Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.06.2002, Az.: 9 LB 144/02

Abwasserbeseitigung; Anschlusszwang; Befreiung; Benutzungszwang; Satzung; Wirksamkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.06.2002
Aktenzeichen
9 LB 144/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43968
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 20.11.2001 - AZ: 6 A 224/01

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine den Anschluss- und Benutzungszwang regelnde Abwasserbeseitigungssatzung ist unwirksam, wenn die nach § 8 Nr. 2 NGO erforderliche Satzungsregelung für eine ausnahmsweise Befreiung von diesem Zwang in atypischen Einzelfällen fehlt.

Tatbestand:

1

Die Beklagte hat den Kläger aufgefordert, sein Grundstück, auf dem eine nicht DIN-gerechte und nicht genehmigungsfähige Dreikammergrube betrieben wird, an den öffentlichen Schmutzwasserkanal anzuschließen. Das VG hat die Klage abgewiesen. Seiner Ansicht nach ist die Abwasserbeseitigungssatzung der Beklagten nicht deshalb unwirksam, weil sie keinerlei Tatbestand für eine Befreiung vom Anschluss- und Benutzungszwang vorsieht. Die dagegen eingelegte Berufung des Klägers hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe

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Der Feststellungsantrag des Klägers ist begründet. Sein Grundstück unterliegt nicht dem Anschluss- und Benutzungszwang, weil die den Anschlusszwang in § 3 regelnde Abwasserbeseitigungssatzung der Beklagten vom 7. Dezember 1993 (Amtsblatt für den Landkreis Lüneburg 1994. S. 32) in der Fassung der 2. Änderungssatzung vom 17. Juni 1999 (Amtsblatt für den Landkreis Lüneburg 1999, S. 144) unwirksam ist. Es fehlt die nach § 8 Nr. 2 NGO erforderliche Satzungsregelung für eine ausnahmsweise Befreiung vom Anschluss- und Benutzungszwang in atypischen Einzelfällen.

3

Nach § 8 Nr. 2 Satz 1 NGO können die Gemeinden für die Grundstücke ihres Gebiets den Anschluss an die Kanalisation und deren Benutzung durch Satzung vorschreiben, wenn sie ein dringendes öffentliches Bedürfnis dafür feststellen. Die Vorschrift räumt den Gemeinden in verfassungsrechtlich zulässiger Weise (vgl. von Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 1999, Art. 2 RdNr. 132) ein Ermessen hinsichtlich der Einführung des Anschluss- und Benutzungszwangs ein. Gemäß § 8 Nr. 2 Satz 2 Halbs. 1 NGO kann die Satzung Ausnahmen vom Anschluss- und Benutzungszwang zulassen. Dieser gesetzliche Befreiungsvorbehalt ist erforderlich, um für besonders gelagerte Einzelfälle eine Verletzung von Grundrechten, insbesondere nach Art. 14 oder Art. 2 Abs. 1 GG, vermeiden zu können (vgl. aaO). In Umsetzung dieses Gesetzesvorbehalts muss die Satzung über den Anschluss- und Benutzungszwang eine Befreiungsmöglichkeit für die Fälle vorsehen, in denen die Durchsetzung des Zwangs ausnahmsweise wegen besonderer Umstände des Einzelfalls auch unter Berücksichtigung des Allgemeinwohls eine unzumutbare Härte bedeutet und daher eine verfassungswidrige Enteignung darstellen würde. Soweit durch die Anordnung des Anschluss- und Benutzungszwangs nämlich Inhalt und Grenzen des Eigentums festgelegt werden, darf diese Bestimmung nicht in einer Weise erfolgen, die in Einzelfällen grob sachwidrig wäre und grundlos in die berechtigten Belange der Betroffenen eingreifen würde. Besteht eine Möglichkeit der Befreiung vom Anschluss- und Benutzungszwang für Fälle der vorgenannten Art nicht, so ist die den Anschluss- und Benutzungszwang anordnende Satzung nichtig.

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Diese Rechtsansicht hat der Senat in Übereinstimmung mit dem Schrifttum zu § 8 Nr. 2 NGO (Wefelmeier in: Kommunalverfassungsrecht Niedersachsen/NGO, Stand: Mai 2001, § 8 RdNr. 18; Ipsen, Niedersächsisches Kommunalrecht, 2. Aufl. 1999, RdNr. 669) bereits in seinem Beschluss vom 14. November 2001 (9 LA 1283/01) vertreten. Soweit ersichtlich entspricht sie auch der einhelligen Rechtsauffassung zu den Gemeindeordnungen in den anderen Bundesländern (zum nordrhein-westfälischen Landesrecht Rehn/Cronauge, Gemeindeordnung 1997, § 9 Erl. 4 unter Bezugnahme auf OVG Münster, Urt. v. 1.8.1962, OVGE 18, 71 ff.; zum bayerischen Landesrecht BayVGH, Urt. v. 24.7.1997, - 23 B 94.1935 -, BayVBl. 1998, 721, Hötzl, Gemeindeordnung, 1969, Art. 24 Anm. 1; für das baden-württembergische Landesrecht Kunze/Bronner/Katz/v. Rotberg, Gemeindeordnung für Baden-Württemberg, 1989, § 11 RdNr. 22). Die dagegen vom Verwaltungsgericht vorgetragenen Argumente überzeugen nicht:

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Zwar mag dem Verwaltungsgericht darin beizupflichten sein, dass sich die Rechtsprechung des Senats vom 14. November 2001 nicht auf die in Bezug genommene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 19.12.1997 - 8 B 234.97 - NVwZ 1998, 1080 = NuR 1998, 483 = DVBl. 1998, 1222 = Buchholz 415.1 KommunalR Nr. 142) unmittelbar stützen lässt. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgericht vom 19. Dezember 1997 bezog sich - ebenso wie die dort zitierte frühere Rechtsprechung (Beschl. d. BVerwG v. 15.10.1984 - 7 B 27.84 -, Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 226, sowie Beschl. v. 12.1.1988 - 7 B 55.87 -, Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 239) - auf eine Satzung, die - anders als vorliegend - für Ausnahmefälle die Möglichkeit der Befreiung vom Anschluss- und Benutzungszwang vorsah. Das Bundesverwaltungsgericht kann daher möglicherweise im Sinne der Beklagten dahingehend zu verstehen sein, dass eine satzungsmäßige Befreiungsregelung nicht zwingend erforderlich ist, sondern nur eine Möglichkeit darstellt, besonderen Ausnahmefällen gerecht zu werden. Einer solchen Auslegung könnte sich der Senat aus den dargelegten Gründen aber nicht anschließen. Insbesondere sieht er es als erforderlich an, dass eine den Anschluss- und Benutzungszwang anordnende Satzung schon aus sich heraus in Form einer Befreiungsregelung deutlich macht, wo die verfassungsrechtlich einzuhaltenden Grenzen einer Durchsetzung des Anschluss- und Benutzungszwangs liegen sollen. Das Satzungsrecht muss also für alle denkbaren Fallgestaltungen eine - verfassungsgemäße - Regelung enthalten. Ob bei Einführung des Anschluss- und Benutzungszwangs besonders gelagerte Fälle, in denen eine Befreiung von Verfassungs wegen erforderlich ist, konkret erkennbar waren, ist für die Notwendigkeit einer Befreiungsregelung ohne Belang. Solche Fälle können entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sehr wohl auch außerhalb von Gebieten vorkommen, für die eine Satzung nach § 149 Abs. 4 NWG beschlossen worden ist.

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Da ein Anschluss- und Benutzungszwang nur durch eine rechtmäßige Satzung wirksam angeordnet werden kann, hat der Feststellungsantrag des Klägers allein wegen des somit bestehenden Satzungsmangels Erfolg. Rechtlich bedeutungslos bleibt deshalb, dass der Kläger die Voraussetzungen der von der Beklagten zu schaffenden Befreiungsregelung aller Voraussicht nach nicht erfüllen wird, weil das Vorhandensein einer Dreikammergrube eine unverhältnismäßige Härte oder einen anderen Befreiungstatbestand nicht zu begründen vermag (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.12.1997, aaO; BayVGH, Urt. v. 24.7.1997, aaO, sowie die ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, z.B. Beschl. v. 13.3.2001 - 9 L 873/01 -, ZKF 2001, 208, = NdsRpfl 2001, 467 = NSt-N 2001, 187; Beschl. v. 18.9.2001 - 9 LA 2341/01 -; Urt. v. 21.10.1998 - 9 L 6638/96 - u. v. 15.9.1997 - 9 L 412/96 -; Beschl. v. 16.9.1997 - 9 L 102/96 -). Im Übrigen verfügt der Kläger nicht einmal über eine genehmigungsfähige Kleinkläranlage, sondern verstößt seit Jahren durch die Benutzung seiner veralteten Dreikammergrube in eklatanter und bußgeldbewehrter Weise gegen zum Schutze des Grundwassers erlassene Rechtsvorschriften. Auf die künftige Einhaltung der wasserrechtlichen Vorschriften, insbesondere des Niedersächsischen Wassergesetzes, werden die Untere Wasserbehörde und die Beklagte unverzüglich durch geeignete Maßnahmen (wie etwa ein wasserbehördliches Einschreiten und den Erlass gesetzeskonformer Satzungsregelungen über den Anschluss- und Benutzungszwang) hinzuwirken haben.