Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 10.06.2004, Az.: 2 A 382/03
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 10.06.2004
- Aktenzeichen
- 2 A 382/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 43175
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2004:0610.2A382.03.0A
In der Verwaltungsrechtssache
Streitgegenstand:
Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (Folgeverfahren)
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 2. Kammer - ohne mündliche Verhandlung am 10. Juni 2004 durch den Richter am Verwaltungsgericht L. als Einzelrichter
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17.09.2003 verpflichtet, bei der Klägerin das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gem. § 53 Abs. 6 AuslG hinsichtlich Vietnam festzustellen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des gegen sie festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist vietnamesische Staatsangehörige. Sie reiste im Jahre 1998 nach Deutschland ein und hat bereits erfolglos ein Asylverfahren betrieben; mit Bescheid vom 26.03.1998 hatte das Bundesamt den Asylantrag abgelehnt, ein anschließendes Klageverfahren vor dem VG Braunschweig wurde wegen Nichtbetreibens des Verfahrens mit Beschluss vom 19.04.2001 eingestellt. Weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren hatte sich die Klägerin darauf berufen, dass sie an einer Krankheit leide.
Mit Schreiben vom 03.04.2003 stellte die Klägerin beim Bundesamt - nur bezogen auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG - einen Wiederaufgreifensantrag. Zur Begründung trug sie vor, die dem damaligen Urteil zugrundeliegende Sachlage habe sich geändert. Sie leide an Diabetes Mellitus Typ I, es bestehe ein Verdacht auf Nierenversagen, eine ausreichende medizinische Behandlung in Vietnam sei nicht gewährleistet, zumal sie diese sich auch aus finanziellen Gründen nicht leisten könnte. Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 17.09.2003 den Antrag ab und führte zur Begründung aus, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG nicht erfüllt seien, die 3-Monats-Frsit zur Geltendmachung der neuen Tatsachen seien verstrichen. Zudem sei eine leidensgerechte Behandlung der Erkrankung der Klägerin in Vietnam möglich. Unabhängig von diesen Erwägungen habe der Wiederaufgreifensantrag auch keinen Erfolg, wenn das Bundesamt. gem. §§ 51 Abs. 5, 48 oder 49 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen über den Antrag entscheide, da keine Gründe vorlägen, die unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG eine Abänderung der bisher getroffenen Entscheidung rechtfertigten.
Die Klägerin hat am 02.10.2003 Klage erhoben. Sie meint, die im angefochtenen Bescheid in Bezug genommene Vorschrift des § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG fänden in ihrem Fall keine Anwendung. Zwar habe sie bereits während ihrer Schwangerschaft im Jahre 1999 erhöhte Blutzuckerwerte gehabt, doch seien diese nach der Schwangerschaft zunächst unauffällig gewesen. Erst am 17.06.2002, mithin nach Abschluss des Asylerstverfahrens, sei von ihrer Ärztin die Erkrankung diagnostiziert worden. Dies habe die Klägerin dann gegenüber der Ausländerbehörde geltend gemacht. Wenn diese ihre Erkenntnisse nicht sogleich an das Bundesamt weiterleite, treffe die Klägerin, die Sprachprobleme habe, kein Verschulden.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17.09.2003 zu verpflichten, bei ihr das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gem. § 53 Abs. 6 AuslG hinsichtlich Vietnam festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beteiligte hat sich zum Verfahren nicht geäußert und stellt auch keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und des Landkreises M. Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage, über die der Einzelrichter mit Zustimmung der Beteiligten gem. § 101 abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.
Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren gem. § 71 Abs. 1 AsylVfG nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Dies gilt nach allgemeiner Auffassung auch in Verfahren, in denen ausschließlich zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 geltend gemacht werden. Der Antrag ist nach § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Absatz 3 der Vorschrift bestimmt ergänzend, dass der Antrag binnen drei Monaten nach dem Tage gestellt werden muss, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat.
In Anwendung der vorstehenden Rechtsgrundsätze hält das Gericht nach dem entscheidungserheblichen Vorbringen der Klägerin die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach §§ 71 AsylVfG, 51 Abs. 1 - 3 VwVfG nicht für gegeben. Zwar hat sich der Gesundheitszustand der Klägerin seit Abschluss des Asylerstverfahrens ausweislich der vorgelegten Unterlagen nennenswert verschlechtert, dies hat sie jedoch nicht innerhalb der 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG gegenüber dem Bundesamt vorgebracht. Soweit sich die Klägerin darauf beruft, dass die Ausländerbehörde, der Landkreis M., Angaben über ihre Erkrankung nicht an das Bundesamt weitergeleitet hat, bestand dafür auch weder eine Verpflichtung noch ein Anlass. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Klägerin gegenüber der Ausländerbehörde sich bei ihrem Antrag vom 29.01.2003, der (nur) auf Erteilung einer Duldung bzw. Aufenthaltsbefugnis gerichtet war, anwaltlich durch ihre derzeitigen Bevollmächtigten vertreten ließ.
Unabhängig von dem Vorstehenden hat die Klage aber deshalb Erfolg, weil die Versorgungslage mit Medikamenten in Vietnam für Menschen mit unzureichendem Einkommen, die an einer insulinpflichtigen Diabetes Mellitus I - Erkrankung leiden, so ungünstig ist, dass eine Abschiebung der Klägerin nach Vietnam bei ihr zu schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, wenn nicht sogar zum baldigen Tod führen würde. Das hätte das Bundesamt bei der nach § 49 Abs. 1 VwVfG zu treffenden Ermessensentscheidung berücksichtigen müssen. Da das Ermessen hier wegen der Folgen für die Klägerin auf Null reduziert ist, vermag das Gericht den begehrten Verpflichtungsausspruch zu erlassen.
Nach dem aktuellen Lagebericht Vietnam des Auswärtigen Amtes vom 04.03.2004 (S. 10f.), der die Erkenntnisse des Lageberichts aus dem Jahre 2003 fortschreibt, steht nach wie vor den Vietnamesen (bis auf hier nicht interessierende Ausnahmen) kein staatliches - kostenfreies - Gesundheitssystem zur Verfügung. Zwar sind die meisten Krankheitsbilder, so auch Diabetes Mellitus I in Vietnam grundsätzlich behandelbar. Die Qualität der Behandlung und die Möglichkeit, sich mit Medikamenten zu versorgen, ist aber unmittelbar abhängig von den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen. Anders gewendet: Wer wie die Klägerin das nötige Geld in Vietnam für Insulin nicht hat, ist nach Rückkehr in die Heimat dem baldigen Tode geweiht. Nichts anderes besagt die den Beteiligten bekannte Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Hanoi an das VG Braunschweig vom 30.09.1999 (vgl. die unpaginierten Beiakten B), hinsichtlich derer das Gericht keinerlei Erkenntnisse hat, dass die dortigen Ausführungen nicht mehr zuträfen.
Soweit sich das Bundesamt im streitbefangenen Bescheid unter Hinweis auf eine Entscheidung des BayVGH vom 13.01.2003 - 1 ZB 0032552 - darauf beruft, dass finanzielle Schwierigkeiten eines Asylbewerbers kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis begründen könnten, vermag das erkennende Gericht - in dieser Allgemeinheit - dem nicht zu folgen. Die Unmöglichkeit, Medikamente im Heimatstaat zu erwerben, beruht nicht (nur) auf fehlenden finanziellen Mitteln der Klägerin, sondern auf der schlechten Versorgungslage, bzw. dem unzureichenden sozialen Sicherungssystem in Vietnam. Dies sind zielstaatsbezogene Aspekte, die nicht von der Ausländerbehörde, sondern vom hierzu besonders befähigten Bundesamt zu würdigen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b Abs. 1 AsylVfG. Der Anspruch über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO i. V. m. 708 Nr., 711 ZPO.