Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 20.05.2008, Az.: 3 A 3648/07
Eingliederungshilfe für selbst beschaffte Maßnahme bei Teilleistungsstörung mit drohender Teilhabebeeinträchtigung.
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 20.05.2008
- Aktenzeichen
- 3 A 3648/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45490
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2008:0520.3A3648.07.0A
Rechtsgrundlagen
- 35a SGB VIII
- 36a SGB VIII
Fundstelle
- JAmt 2009, 385-390
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Im Zusammenhang mit Teilleistungsstörungen ist eine Abweichung von der für das Lebensalter typischen Gesundheit nur zu bejahen, wenn zusätzlich zu der Teilleistungsstörung eine seelische Störung vorliegt (sog. sekundäre Neurotisierung).
- 2.
Eine Auslegung des Begriffs der "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII hat sich an der grundlegenden Zielbestimmung in § 1 Abs. 1 SGB VIII zu orientieren, nach der jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Die soziale Teilhabe ist daher im Hinblick auf die altersgemäßen Entwicklungsaufgaben mit konkreten Inhalten zu füllen.
- 3.
Es lässt sich nicht rechtfertigen, das Vorliegen der Voraussetzung von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII nur zu bejahen, wenn die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung eine besonders gravierende Intensität hat.
- 4.
Eine Beeinträchtigung der Teilhabe liegt bereits vor, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt. Sie kann nicht nur durch eine Ausgrenzung von Seiten der Umwelt, sondern auch durch subjektive Schwierigkeiten des Betroffenen, aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, bedingt werden
- 5.
Im Hinblick auf die Dauer einer erfolgversprechenden Therapie ist es sachgerecht, bereits ein gutes Jahr vor dem Schulwechsel dessen wahrscheinliche Auswirkungen auf die Teilhabe eines Kindes zu bewerten, um noch vorbeugend Hilfe leisten zu können.
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 17.04.2007 verpflichtet, dem Kläger Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten der bereits begonnenen Legasthenietherapie im Umfang von 40 Stunden abzüglich der Kosten für Therapieleistungen, die vor dem 08.04.2007 erbracht worden sind, zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 11/20 und der Beklagte zu 9/20.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für eine bereits begonnene Legasthenietherapie sowie deren Gewährung auch für die Zukunft.
Der am 10.01.1998 geborene Kläger besucht zurzeit die vierte Klasse der örtlichen Grundschule und soll nach den Sommerferien auf die Realschule wechseln. Er lebt zusammen mit seiner Mutter, deren neuem Lebenspartner und dem jüngeren Halbbruder im gemeinsamen Haushalt. Zu seinem leiblichen Vater hat er zweiwöchigen Kontakt. Der Kläger leidet unter einem angeborenen Glaukom. Deshalb wurde er bereits häufig an beiden Augen operiert und muss immer wieder zu Untersuchungszwecken Vollnarkosen unterzogen werden.
Am 08.02.2007 stellte er bei dem Beklagten einen Antrag auf Bewilligung einer Legasthenietherapie. Im beigefügten Elternfragebogen wurde berichtet, dass der Kläger auf seine Misserfolgserlebnisse immer stärker mit Aggressionen, Wut, Weinen und Verweigerung reagiere. Er benötige bei den Schularbeiten kontinuierliche Motivation und Begleitung bei jedem einzelnen Schritt im Bereich Lesen und Schreiben. Dabei gebe es regelmäßig heftige Auseinandersetzungen. Außerhalb von Schulzusammenhängen sei er in seinem Freundeskreis sozial integriert. Allerdings seien in letzter Zeit aus der Schule Konflikte mit Mitschülern berichtet worden. Den Lehrern gegenüber verhalte sich der Kläger auffallend resigniert, aber auch zeitweise respektlos. Durch das Glaukom sei der Kläger seit seiner Geburt extrem belastet. Nach den Operationen müsste er alle zwei Tage zur ambulanten Kontrolle. Er könne dann oft nicht am Sportunterricht und an seinem Vereinssport teilnehmen. Die daraus resultierenden Frustrationen seien für ihn schwer auszuhalten. Vor diesem Hintergrund sei die Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) für ihn sehr schwer anzunehmen.
In der beigefügten Stellungnahme des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin und psychotherapeutische Medizin Dr. D. vom 11.01.2007 wurde eine LRS (ICD 10: F 81.0) mit emotionalen und psychosozialen Störungen diagnostiziert. Es wurde mitgeteilt, dass der Kläger aufgrund seiner gut durchschnittlichen Begabung in der Untersuchungssituation und in der Schule die Anforderungen noch recht gut meistern könne und viele Hilfsstrategien entwickelt habe. Er zeige aber zunehmend Selbstunsicherheiten und Störungen in der psychischen Entwicklung. Das sich abzeichnende negative Selbstbild müsse auf seine Misserfolgserfahrungen infolge der LRS zurückgeführt werden. Bis zur Einschulung und dem Besuch der 1. Klasse seien bei heiler psychosozialer Familiensituation keinerlei psychische Schwierigkeiten aufgetreten. Nicht nur im schulischen und sozialen Bereich, sondern auch im familiären Bereich würden zunehmend psychogen bedingte Verhaltensauffälligkeiten auftreten. Durch die emotionalen und sozialen Auswirkungen der bestehenden Teilleistungsstörung würde mit einer Wahrscheinlichkeit von über 50 Prozent eine nicht nur vorübergehende seelische Behinderung drohen. Eine Einzeltherapie bei einer ausgebildeten Legasthenietherapeutin sei notwendig. Diese Maßnahme sei darüber hinaus erforderlich, um eine der klägerischen Begabung entsprechende Schulbildung zu ermöglichen.
Im Schulbericht der Grundschule vom 22.01.2007 schilderte die Klassenlehrerin, dass der Kläger bei Misserfolgen traurig sei und manchmal auch bockig werde. Über Erfolge könne er sich freuen. In den Pausen spiele er mit seinen Klassenkameraden Fußball, Packen und anderes. Außerdem mache der Kläger gerne mit anderen Blödsinn. Er sei in die Klassengemeinschaft integriert und klage nicht über psychosomatische Beschwerden. Die familiäre/soziale Gesamtsituation werde für normal gehalten. Die Kinder in der Klasse kämen ohne größere Probleme miteinander klar. Jeder werde akzeptiert, auch mit seinen "Macken". Der Kläger nehme am Deutschförderunterricht teil, der eine halbe Stunde pro Woche in einer Kleingruppe erteilt werde. Dort seien leichte Fortschritte zu erkennen. Es würden aber zusätzliche schulische Fördermaßnahmen für notwendig erachtet.
Im März 2007 begann der Kläger eine privat finanzierte Legasthenietherapie. Auf Anraten der Therapeutin nahm er seitdem nicht mehr am normalen Förderunterricht der Schule teil.
Mit Bescheid vom 17.04.2007 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung führte er aus, dass zwar eine Abweichung der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII vorliege, jedoch keine Teilhabebeeinträchtigung im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII bestehe oder zu erwarten sei. Eine Teilhabebeeinträchtigung liege erst dann vor, wenn sich die jeweilige Problematik des betreffenden jungen Menschen so gravierend auf dessen seelische Gesundheit auswirke, dass daraus eine auf Versagensängsten beruhende Schulphobie (krankhafte Schulangst) und damit einhergehender Rückzug aus jedem sozialen Kontakt (Vereinzelung) in der Schule oder im privatem bzw. Freizeitbereich folge. Aus dem Schulbericht und dem Elternfragebogen sei zwar zu ersehen, dass der Kläger fraglos unter seiner LRS leide, er werde dadurch aber weder in der Schule noch im privaten Bereich in irgendeiner Form ausgegrenzt. Auch der zukünftige Eintritt der Teilhabebeeinträchtigung werde angesichts der vorhandenen sozialen Fertigkeiten im Umgang des Klägers mit seinen Klassenkameraden wie auch in seiner Freizeit (Freundeskreis, Vereinssport), seinen intellektuellen Fähigkeiten, der guten sozialen Integration in der Schule sowie der stabilen unterstützenden Familiensituation als eher unwahrscheinlich eingeschätzt. Diese stützenden Faktoren würden die Belastung des Klägers durch seine schwerwiegende Augenerkrankung überwiegen. Eine Beeinträchtigung sollte auch in Zukunft insbesondere dann nicht zu erwarten sein, wenn die Schule den Erlass des niedersächsischen Kultusministeriums vom 04.10.2005 zur Förderungen von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen konsequent umsetze. Die Schule sei vorrangig für die Förderung und Hilfe zuständig und eine erlassgerechte schulische Förderung müsse eingefordert werden.
Am 21. Mai 2007 hat der Kläger Klage erhoben.
Während des Klageverfahrens wurden noch weitere Ermittlungen mit folgenden Ergebnissen durchgeführt.
Bei einem Hausbesuch am 09.01.2008 berichtete die Mutter des Klägers, dass im Unterricht auf die Schwäche des Klägers keine Rücksicht genommen werde. Es gebe aber eine Vereinbarung, dass der Kläger in Rechtschreibung nicht mehr benotet werde, wenn er zweimal hintereinander eine 5 geschrieben habe. Vor Diktaten und Deutscharbeiten sei er immer sehr aufgeregt. Wenn er Diktate zurückbekäme, sei er ebenfalls aufgeregt und letztendlich mit dem Ergebnis frustriert. Die Legasthenietherapie habe leichte Fortschritte erbracht. Der Kläger selbst sehe diese aber nicht, sodass er den Sinn der Therapie anzweifle und sehr ungern dorthin gehe. Mittlerweile sei er frustriert und zeitweise sogar resigniert. Die Hausaufgaben in Mathe erledige der Kläger eigenständig und zügig. Zu Hausaufgaben, die mit Schreiben zu tun hätten, müsse sie ihn immer wieder motivieren. Oft würde sie eine Dreiviertelstunde lang mit dem Kläger diskutieren und dann würde er die Hausaufgaben unter Weinen und Widerstreben machen. Bei den Hausaufgaben verweigere er sich oft. Er werde dann wütend, weine und verkrieche sich manchmal unter dem Tisch. Wenn die Hausaufgaben erledigt seien, entspanne sich die Situation zuhause wieder. Der Kläger könne sehr wenig Kritik vertragen. Dann stelle er auf stur und es sei wenig an ihn heranzukommen. Auch in der Schule sei er der Lehrerin gegenüber frech. Sie habe von anderen Müttern erfahren, dass er zeitweise anderen Mitschülern gegenüber aggressiv geworden sei. Auch seinem kleinen Bruder gegenüber sei er aggressiv. Er sei wegen seiner LRS frustriert. Beim Diktatschreiben in der Schule würden massive Probleme mit den Lehrern auftreten. Dann komme es vor, dass der Kläger weine. Wenn er etwas vor der Klasse laut vorlesen solle, diskutiere er ausgiebig mit der Lehrerin. Mittlerweile werde es auch in Mathematik schwieriger, da er Textaufgaben lösen müsse. Er könne gut frei referieren und traue sich auch, vor der Klasse frei zu reden. Er könne sich auf Veränderungen und Neuerungen gut einstellen. Aus eigenem Antrieb lese er außer Comics nichts. Er sei sehr tierlieb und habe bei seinem Vater in E. Haustiere, die er dort eigenständig versorge.
Der Kläger teilte mit, dass es mit der Schule so gehe. Eine Lehrerin, bei der viel von der Tafel abgeschrieben werden müsse, finde er blöd. Er komme gut mit seinen Klassenkameraden aus. Diese würden ihn nicht ärgern.
In Telefonaten des Beklagten mit der Klassenlehrerin am 20.12.2007 und am 16.01.2008 bestätigte diese, dass an der Schule kein spezieller LRS-Förderunterricht erteilt werde. Der Kläger sei im Klassenverband integriert. Bei fehlerhaften Deutscharbeiten sei es ihm peinlich, diese anderen zu zeigen. Dann werde er bockig und uneinsichtig. Seitdem ein sehr auffälliger Schüler die Klasse verlassen habe, habe sich das Sozial- und Arbeitsverhalten des Klägers verbessert. Wenn der Kläger sich angegriffen fühle, sei er leicht erregbar. In den Pausen sei es zu Aggressionen gegenüber den Mitschülern gekommen, in der Klasse hielte sich dieses Verhalten in Grenzen. Der Kläger lasse sich leicht von dem anderen Schüler "anstecken". Er sei leicht ablenkbar und habe in langen Arbeitsphasen Schwierigkeiten, seine Konzentration aufrecht zu erhalten.
Zur Begründung der Klage macht der Kläger geltend, dass die fachärztliche Beurteilung der drohenden Behinderung stärkere Berücksichtigung finden müsse. Stattdessen stütze sich der Beklagte vorrangig auf den Schulbericht, obwohl einige der dort gestellten Fragen - beispielsweise die Frage nach der familiären und sozialen Situation des Schülers - von der Lehrerin nicht seriös hätten beantwortet werden können. Dieser Fragebogen sei nicht geeignet, die Teilhabebeeinträchtigung zu überprüfen. Zudem sei zu beachten, dass bereits eine drohende Gefährdung abgewandt werden müsse. Die Bockigkeit und Uneinsichtigkeit sowie das Weinen des Klägers im Zusammenhang mit dem Schreiben von Deutscharbeiten und mit der Erledigung der Hausaufgaben stünden in unmittelbarem Zusammenhang mit der LRS und seien als Teilhabebeeinträchtigung zu qualifizieren. Das teilweise aggressive Verhalten des Klägers gegenüber seinem Halbbruder sei mehr als die üblichen altersgerechten Zankereien zwischen Geschwistern. Der Kläger sei in der Hausaufgabensituation auf den Bruder losgegangen, wenn er frustriert war und sich von diesem gestört fühlte. Mittlerweile käme es dazu nicht mehr, weil er in der Therapie gelernt habe, wie er seine Hausaufgaben selbständig in seinem Zimmer erledigen könne. Die Angriffe des Klägers auf andere Schüler in den Pausen hätten ebenfalls im Zusammenhang mit Frusterlebnissen durch die LRS gestanden. Der von der Klassenlehrerin erwähnte andere Schüler sei erst im Sommer 2007 und damit nach dem Auftreten dieser Auffälligkeiten in die Klasse gekommen. Außerdem sei klarzustellen, dass der Kläger nur Freunde aus der Kindergartenzeit habe. Die begehrte Legasthenietherapie sei auch geeignet und erfolgreich. Der Kläger gehe jetzt gerne dorthin. Er habe seine Schulnote im Fach Deutsch von ausreichend auf befriedigend steigern können und greife nun auch von sich aus zu einem Buch, was es vorher nicht gegeben habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 17.04.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die beantragte ambulante Eingliederungshilfe in Form einer Legasthenietherapie zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
Er stützt sich darauf, dass keine Teilhabegefährdung vorliege. Dies sei von ihm zu beurteilen und er habe dabei die fachärztliche Stellungnahme lediglich zu berücksichtigen. In der Stellungnahme von Dr. D. seien aber keine konkreten Aussagen zu einer eventuellen Teilhabebeeinträchtigung getroffen worden. Sowohl der Angstfragebogen als auch die Fragebögen zur Schule, Freizeit und Familie seien ohne Auffälligkeiten. Eine Beeinträchtigung der Teilhabe liege nur vor, wenn die sekundäre seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sei, dass dadurch die Fähigkeit des Kindes oder Jugendlichen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt sei oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei. Bloße Schulprobleme und Schulängste reichten hierfür nicht aus. Eine derartige Beeinträchtigung sei beim Kläger nicht festzustellen. Auch eine Teilhabegefährdung sei nicht zu erkennen. Der Kläger werde von seiner sehr engagierten Mutter unterstützt. Sie könne sich auf ihn verlassen. So sei er in der Lage, nach Schulschluss eine Zeit lang alleine zuhause zu bleiben, bis sie nach 14:30 Uhr von der Arbeit nach Hause komme. Das teilweise aggressive Verhalten gegenüber dem jüngeren Halbbruder dürfe für Kinder dieses Alters im gewissen Rahmen normal und Teil der Entwicklung sein. Zudem sei eine Kausalität mit der LRS nicht zu erkennen. Der Kläger sei freizeitmäßig gut eingebunden. Er habe Freunde aus der Kindergartenzeit, die er eigenständig besuche, und sei im Fußballverein aktiv. Auch im Klassenverband sei er gut integriert und habe dort einen weiteren Freund kennen gelernt. Er könne gut frei referieren und traue sich, vor der Klasse frei zu reden. Diesbezüglich zeige er also ein großes Selbstbewusstsein und könne somit auf Ressourcen zurückgreifen, die ihm Selbstvertrauen geben und ihm seine starken Seiten aufzeigen würden. Sein Arbeits- und Sozialverhalten habe sich verbessert, seitdem ein sehr auffälliger Schüler die Klasse vorübergehend verlassen habe. Dass der Kläger eine Lehrerin "blöd" finde, sei Alltag in jeder Schülerlaufbahn. Hinsichtlich des teilweise aggressiven und trotzigen Verhaltens des Klägers bestünden Zweifel, ob diesbezüglich eine Legasthenietherapie die geeignete Maßnahme sei. Vielmehr könnte es sinnvoll sein, hier Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen. Schließlich habe der Kläger keine spezifische LRS-Förderung durch die Schule erhalten, obgleich diese schulische Förderung der Jugendhilfe vorgehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 20.05.2008 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Nach den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung geht das Gericht davon aus, dass der Kläger nicht nur eine Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme der Kosten der bereits beinahe abgeschlossenen ersten 40 Stunden der Legasthenietherapie begehrt, sondern auch eine Verpflichtung zur Gewährung weiterer Therapieeinheiten für die Zukunft anstrebt.
Die so verstandene Klage hat nur teilweise Erfolg.
Hinsichtlich der bereits begonnenen Legasthenietherapie im Umfang von 40 Stunden hat der Kläger gegen den Beklagten einen Anspruch auf Kostenübernahme für die Therapieleistungen, die ab dem 08.04.2007 erbracht worden sind (dazu nachfolgend I). Für die Therapieleistungen, die der Kläger vor dem 08.04.2007 erhalten hat, steht ihm jedoch kein Anspruch auf Kostenübernahme zu (nachfolgend unter II). Auch für zukünftige Therapieeinheiten hat der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe gegen den Beklagten (nachfolgend unter III.)
I.
Der Kläger hat gegen den Beklagten Anspruch auf Übernahme der Kosten der bereits begonnenen Legasthenietherapie im Umfang von 40 Stunden abzüglich der Kosten für Therapieleistungen, die vor dem 08.04.2007 erbracht worden sind, aus § 35a Abs. 1 SGB VIII. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Anspruchsnorm waren zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten erfüllt und die begehrte Legasthenietherapie war die geeignete und erforderliche Hilfe.
Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
In § 35a Abs. 1a SGB VIII wird festgelegt, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 die Stellungnahme
1. eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2. eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder
3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,
einzuholen hat. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht.
1.
Die seelische Gesundheit des Klägers wich mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand ab.
Eine Abweichung von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn ein Facharzt bzw. -therapeut das Vorliegen einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten wie der Lese- und Rechtschreibstörung oder der Rechenstörung (Dyskalkulie) attestiert hat. Diese Teilleistungsstörungen sind zwar in der aktuellen Fassung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, dem ICD-10, auf deren Grundlage die Stellungnahme des Facharztes bzw. -therapeuten gem. § 35a Abs. 1a SGB VIII erstellt werden soll, in Kapitel V (F) - Internationale Klassifikation psychischer Störungen - beschrieben. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass es sich bei diesen Störungsbildern um seelische Störungen handelt. Im Kapitel V (F) des ICD-10 werden unter dem Oberbegriff psychischer Störungen nicht nur seelische, sondern auch geistige Störungen aufgeführt, wie beispielsweise im Abschnitt F 7 die Intelligenzminderung. Der ICD-10 ist nicht nach der im deutschen Recht angelegten Unterscheidung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen gegliedert. Teilleistungsstörungen sind Schwächen kognitiver Art und daher allenfalls als Abweichungen von der geistigen Gesundheit zu bewerten. Dem artikulierten Willen des Gesetzgebers lässt sich nicht entnehmen, dass er mit der Normierung der Bezugnahme auf die Internationale Klassifikation der Krankheiten den Anwendungsbereich von § 35a SGB VIII verändern wollte, zumal er die herkömmliche Unterscheidung zwischen körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung im aktuellen Recht - beispielsweise in der Vorrangregelung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII - beibehalten hat. Demnach ist davon auszugehen, dass seelische Störungen nach dem ICD-10 zu verschlüsseln sind, nicht aber jede nach Kapitel V (F) des ICD-10 verschlüsselte Störung auch eine seelische Störung ist.
Im Zusammenhang mit Teilleistungsstörungen ist eine Abweichung von der für das Lebensalter typischen Gesundheit nur zu bejahen, wenn zusätzlich zu der Teilleistungsstörung eine seelische Störung vorliegt (sog. sekundäre Neurotisierung; ebenso OVG Rheinland-Pfalz, Urt.v. 26.03.2007, Az. 7 E 10212/07, FEVS 58, 477 ff.; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen , Beschl.v. 28.02.2007, Az. 12 A 1472/05, veröffentlicht in juris; Hess. VGH, Urt.v. 08.09.2005, Az. 10 UE 1647/04, JAmt 2006, 37 ff.; VG Braunschweig, Urt.v. 13.10.2005, Az. 3 A 78/05, ZfF 2006, 251 ff; Vondung im LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 35a Rn. 7; Stähr in Hauck/Haines, SGB VIII, 40. Lfg. 2008, § 35a Rn. 26; Harnach-Beck in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, § 35a Rn. 35; auch das BVerwG ist in seinem Urt.v. 28.09.1995, Az. 5 C 21/93, FEVS 46, 360 ff., davon ausgegangen, dass die LRS dem Bereich geistiger Leistungsstörungen zuzuordnen ist, und hat im Urt.v. 11.08.2005, Az. 5 C 18/04, FEVS 57, 481 ff., bestätigt, dass Lernschwächen als solche unstreitig noch keine seelischen Störungen seien; a.A. VG Göttingen, Urt.v. 22.02.2007, Az. 2 A 351/05, veröffentlicht in juris; VG Sigmaringen, Urt.v. 25.01.2005, Az. 4 K 2105/03, JAmt 2005, 246 ff.; Schleswig-Holsteinisches VG, Urt.v. 11.08.2004, Az. 15 A 171/03, veröffentlicht in juris; Fegert in Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 35a Rn. 68; Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Aufl. 2007, § 35a Rn. 7; Kunkel, Das Verfahren zur Gewährung einer Hilfe nach § 35a SGB VIII, JAmt 2007, 17,18).
Der Kläger litt ausweislich der fachärztlichen Stellungnahme von Dr. D. nicht nur an einer LRS, sondern hatte dadurch auch bereits emotionale und psychosoziale Störungen entwickelt. Zwar hat der Facharzt die Stellungnahme insoweit nicht entsprechend den Kriterien des ICD-10 abgefasst. Da der Beklagte jedoch zugestanden hat, dass ein Abweichen des seelischen Gesundheitszustandes im Sinne von § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII vorlag, sieht das Gericht keine Veranlassung, hierzu weitere Ermittlungen anzustellen.
2.
Bei dem Kläger war aufgrund der seelischen Störung eine Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.
Ob eine Beeinträchtigung der Teilhabe vorliegt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, hat der Jugendhilfeträger nach fachlicher Erkenntnis zu beurteilen. Gleichwohl handelt es sich bei dem Begriff der Teilhabebeeinträchtigung um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung durch den Jugendhilfeträger von den Verwaltungsgerichten voll überprüfbar ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urt.v. 26.03.2007, a.a.O.; Nds. OVG, Beschl.v. 18.10.2006, Az. 4 LA 42/05, NdsVBl. 2007, 52f.).
Um zu einer fundierten Einschätzung zu gelangen, muss der Jugendhilfeträger fachliche Mindeststandards wahren. Dazu gehört es regelmäßig, das betroffene Kind selbst zur Situation zu hören (vgl. dazu auch Wiesner in Wiesner, a.a.O., Rn. 25). Sofern die fachärztliche bzw. - therapeutische Stellungnahme zum Vorliegen des Tatbestandsmerkmals von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII auch Aussagen zur Frage der (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung umfasst, sind diese vom Jugendhilfeträger bei seiner Beurteilung angemessen zu berücksichtigen.
Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne einer Partizipation ist gekennzeichnet durch die aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den das Kind beziehungsweise den Jugendlichen betreffenden Lebensbereichen wie Familie, Verwandtschafts- und Freundeskreis, Schule und außerschulischen Betätigungsfeldern (z.B. Sportvereine, kirchliche Gruppen, Pfadfinder) sowie Ausbildungsbereichen ( VG Düsseldorf, Urt.v. 05.03.2008, Az. 19 K 1659/07, JAmt 2008, 212 ff.; ähnlich beschreiben Wiesner in Wiesner, a.a.O., Rn. 19, Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, a.a.O., Rn. 11, und Stähr in Hauck/Haines, a.a.O., Rn. 29, sowie das VG Sigmaringen, Urt.v. 25.01.2005, ebenda, Teilhabe als aktive und selbstbestimmte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens). Eine Auslegung des Begriffs der "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII hat sich an der grundlegenden Zielbestimmung in § 1 Abs. 1 SGB VIII zu orientieren, nach der jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Die soziale Teilhabe ist daher im Hinblick auf die altersgemäßen Entwicklungsaufgaben mit konkreten Inhalten zu füllen (für eine Einbeziehung der Entwicklungspsychologie plädieren auch Kölch/Wolff/Fegert, Teilhabebeeinträchtigung - Möglichkeiten der Standardisierung im Verfahren nach § 35a SGB VIII, JAmt 2007, 1, 2f., und Harnach-Beck in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, § 35a Rn. 43). Als wesentliche Entwicklungsaufgaben im mittleren Schulalter (8-12 Jahre) werden soziale Kooperation, Selbstbewusstsein, Erwerb der Kulturtechniken sowie das Spielen und Arbeiten im Team benannt (Harnach-Beck, ebenda).
Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn die Teilhabe aufgrund der seelischen Störung tatsächlich eingeschränkt ist. Zum Verständnis des zweigliedrigen Behinderungsbegriffs des § 2 Abs. 1 SGB IX und des daran angelehnten § 35a Abs. 1 SGB VIII kann auf die Leitlinien der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückgegriffen werden, da der Gesetzgeber sich bei der Einführung des Begriffs an der zu der ICF führenden internationalen Diskussion orientieren wollte (vgl. den Gesetzesentwurf der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein SGB IX vom 16.01.2001, Bundestags-Drs. 14/5074, S. 98, 121). Nach der ICF liegt eine Behinderung vor, wenn im Zusammenhang mit einer Schädigung die Handlungsfähigkeit und die üblichen Partizipationsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Die Norm, mit der die Leistungsfähigkeit und die tatsächliche Leistung verglichen werden, ist die eines Menschen ohne vergleichbares Gesundheitsproblem. Die WHO-Definition betont stark die sozialen Aspekte von Behinderung. Ob aus abweichenden Verhaltens- und Erlebensweisen oder körperlichen Besonderheiten eine Behinderung resultiert, hängt wesentlich davon ab, mit welchen Umweltbedingungen ein Mensch zurechtkommen muss. Erst die Wechselwirkung von personellen Einschränkungen mit Kontextfaktoren formt das Ausmaß einer Behinderung. Behinderung ist demnach die negative Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (bestimmt nach ICD-10) und ihren Kontextfaktoren auf ihre Funktionsfähigkeit (insbesondere die Teilnahme an einem oder mehreren Lebensbereichen). Erleichternde oder einschränkende Kontextfaktoren können dabei nicht nur Umweltfaktoren sein, sondern auch personenbezogene Faktoren, die internal das Zurechtkommen mit einer beeinträchtigenden Situation mitbestimmen. Subjektive Krankheitsverarbeitung, das Umgehen mit der Problematik zur Partizipation sind individuelle Faktoren, die neben objektiven Faktoren des sozialen Umfelds genauso erfasst werden müssen wie die Einstellung der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihrer Sorgeberechtigten (Wiedergabe nach den zusammenfassenden Erläuterungen bei Harnach-Beck in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, Vorbem. § 35a Rn. 23, und Kölch/Wolff/Fegert, a.a.O., S. 2 f.).
Dieser Betrachtungsweise steht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen. Im Urteil vom 26.11.1998 (Az. 5 C3 8/97, FEVS 49, 487 ff.) hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass für die Frage, ob eine seelische Behinderung vorliege, entscheidend sei, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv seien, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Damit hat sich das Bundesverwaltungsgericht lediglich zur Qualität der seelischen Störung geäußert und verdeutlicht, dass diese zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen muss. Dies hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich mit § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII ausdrücklich normiert. Anschließend hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass es danach rechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn ein Tatsachengericht einerseits bei bloßen Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft als behinderungsrelevante seelische Störungen die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, den Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule anführt. Die hier vom Bundesverwaltungsgericht benannte Untergrenze der Teilhabebeeinträchtigung stimmt mit dem Maßstab der ICF überein, da es damit auf die bei anderen Kindern ebenfalls üblichen Ängste und mithin auf Menschen ohne ein vergleichbares Gesundheitsproblem abstellt. Dass die aufgezählten schweren Beeinträchtigungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen, steht ebenfalls außer Frage. An welcher Schwelle jedoch eine relevante Beeinträchtigung beginnt, hat das Bundesverwaltungsgericht nicht erörtert. Aus der Entscheidung kann nicht abgeleitet werden, dass Beeinträchtigungen der genannten Art vorliegen müssen, um eine Teilhabebeeinträchtigung zu bejahen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Beispiele lediglich nicht für falsch gehalten.
Es lässt sich nicht rechtfertigen, das Vorliegen der Voraussetzung von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII nur zu bejahen, wenn die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung eine besonders gravierende Intensität hat. Eine derartige Qualifikation der Behinderung sehen weder das oben erörtere Behinderungskonzept der ICF, noch der Wortlaut der anspruchsbegründenden Norm vor. § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII fordert nur eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und kein (partielles) Unvermögen zur Teilhabe. Anders als § 53 SGB XII knüpft § 35a SGB VIII den Anspruch auf Eingliederungshilfe auch nicht an eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit. Sofern eine restriktive Auslegung für interessengerecht gehalten wird, weil es primär Aufgabe der Schule sei, Teilleistungsstörungen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern (z.B. VG Göttingen, Urt.v. 10.07.2007, Az. 2 A 483/05, JAmt 2007, 539 ff.), vermengt dieses Argument unzulässsigerweise zwei Prüfungsebenen. Zunächst ist zu klären, ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt und ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht. Erst in einem nachfolgenden Schritt ist zu prüfen, ob die Leistung vorrangig von einem anderen Leistungsträger zu erbringen ist und erbracht wird und die Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers subsidiär zurücktritt.
Klarstellend ist schließlich zu betonen, dass eine Beeinträchtigung der Teilhabe bereits vorliegt, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt (so auch explizit die Gesetzesbegründung, a.a.O., S. 98, und Kunkel, a.a.O., S. 18), und dass sie nicht nur durch eine Ausgrenzung von Seiten der Umwelt, sondern auch durch subjektive Schwierigkeiten des Betroffenen, aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, bedingt werden kann.
Hinsichtlich des Maßstabs der Wahrscheinlichkeit einer zu erwartenden Teilhabebeeinträchtigung hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 26.11.1998 (a.a.O.) folgende Vorgaben gemacht: Es sei nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 % verlange. Dabei sei für die Prognose insbesondere bedeutsam, auf welche Zeit bezogen die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts einer Behinderung beurteilt werden solle. Hierfür komme kein starrer Zeitrahmen in Betracht, sondern eine nach Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe bemessene Zeit. Sei es nämlich Ziel der Eingliederungshilfe für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche, den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten, so sei der Beginn der Bedrohung so früh, aber auch nicht früher anzusetzen, dass noch erfolgversprechende Eingliederungshilfemaßnahmen gegen den Eintritt der Behinderung eingesetzt werden könnten.
Nach diesem Maßstab war beim Kläger im Frühjahr 2007 von einer drohenden Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auszugehen.
Er zeigte damals massive Auffälligkeiten bei der Erledigung der Hausaufgaben, die mit Lesen oder Schreiben zu tun hatten. Er versuchte häufig, sich zu verweigern, und diskutierte dann lange mit seiner Mutter, wurde wütend oder weinte und verkroch sich manchmal unter dem Tisch. Außerdem wurde er in diesen Situationen aggressiv gegenüber seinem jüngeren Halbbruder, wenn er sich von diesem gestört fühlte.
Hinzu kam, dass er in den Pausen Mitschüler verbal und körperlich attackierte. Diese Aggressionen traten nach Beobachtungen der Mutter im Zusammenhang mit Frusterlebnissen durch die LRS auf und waren ihr als Verhaltensweisen ihres Sohnes bis dahin fremd gewesen. Diese Zuordnung wird durch die Stellungnahme von Dr. Jacobs bestätigt. Die Deutung der Klassenlehrerin, dass der Kläger sich von einem anderen auffälligen Schüler habe anstecken lassen, ist demgegenüber nicht überzeugend, weil dieser Junge erst viel später in die Klasse des Klägers gekommen ist. Die Übergriffe des Klägers auf seine Mitschüler hatten bereits einen Grad erreicht, der von den anderen Kindern nicht mehr ohne weiteres akzeptiert wurde. Denn diese hatten ihren Eltern davon berichtet, die wiederum das Gespräch mit der Mutter des Klägers gesucht hatten.
Für die Prognose, ob sich aus diesen Schwierigkeiten eine Beeinträchtigung der Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft entwickeln würde, war zu berücksichtigen, dass er gute Unterstützung durch seine Mutter erhielt, zumindest außerschulisch gut eingebunden war und dass er den Mut aufbrachte, vor der Klasse zu sprechen und mit der Lehrerin zu diskutieren. Demgegenüber war aber auch einzustellen, dass der Kläger durch die häufigen Behandlungen seines Glaukoms bereits stark belastet war, dass er in der Klasse keine echten Freundschaften hatte (die Annahme des Beklagten, er habe in der Schule einen neuen Freund gewonnen, konnte weder durch die aktenkundigen Ermittlungen noch durch die Mutter des Klägers bestätigt werden), dass die Leistungsanforderungen in der Schule steigen und die Bedeutung der Schriftsprache auch für die anderen Fächer zunehmen würde sowie dass mit dem im Sommer 2008 anstehenden Schulwechsel auf die weiterführende Schule der vertraute und akzeptierende Klassenverband wegfallen würde. Im Hinblick auf die Dauer einer erfolgversprechenden Therapie ist es sachgerecht, bereits ein gutes Jahr vor dem Schulwechsel dessen wahrscheinliche Auswirkungen auf die Teilhabe eines Kindes zu bewerten, um hier noch vorbeugend Hilfe leisten zu können.
In Bezug auf die hier problematischen Bereiche war davon auszugehen, dass die schützenden Faktoren weniger Wirksamkeit entfalten würden als die belastenden, so dass es mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer Beeinträchtigung kommen würde. Denn trotz großer Bemühungen bekam die Mutter die Hausaufgabensituation nicht in den Griff, so dass eine weitere Verschlechterung der Fähigkeit des Klägers, die für den Erwerb der Kulturtechniken unerlässliche Hausaufgabensituation zu bewältigen, abzusehen war. Auch im Unterricht in der Schule zeigte der Kläger bereits Ansätze einer Verweigerungshaltung. So begann er bei Diktaten zu weinen und diskutierte ausgiebig mit der Lehrerin, wenn er etwas laut vorlesen sollte. Hinsichtlich des für die Entwicklungsaufgaben soziale Kooperation, Selbstbewusstsein sowie Spielen und Arbeiten im Team zentralen Miteinanders der Kinder in der Schule war zu erwarten, dass der Kläger ohne den Rückhalt durch freundschaftliche Bindungen in der Klasse aufgrund der fortdauernden Aggressionen gegenüber seinen Mitschülern nach einiger Zeit ausgegrenzt werden würde.
3.
Die bereits begonnene ambulante Legasthenietherapie entsprach dem Hilfebedarf des Klägers. Sie hat ihn befähigt, nunmehr auch die mit Lesen und Schreiben verbundenen Hausaufgaben altersentsprechend konstruktiv und selbständig zu erledigen. Im Deutschunterricht konnte er seine Leistungen um eine Note steigern, sein schulisches Arbeits- und Sozialverhalten hat sich verbessert und die Aggressionen gegenüber den anderen Schülern haben abgenommen.
4.
Die Leistungspflicht des Beklagten trat nicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 SGB VIII hinter die Leistungspflicht der Schule zurück.
Zwar besteht grundsätzlich ein Subsidiaritätsverhältnis zwischen den Leistungen des Schulträgers und denen der Jugendhilfe. Im konkreten Fall wird die Leistungspflicht der Jugendhilfe jedoch nur verdrängt, wenn tatsächlich ein angemessenes Angebot der Schule vorhanden ist (vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen , Beschl.v. 30.01.2004, Az. 12 B 2392/03, FEVS 55, 469 ff.; Beschl.v. 16.07.2004, Az. 12 B 1338/04, FEVS 56, 104 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschl.v. 06.12.1999, Az. 2 S 891/98, FEVS 51, 471 ff.). An der Schule des Klägers wurde keine spezifische LRS-Förderung angeboten und der Kläger hatte auch keine rechtliche Handhabe, eine Umsetzung des Erlasses vom 04.10.2005 klagweise einzufordern. Deshalb konnte er nicht auf ein schulisches Angebot verwiesen werden.
5.
Für den Zeitraum ab dem 08.04.2007 steht dem Anspruch des Klägers auch nicht entgegen, dass er die Maßnahme bereits vor einer Entscheidung des Beklagten über seinen Antrag begonnen hatte.
Ab dem Zeitpunkt, bis zu dem die Entscheidung des Jugendhilfeträgers hätte getroffen werden müssen, gelten die einschränkenden Bedingungen für die Übernahme von Kosten einer selbst beschafften Maßnahme aus § 36a Abs. 3 SGB VIII nicht mehr. Dies ergibt sich aus § 36a Abs. 3 S. 1 Nr. 3a SGB VIII, wonach der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Leistungen nur verpflichtet ist, wenn die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. Demnach markiert nach dem Gesetzeswortlaut der objektiv gebotene Zeitpunkt der vom Jugendhilfeträger zu treffenden Entscheidung die (äußerste) zeitliche Grenze für eine mögliche Selbstbeschaffung. Von diesem Zeitpunkt aus gesehen zukünftige Leistungen können danach, jedenfalls soweit sie zeitabschnittsweise und voneinander trennbar bewilligt werden können, nicht als "selbst beschafft" angesehen werden (vgl. Fischer in: Schellhorn/Fischer/Mann, a.a.O., § 36a, Rn. 24, m.w.N., und ausführlich VG Hannover, Beschl.v. 01.02.2008, Az. 3 B 5779/07 ).
Hier hätte der Beklagte innerhalb von zwei Monaten nach Stellung des Antrages auf Gewährung einer Legasthenietherapie über diesen entscheiden können und müssen. Die Leistung kann auch nach Therapieeinheiten aufgeteilt bewilligt werden.
6.
Da dem Kläger nach alledem der geltend gemachte Anspruch insoweit zustand, ist der Ablehnungsbescheid vom 17.04.2007 aufzuheben.
II.
Hinsichtlich der Therapieleistungen, die vor dem 08.04.2007 erbracht wurden, hat der Kläger keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten, da es sich insoweit um eine selbst beschaffte Maßnahme handelte, die die in § 36a Abs. 3 S. 1 SGB VIII normierten Kriterien nicht erfüllte.
Nach § 36a Abs. 1 S. 1 SGB VIII trägt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. In § 36a Abs. 3 S. 1 SGB VIII ist für den Fall, dass Hilfen abweichend von den Absätzen 1 und 2 vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, geregelt, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet ist, wenn
1. der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat,
2. die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und
3. die Deckung des Bedarfs
a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder
b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung
keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
Hier lagen die in den Ziffern 1 und 2 beschriebenen Voraussetzungen zwar vor. Jedoch war der Bedarf des Klägers nicht so dringend, dass er eine Entscheidung des Beklagten über den Antrag nicht noch hätte abwarten können.
III.
Der Kläger hat nach Abschluss des ersten Therapieblocks von 40 Einheiten keinen Anspruch auf Gewährung weiterer Therapieeinheiten für die Zukunft gegen den Beklagten.
Es wird offen gelassen, ob die Klage insoweit unzulässig ist, weil hier zunächst ein erneuter Antrag beim Beklagten hätte gestellt werden müssen.
Jedenfalls ist die Klage bezüglich dieses Anspruch unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII nicht vorliegen.
Die bereits durchgeführte Legasthenietherapie hat bereits so substantielle Erfolge gehabt, dass derzeit nicht davon ausgegangen werden kann, dass dem Kläger ohne die Weiterführung der Therapie eine Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft droht. Er hat gelernt, die Hausaufgabensituation zu bewältigen, und sich im Bereich des Lesens und Schreibens so weit verbessert, dass er seine Frustrationen nicht mehr an seinen Mitschülern abreagiert.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO. Sie entspricht dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten, wobei die Klagabweisung für die ersten selbst beschafften Therapieeinheiten mit 1/20 berücksichtigt wurde. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.