Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 09.06.2010, Az.: 14 U 4/10
Busspur; Fahrradfahrer; Fußgänger; Querverkehr
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 09.06.2010
- Aktenzeichen
- 14 U 4/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 47936
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG - 25.11.2009 - AZ: 6 O 85/08
Rechtsgrundlagen
- § 41 StVO
- § 25 StVO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Der Schutzzweck des § 41 Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. dem Zeichen 245 StVO (Busspur) besteht darin, in verkehrsreichen Gegenden und Zeiten den öffentlichen Personenverkehr gegenüber dem Individualverkehr zu fördern und dient nicht dem Schutz des Querverkehrs, weder abbiegenden Fahrzeugen noch kreuzenden Fußgängern.
2. Dennoch braucht ein Fußgänger in der Regel nicht mit verkehrswidrigem Fahren - hier: verbotswidrige Benutzung einer Busspur durch einen Radfahrer im Gegenverkehr - zu rechnen und darf sich darauf verlassen, dass er nicht von links her angefahren wird.
3. Ein auf der falschen Seite fahrender Radfahrer muss sich darauf einrichten, dass
andere Verkehrsteilnehmer mit einem solchen Verhalten nicht rechnen, und muss sich
deshalb auf diese potentielle Gefahrensituation einstellen.
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 25. November 2009 verkündete Teilgrund- und Teilendurteil der Einzelrichterin der 6. Zivilkammer des Landgerichts Hannover teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass der Klägerin gegen den Beklagten dem Grunde nach ein Anspruch auf vollen Schadensersatz aufgrund des Verkehrsunfalls vom 16. Mai 2007 auf der F.-Straße in Hannover zusteht.
2. Es wird festgestellt, dass der Klägerin gegen den Beklagten ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aufgrund des vorgenannten Unfalls ohne Berücksichtigung eines eigenen Mitverschuldens zusteht.
3. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, sämtliche weiteren Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 16. Mai 2007 zu erstatten, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.
4. Die Kostenentscheidung hinsichtlich der ersten Instanz bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
5. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
7. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin war an dem streitbefangenen Verkehrsunfall vom 16. Mai 2007 als Fußgängerin, der Beklagte als Radfahrer beteiligt. Wegen des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf das angefochtene Urteil (Bl. 132 ff. d. A.) verwiesen, mit dem das Landgericht dem Grunde nach die Ansprüche der Klägerin zu 2/3 für berechtigt erachtete (allerdings die - wohl beabsichtigte - Abweisung der weitergehenden Klage unterlassen hat).
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin, die nach wie vor vollständigen Schadensersatz aus dem Unfallereignis vom 16. Mai 2007 begehrt. Sie stellt sich ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von ca. 30.000 € vor und begehrt Erstattung entstandenen Verdienstausfalls sowie eines behaupteten Haushaltsführungsschadens. Ferner begehrt sie Ersatz weitergehender materieller Schäden in Form von Fahrtkosten, beschädigter Kleidung pp.
Mit ihrer Berufung wendet sich die Klägerin gegen die rechtliche Bewertung des Landgerichtes, sie sei als kreuzende Fußgängerin weder in den Schutzzweck des § 41 Abs. 2 Nr. 5, Zeichen 245 StVO (Busspur) noch in den Schutzzweck des § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO einbezogen.
Das Landgericht habe zu Unrecht offen gelassen, ob bereits zum Unfallzeitpunkt durch das Verkehrszeichen Nr. 237 geregelt gewesen sei, dass der Beklagte zwingend den Radweg auf der anderen Straßenseite habe benutzen müssen, denn daraus ergebe sich ein noch stärkeres Verschulden seinerseits.
Ebenso wenig habe das Landgericht Feststellungen zu ihrer (der Klägerin) Behauptung unterlassen dürfen, der Beklagte sei entgegen § 3 StVO mit unangemessen überhöhter Geschwindigkeit gefahren.
Das Landgericht habe ihr zu Unrecht ein Mitverschulden angelastet, weil sie den Fußgängerüberweg am Lister Platz habe benutzen müssen. Zum einen sei die Entfernung zu der Lichtzeichenanlage nicht unerheblich, zum anderen habe sie, um die Ampel zu erreichen, noch eine weitere Straße überqueren müssen, woraus sich ein erhöhtes Gefährdungspotential für sie ergeben habe.
Da die Ampel am Lister Platz noch auf Rot geschaltet gewesen sei, habe für sie (die Klägerin) keine Gefahr beim Überschreiten der Straße bestanden, da insbesondere nicht das Risiko bestanden habe, dass die Fahrzeuge in dem vor der Ampel stehenden Stau wieder anfahren würden.
Die Klägerin beantragt,
wie erkannt.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Er hält durchaus eine Quotierung von 50 : 50 für vertretbar und angemessen und behauptet, er sei sehr langsam gefahren. Die Klägerin hafte schon deshalb zu mindestens 1/3, weil sie gegen ihre Pflichten als Fußgängerin verstoßen habe.
II.
Die zulässige Berufung der Klägerin hat Erfolg. Der Beklagte hat ihr für die Folgen des Unfalls vom 16. Mai 2007 in vollem Umfang Schadensersatz zu leisten.
Entgegen der Auffassung des Landgerichtes und des Beklagten führt die Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge der Parteien am Zustandekommen des Unfalls gemäß § 254 BGB zu einer alleinigen Haftung des Beklagten.
1. Zu Unrecht hat das Landgericht der Klägerin ein Mitverschulden wegen eines Verstoßes gegen § 25 Abs. 3 StVO beim Überschreiten der F.-Straße angelastet. Insoweit bestehen schon Zweifel, ob der Beklagte als vorschriftswidrig die Fahrbahn auf der falschen Seite auf einer ausschließlich dem Busverkehr vorbehaltenen Sonderspur fahrender Radfahrer in den Schutzbereich dieser Vorschrift einbezogen ist. Der Schutzzweck des § 25 Abs. 3 StVO geht nämlich dahin, Fußgänger in ihrem Sicherheitsinteresse die Möglichkeit zu eröffnen, Straßen geschützt durch Fußgängerfurten etc. vor herannahendem Verkehr gefahrlos zu überqueren (BGH VersR 1990, 99). Dies braucht indes für den vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden.
Gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO haben Fußgänger Fahrbahnen unter Beachtung des Fahrzeugsverkehrs zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung zu überschreiten. Das hat die Klägerin unstreitig getan.
Lediglich wenn es die Verkehrslage erfordert, hat dieses Überschreiten der Fahrbahn nur an Kreuzungen oder Einmündungen, an Lichtzeichenanlagen innerhalb von Markierungen oder auf Fußgängerüberwegen zu geschehen. In diesem Zusammenhang ist bei der Beurteilung der Frage, ob der Fußgänger verpflichtet ist, einen - wie hier - nahe gelegenen, durch Lichtzeichenanlagen gesicherten Fußgängerüberweg zu benutzen, auf die Verkehrsdichte, aber auch auf die Fahrtgeschwindigkeit und die örtlichen Sichtverhältnisse abzustellen sowie darauf, ob für den Fußgänger bei seinem konkreten Verhalten besondere Schwierigkeiten und Gefahren bestanden.
Es bestehen auch hier Zweifel (die zu Lasten des insoweit beweisbelasteten Beklagten gehen), ob die Klägerin im vorliegenden Fall tatsächlich verpflichtet war, den nur 30 m entfernten Fußgängerüberweg am Lister Platz zu benutzen. Zwar handelt es sich bei der F.-Straße um eine verkehrsreiche Straße am Rande der Innenstadt Hannovers. Die Klägerin verweist jedoch zu Recht darauf, stadtauswärts habe kein Fahrzeugverkehr geherrscht und stadteinwärts hätten die Pkw in dem Bereich, in dem sie die Straße überquerte, vor der auf Rot zeigenden Ampel gestanden. Die Klägerin hat ebenfalls unbestritten vorgetragen, das Wiederanfahren dieser Fahrzeuge habe nicht unmittelbar bevorgestanden.
Hinzu kommt, dass ein Fußgänger mit verkehrswidrigem Fahren in der Regel nicht zu rechnen braucht und sich darauf verlassen darf, dass er nicht von links her angefahren wird (BGH, NJW 66, 1211 [BGH 20.04.1966 - III ZR 184/64]; BGH, VRS 34, 18).
Im Ergebnis kann aber auch diese Frage offen bleiben, denn ein etwaiger Verstoß der Klägerin gegen ihre Pflichten als Fußgängerin nach § 25 Abs. 3 StVO wäre allenfalls im Bereich leichter Fahrlässigkeit (gegen sich selbst) anzusiedeln, sodass er gegenüber dem erheblich verkehrswidrigen Verhalten des Beklagten zurücktritt.
2. Der Beklagte hat sich nämlich bei dem Geschehen am 16. Mai 2007 mehrfach grob verkehrswidrig verhalten. Er hat sich nach eigenen Angaben zwischen dem hinteren der beiden auf der Busspur stehenden Busse und der vor der Ampel stehenden Fahrzeugschlange hindurchgezwängt, dabei unberechtigt den Sonderstreifen „Busspur“ benutzt und dies auch noch auf der falschen Fahrbahnseite, obwohl zudem auf beiden Seiten der F.-Straße Radwege vorhanden waren.
a) Zwar ist im Grundsatz die von dem Landgericht in seiner Hinweisverfügung vom 5. Januar 2009 (Bl. 101 f. d. A.) sowie in dem angefochtenen Urteil vertretene Auffassung, der Schutzzweck des § 41 Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. dem Zeichen 245 StVO (Busspur) bestehe darin, in verkehrsreichen Gegenden und Zeiten den öffentlichen Personenverkehr gegenüber dem Individualverkehr zu fördern und diene nicht dem Schutz des Querverkehrs, weder abbiegenden Fahrzeugen noch kreuzenden Fußgängern, richtig (LG Berlin, Schaden-Praxis 2008, 5 f. - juris-Rdnr. 21; Kammergericht, VersR 1982, 583; OLG Hamm, NZV 2001, 428 f. - juris-Rdnr. 18).
Gleichwohl muss sich der Beklagte dieses verkehrswidrige Verhalten im Rahmen seiner Pflichten nach § 1 StVO als Verschulden entgegenhalten lassen, da die Klägerin mit der verbotswidrigen Benutzung der Busspur durch einen Radfahrer im Gegenverkehr nicht rechnen musste (vgl. u. a. OLG Hamm, a. a. O. - juris-Rdnr. 19; BGH, VersR 1990, 1366 - juris-Rdnr. 7).
b) Das gilt auch für die Benutzung der Fahrbahn überhaupt durch den Beklagten statt eines der beiden vorhandenen Radwege, wobei offen bleiben kann, ob es eine Kennzeichnung zur Benutzung eines bestimmten Radweges gab. Zwar dient auch die Bestimmung des § 2 Abs. 4 StVO der Fernhaltung der Radfahrer von der Fahrbahn und damit der Verkehrsentmischung und Unfallverhütung. Selbst wenn man jedoch davon ausgeht, dass die Klägerin als kreuzende Fußgängerin nicht unter den Schutzbereich dieser Vorschrift fällt, gilt auch hier, dass sie mit einem Radfahrer auf der Fahrbahn in entgegengesetzter Richtung nicht rechnen konnte und musste, da auf beiden Straßenseiten Radwege vorhanden waren.
c) Schließlich hat der Beklagte auch noch gegen das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 1 und/oder Abs. 2 StVO verstoßen. Zwar wird insoweit zum Teil die Auffassung (wie vom Landgericht) vertreten, auch das Rechtsfahrgebot diene nicht dem Schutz derer, die die Fahrbahn kreuzen oder auf sie ein- bzw. abbiegen.
Der Senat teilt jedoch die bei Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 2 StVO Rdnr. 33 angemeldeten Zweifel, ob eine derartige Einschränkung tatsächlich sachgerecht und insbesondere unfallverhütend ist, weil jeder Verkehrsteilnehmer mit der Beachtung des Rechtsfahrgebotes rechnet und im Regelfall auch rechnen darf. Dementsprechend hat auch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung VersR 1977, 524 ff., in der er zwar zunächst bestätigt hat, das Rechtsfahrgebot diene allein dem Schutz der Verkehrsteilnehmer, die sich in Längsrichtung auf derselben Straße bewegen, gleichwohl ausgeführt, dem Vorfahrtsberechtigten könne trotzdem ein Vorwurf schuldhaft verkehrswidrigen Verhaltens gemacht werden, wenn er sein Vorfahrtsrecht missbrauche, indem er gegen das Gebot der allgemeinen Sorgfalts- und Rücksichtspflichten im Straßenverkehr verstoße (so auch OLG Stuttgart, DAR 2007, 33 ff. - juris-Rdnr. 35 und 40 sowie KG, DAR 1993, 257). Ein auf der falschen Seite fahrender Radfahrer muss sich nämlich darauf einrichten, dass andere Verkehrsteilnehmer mit einem solchen Verhalten nicht rechnen und muss sich deshalb auf diese potentielle Gefahrensituation einstellen.
d) Die Klägerin kann hingegen nicht beweisen, dass der Beklagte für die Situation zu schnell gefahren ist. Zeugen, die den Vorfall beobachtet haben und etwas zur Geschwindigkeit des Beklagten aussagen können, sind nicht vorhanden. Für die Einholung eines Sachverständigengutachtens sind keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Ermittlung der Geschwindigkeit des Fahrrades vorhanden.
Im Ergebnis kommt es aber auch darauf nicht an. Denn angesichts des in mehrfacher Hinsicht schwerwiegend verkehrswidrigen Verhaltens des Beklagten, mit dem die Klägerin nicht rechnen musste, hält der Senat es für sachgerecht, dass der Beklagte für die Folgen des Unfalls vom 16. Mai 2007 allein einzustehen hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 708 Nr. 10, 713, 543 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.