Amtsgericht Göttingen
Beschl. v. 26.02.2008, Az.: 74 IN 304/07
Eröffnung eines erneuten Insolvenzverfahrens bei Fortführung eines Geschäftsbetriebs und Bestehen von Anfechtungsansprüchen; Rechtliches Interesse des Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens hinsichtlich eines aus der Masse freigegebenen und vom Schuldner fortgeführten Geschäftsbetriebs; Möglichkeit der Eröffnung eines erneuten Insolvenzverfahrens während eines laufenden Insolvenzverfahrens
Bibliographie
- Gericht
- AG Göttingen
- Datum
- 26.02.2008
- Aktenzeichen
- 74 IN 304/07
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 19276
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:AGGOETT:2008:0226.74IN304.07.0A
Rechtsgrundlage
- § 14 Abs. 1 InsO
Fundstellen
- NZI 2008, 313-315 (Volltext mit amtl. LS)
- NZI 2008, 34
- NZI 2008, 8
- ZVI 2008, 170-172 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Während eines laufenden Insolvenzverfahrens kann ein erneutes Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet werden. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn ein selbständig tätiger Schuldner einen freigegebenen Geschäftsbetrieb fortführt und Anfechtungsansprüche vorliegen.
- 2.
Ob bei einem erneuten Restschuldbefeiungsantrag des Schuldners der Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO eingreift, bleibt dahingestellt.
Tenor:
In dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der wird heute um 18:00 Uhr das Insolvenzverfahren gemäß §§ 2,3,11,16 ff. InsO wegen Zahlungsunfähigkeit eröffnet.
Zum Insolvenzverwalter wird bestellt:
Rechtsanwalt ...
Gründe
I.
Über das Vermögen der Schuldnerin ist aufgrund Fremdantrages und - mit Antrag auf Restschuldbefreiung verbundenen - Eigenantrages am 23.04.2004 das Insolvenzverfahren eröffnet worden (74 IN 4/04). Eine Verfahrensaufhebung ist bislang nicht erfolgt. Das Anlagevermögen ist an den Schwiegervater der Schuldnerin übergeben und sodann die selbständige Tätigkeit der Schuldnerin aus der Masse freigegeben worden.
Ein Antrag des Finanzamtes Göttingen vom 31.01.2007 auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin hat das Insolvenzgericht Göttingen mit - rechtskräftigen - Beschluss vom 02.03.2007 (74 IN 49/07) als unzulässig abgewiesen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH (BGH ZInsO 2004, 739), wonach während eines laufenden Insolvenzverfahrens ein neuer Insolvenzantrag unzulässig ist.
Am 06.09.2007 hat die Antragstellerin wegen rückständiger Gesamtsozialversicherungsbeiträge für den Zeitraum vom 01.07.2006 bis 31.08.2007 in Höhe von 5.962,90 EUR Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin gestellt. Mit Verfügung vom 12.09.2007 hat das Insolvenzgericht die Antragstellerin zunächst auf Bedenken gegen die Zulässigkeit des Insolvenzantrages hingewiesen. Die Antragstellerin hat darauf nachgefragt, ob das Unternehmen der Schuldnerin freigegeben worden ist.
Nachdem die Freigabe in dem (eröffneten) Verfahren 74 IN 4/04 festgestellt worden war, hat das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 12.10.2007 (ZVI 2007, 571) einen Sachverständigen eingesetzt. In der Folgezeit sind weitere Sozialversicherungsbeiträge fällig geworden. Unter Berücksichtigung von Teilzahlungen ergibt sich nach den Angaben der Antragstellerin im Schriftsatz vom 15.01.2008 eine Betrag von 5.928,33 EUR.
In seinem Abschlussgutachten vom 18.02.2008 empfiehlt der Sachverständige, das Insolvenzverfahren zu eröffnen. Nach seinen Feststellungen betrieb die Schuldnerin im Zeitpunkt der Antragstellung zwei Ladengeschäfte zum Verkauf von Schnittblumen und weiteren Gewächsen. Inzwischen sind die Angestellten entlassen und eines der Ladengeschäfte geschlossen worden. Für den Fall der Verfahrenseröffnung hat der Sachverständige eine (erneute) Freigabe der selbständigen Tätigkeit angekündigt, da Überschüsse aus dem Geschäftsbetrieb nicht zu erwarten sind.
Das Vermögen der Schuldnerin umfasst zwei PKW und einen PKW -Anhänger. Im Hinblick auf § 811 Ziffer 5 ZPO ist nur einer der PKW verwertbar zu einem geschätzten Erlös von 800 EUR. Nicht verwertbar sind auch die Geschäftsausstattung und ein Warenlager. Weiter bestehen Ansprüche aus anfechtbaren Leistungen in Höhe von 7.087,00 e aufgrund von Zahlungen der Schuldnerin an die Antragstellerin in Höhe von 6.687,00 EUR und Pfändungen weiterer Gläubiger in Höhe von 400 EUR.
Der freien Masse von 7.887,00 EUR stehen gegenüber Verbindlichkeiten bei der Antragstellerin in Höhe von ca. 5.900 EUR und bei dem Finanzamt in Höhe von 17.517,27 EUR aus Lohn- und Umsatzsteuern.
II.
Das Insolvenzgericht hat das Insolvenzverfahren eröffnet.
1)
Die Schuldnerin ist zahlungsunfähig (§ 17 InsO), das Vermögen der Schuldnerin wird voraussichtlich ausreichen, um die Kosten des Verfahrens zu decken (§ 26 InsO).
2)
Weiter liegt auch das rechtliche Interesse im Sinne des § 14 Abs. 1 InsO vor.
a)
Zum Vorliegen des rechtlichen Interesses bei Zulassung des Antrages hat das Insolvenzgericht im Beschluss vom 12.10.2007 (ZVI 2007, 571) im Rahmen der Anordnung eines Sachverständigengutachtens zusammengefasst folgendes ausgeführt:
Nach der Rechtsprechung des BGH (ZInsO 2004, 739) besteht zwar an der Durchführung eines so genannten Zweitinsolvenzverfahren grundsätzlich kein rechtlich geschütztes Interesse von Neugläubigern. Dem entschiedenen Fall lag der Sachverhalt zugrunde, dass der Schuldner einen Restaurantbetrieb mit Einverständnis des Insolvenzverwalters fortsetzte. Für die Entscheidung hat der BGH darauf abgestellt, dass nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erzielte Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit eines Schuldners im vollen Umfang zur Insolvenzmasse gehören (unter Hinweis auf den Beschluss vom 20.03.2003 NZI 2003, 389, 392 [BGH 20.03.2003 - IX ZB 388/02] = ZInsO 2003, 413, "Psychologinnenentscheidung"). Das mangelnde rechtliche Interesse hat der BGH daraus hergeleitet, dass die Antragstellerin nicht darlegte, dass der Schuldner Vermögen habe, welches weder gem. § 35 InsO zur Insolvenzmasse gehöre noch nach § 36 InsO unpfändbar sei.
Dieser Argumentation ist das Insolvenzgericht für die Zulässigkeit eines Antrages nicht gefolgt. Im Beschluss vom 02.10.2007 in dem Verfahren 71 IN 227/03 (ZInsO 2007, 1165 = ZVI 2007, 573) hat das Insolvenzgereicht festgestellt, dass das Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO die Zwangsvollstreckung von Neugläubigern nicht in jedem Fall hindert. Zur Begründung hat es darauf abgestellt, dass Neugläubiger zwar grundsätzlich dem Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO mit der Begründung unterworfen werden, dass die Insolvenzmasse nur der Befriedigung der Insolvenzgläubiger diene (FK-InsO/App § 89 Rz. 3), allerdings die Einschränkung gemacht werde, dass die Zwangsvollstreckung in das insolvenzfreie pfändbare Vermögen des Schuldners durchaus zulässig sei (MK-InsO/Breuer § 89 Rz. 26).
Letzteres ist beispielsweise denkbar, wenn ein Geschäftsbetrieb des Schuldners freigegeben wird (§ 35 Abs. 2, Abs. 3 InsO). Weiter ist in der Entscheidung ausgeführt, dass das Vorliegen dieser Voraussetzungen für Vollstreckungsorgane/
Insolvenzgericht nicht feststellbar ist. Da Neugläubiger nicht rechtlos gestellt werden dürfen und sie einen entsprechenden Nachweis nicht führen können, ist die Vollstreckung zulässig, Insolvenzverwalter/Schuldner müssen sich auf die Möglichkeit der Erinnerung gem. § 766 ZPO verweisen lassen.
Nicht erforderlich für die Zulässigkeit des Antrage ist es daher, dass die Neugläubiger darlegen, dass insolvenzfreies Vermögen etwa in Folge der Freigabe eines Geschäftsbetriebes vorhanden ist (a. A. MK-InsO/Schmahl § 14 Rz. 45). Damit würden an sie unerfüllbare Anforderungen gestellt. Dies zu überprüfen ist Aufgabe des Insolvenzgerichtes im Rahmen der Amtsermittlung gem. § 5 InsO.
b)
Das rechtliche Interesse besteht fort. Insbesondere die vom Sachverständigen festgestellten Anfechtungsansprüche können nur im Rahmen eines eröffneten Insolvenzverfahrens geltend gemacht werden.
3)
Werden Gegenstände aus der Masse freigegeben, die der Schuldner als Vermögen besitzt und die nicht gem. § 35 InsO zur Insolvenzmasse gehören, kann über dieses Vermögen ein weiteres Verfahren eröffnet werden (MK-InsO/Lwowsky/Peters § 35 Rz. 75; Holzer ZVI 2007, 289, 292 f.; Zipperer ZVI 2007, 541, 542; ähnlich Andres NZI 2006, 198, 200f. [BVerfG 13.09.2005 - 2 BvF 2/03], der die Möglichkeit der Einzelzwangsvollstreckung bejaht; a. A. Pape NZI 2007, 481, 482 und Insbüro 2006, 212, 221 f.).
Nur so besteht die Möglichkeit des geordneten Marktaustrittes insolventer, rechtlich nicht verselbständigter Unternehmen. Es wird verhindert, dass unter dem Vollstreckungsschutz im eröffneten Insolvenzverfahren (Neu)Gläubiger praktisch rechtlos gestellt werden. Vermögensansprüche werden aufgedeckt und können realisiert werden, insbesondere Anfechtungsansprüche, die nur nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durchgesetzt werden können.
4)
Allgemein ist zur Durchführung eines Zweitinsolvenzverfahrens folgendes zu bemerken:
a)
Mit Eröffnung des Zweitinsolvenzverfahrens bestehen mehrere laufende Insolvenzverfahren. Dies ist eine Konsequenz aus der nunmehr in § 35 Abs. 2, Abs. 3 InsO geregelten Freigabemöglichkeit. Wie unter Geltung der KO fällt bei Im Falle der Freigabe Neuerwerb nicht in die Masse, es ist ein zweites Verfahren möglich (Zipperer ZVI 2007, 541, 543 Fn. 31). Ggf. bedarf es im Hinblick auf die Restschuldbefreiung einer Regelung durch den Gesetzgeber (s. u. c).
Die Abwicklung zweier "Parallelinsolvenzverfahren" ist auch unter Geltung der InsO nicht gänzlich unbekannt, wie bereits der im Beschluss vom 05.10.2007 in dem Verfahren 74 IN 295/07 (ZInsO 2007, 1164 = ZVI 2007, 534 = NZI 2008, 56 = Rpfleger 2008, 157) angeführte Fall eines nach Tod des Schuldners als Nachlassinsolvenzverfahren fortgeführten massereichen Insolvenzverfahrens und eines (weiteren) Nachlassinsolvenzverfahrens der Erben zeigt (Einzelheiten bei Köke/Schmerbach ZVI 2007, 497 ff.). Beide Vermögensmassen können klar abgegrenzt werden. Gegenstand des Zweitinsolvenzverfahrens kann nur das nicht vom Insolvenzbeschlag des ersten Insolvenzverfahrens erfasste Vermögen sein. In Betracht kommen regelmäßig nicht freigegebene Gegenstände, da sie im Falle der Werthaltigkeit bei der Insolvenzmasse verbleiben würden, sondern
- Neuerwerb des Schuldners
- Anfechtungsansprüche gegenüber Neugläubigern.
b)
Insolvenzgläubiger im vorliegenden Verfahren sind die Gläubiger, deren Forderungen nach Eröffnung des Erstverfahrens entstanden sind. Ob auch (Alt)Gläubiger des Erstverfahrens darunter fallen, wenn sie auf Befriedigung im Erstverfahren verzichten oder nur ihren Ausfall geltend machen (so für das Nachlassinsolvenzverfahren hinsichtlich des Ausfalles Köke/Schmerbach ZVI 2007, 497, 500, für die KO insgesamt bejahend Zipperer ZVI 2007, 541, 543 Fn. 31 unter Hinweis auf Kilger/Karsten Schmidt, KO, § 1 Anm. 3 B), muss ggf. im Wege einer Feststellungsklage vor den Zivilgerichten geklärt werden. Dagegen könnte sprechen, dass die Altgläubiger in der Wohlverhaltensperiode des Erstinsolvenzverfahrens Zugriff auf das pfändbare Vermögen erhalten (§§ 287 Abs. 2 Satz 1, 295 Abs. 2 InsO).
c)
Schwierigkeiten ergeben sich hinsichtlich der Möglichkeit zweier oder mehrerer paralleler Restschuldbefreiungsverfahren. § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO schließt für den Fall der Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens einen erneuten Antrag des Schuldners auf Restschuldbefreiung nicht aus, da in dem ersten Verfahren noch keine Restschuldbefreiung erteilt ist. Ob insoweit eine Auslegung in Betracht kommt, dass keine neue Restschuldbefreiung beantragt werden kann, wenn noch ein anderes Restschuldbefreiungsverfahren anhängig ist, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. Denkbar und wünschenswert ist eine Klarstellung durch den Gesetzgeber.
Auch eine Eröffnung aufgrund eines Stundungsantrages des Schuldners ist denkbar. Diese Problematik besteht so lange, wie die Regelungen der §§ 4 a ff. InsO in Kraft sind. Eine Ablehnung des Stundungsantrages kann nur aufgrund der soeben angesprochenen Auslegung des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO begegnet werden (da über den Wortlaut des § 4a Abs. 1 Satz 3 InsO hinaus jeder Versagungsgrund des § 290 InsO zur Ablehnung eines Stundungsantrages berechtigt, BGH NZI 2005, 232 = ZVI 2005, 124 = ZInsO 2005, 207).
d)
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen allerdings keine Kollisionen. Im Erstverfahren ist der Geschäftsbetrieb freigegeben, Einkünfte stehen der Schuldnerin zu. Im vorliegenden Verfahren wird die Schuldnerin nach der vom Sachverständigen angekündigten Freigabe verpflichtet sein, gem. §§ 35 Abs. 2 Satz 2, 295 Abs. 2 InsO die Neugläubiger so zu stellen, als wenn sie ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre. Als Sanktion kommt vor Aufhebung des Zweitinsolvenzverfahrens eine Versagung der Restschuldbefreiung gem. § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO in Betracht (Schmerbach Insbüro 2007, 202, 211; abl. mangels grober Fahrlässigkeit Zipperer ZVI 2007, 541, 543), sofern die Schuldnerin einen (erneuten) Antrag auf Restschuldbefreiung stellt und dieser nicht aus anderen Gründen zu versagen ist (s. o. c). Zu Kollisionen kommt es, wenn bei freigegebenen Geschäftsbetrieb das Erstverfahren aufgehoben ist (bei ab dem 01.07.2007 eröffneten Verfahren schon ab Freigabe) und damit zwei Ansprüche der verschiedenen Gläubigergruppen auf Befriedigung gem. § 295 Abs. 2 InsO bestehen; gleiches gilt nach Aufhebung des Zweitinsolvenzverfahrens. Voraussetzung ist wiederum, dass die Schuldnerin einen (erneuten) Antrag auf Restschuldbefreiung stellt und dieser nicht aus anderen Gründen zu versagen ist (s. o. c).
Als weitere Lösungsmöglichkeit wird diskutiert, den Abführungsbeträgen für die Erstinsolvenz einen Absonderungsstatus gemäß § 51 Nr. 1 InsO zuzuerkennen (Zipperer ZVI 2007, 541, 543 f.). Auch kann der Schuldner im Erstverfahren noch in der Wohlverhaltensperiode von der Abtretung Abstand nehmen und auf die Restschuldbefreiung verzichten (BGH ZInsO 2006, 871, 872[BGH 13.07.2006 - IX ZB 117/04]; FK-InsO/Ahrens § 287 Rz. 16 mit der Einschränkung, dass noch kein Versagungsverfahren durchgeführt wird).
e)
Im Hinblick auf die ungeklärte Rechtslage wird das Insolvenzgericht mit Zustellung des Eröffnungsbeschlusses die Schuldnerin über die Möglichkeit der Restschuldbefreiung belehren.
5)
Wegen der Vielzahl der ungeklärten Rechtsfragen behält sich der Richter die Bearbeitung der weiteren Verfahrens gem. § 18 Abs. 2 RPflG vor. Für eine schriftliche Durchführung gem. § 5 Abs. 2 InsO ist das Verfahren nicht geeignet.