche Attest vom 17. Februar 2016 sodann unverzüglich im Sinne des § 16 Abs. 1 S. 4 NJAG am 25. Februar 2016 beim Beklagten eingereicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.