Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 20.05.2008, Az.: 3 A 2768/07
Eingliederungshilfe bei Teilleistungsstörung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 20.05.2008
- Aktenzeichen
- 3 A 2768/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45489
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2008:0520.3A2768.07.0A
Rechtsgrundlage
- 35a SGB VIII
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Im Zusammenhang mit Teilleistungsstörungen ist eine Abweichung von der für das Lebensalter typischen Gesundheit nur zu bejahen, wenn zusätzlich zu der Teilleistungsstörung eine seelische Störung vorliegt (sog. sekundäre Neurotisierung).
- 2.
Eine Auslegung des Begriffs der "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII hat sich an der grundlegenden Zielbestimmung in § 1 Abs. 1 SGB VIII zu orientieren, nach der jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Die soziale Teilhabe ist daher im Hinblick auf die altersgemäßen Entwicklungsaufgaben mit konkreten Inhalten zu füllen.
- 3.
Es lässt sich nicht rechtfertigen, das Vorliegen der Voraussetzung von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII nur zu bejahen, wenn die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung eine besonders gravierende Intensität hat.
- 4.
Eine Beeinträchtigung der Teilhabe liegt bereits vor, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt. Sie kann nicht nur durch eine Ausgrenzung von Seiten der Umwelt, sondern auch durch subjektive Schwierigkeiten des Betroffenen, aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, bedingt werden.
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.01.2008 verpflichtet, dem Kläger eine Legasthenietherapie zu gewähren.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Legasthenietherapie.
Der am 07.01.1998 geborene Kläger besucht zurzeit gemeinsam mit seinen beiden Drillingsgeschwistern die 4. Klasse der örtlichen Grundschule und soll danach auf die Realschule wechseln. Im Alter von 6 bis 8 Jahren erhielt er eine Sprachtherapie.
Am 16.01.2007 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Bewilligung einer Legasthenietherapie. Beigefügt waren ein Arztbrief sowie eine Bescheinigung des Ärztlichen Leiters der Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie der Medizinischen Hochschule C., Prof. Dr. D., vom 11.12.2006, in denen dem Kläger Defizite in der Wahrnehmungs- und Merkfähigkeit sowie bei normaler Intelligenzentwicklung eine Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) (ICD 10: F81.0) bescheinigt wurden. Aufgrund des Schweregrades der LRS seien die Kriterien einer drohenden seelischen Behinderung gegeben. Im Elternfragebogen wurde angegeben, dass der Kläger intensive familiäre Unterstützung erhalte. Die Familie sei intakt und habe einen harmonischen Tagesablauf, das soziale Verhalten des Kindes sei sehr positiv und ohne Auffälligkeiten. Hinsichtlich seiner LRS habe der Kläger teilweise Versagensängste und Angst, ausgelacht zu werden.
In dem vom Beklagten eingeholten Schulbericht der GHS E. vom 09.01.2007 schilderte die Klassenlehrerin, dass der Kläger seit ungefähr Mitte des zweiten Schuljahres bei Misserfolgen anfinge zu weinen. In sozialen Situationen seien keine Auffälligkeiten bekannt. Er sei voll in die Klassengemeinschaft integriert und klage nicht über psychosomatische Beschwerden. Die Kinder der Klasse seien sehr sozial eingestellt und würden auffälligen Kindern ohne zu lachen begegnen. Aktuell werde kein Förderunterricht erteilt, sondern nur durch innere Differenzierung gefördert. Zusätzliche schulische Fördermaßnahmen würden als notwendig erachtet.
Mit Bescheid vom 19.04.2007 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte er aus, dass zwar eine Abweichung von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII vorliege, jedoch keine Teilhabebeeinträchtigung im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII bestehe oder zu erwarten sei. Eine Teilhabebeeinträchtigung liege erst dann vor, wenn sich die jeweilige Problematik des betreffenden jungen Menschen so gravierend auf dessen seelische Gesundheit auswirke, dass daraus eine auf Versagensängsten beruhende Schulphobie (krankhafte Schulangst) und damit einhergehend der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt (Vereinzelung) in der Schule oder im privaten bzw. Freizeitbereich folge. Aus dem Schulbericht und dem Elternfragebogen sei zwar zu ersehen, dass der Kläger fraglos - wie die meisten davon betroffenen Kinder - unter seiner LRS leide, er werde dadurch aber weder in der Schule noch im privaten Bereich in irgendeiner Form ausgegrenzt. Auch der zukünftige Eintritt einer Teilhabebeeinträchtigung werde angesichts der sozialen Fähigkeiten des Klägers, seiner Leistungsstärken, der guten Integration in der Grundschule sowie der harmonischen und stabilen unterstützenden Familiensituation als eher unwahrscheinlich eingeschätzt. Risikofaktoren, die die genannten Schutzfaktoren überwiegen könnten, seien nicht deutlich geworden. Eine Beeinträchtigung sollte auch in Zukunft insbesondere dann nicht zu erwarten sein, wenn die Schule den Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 04.10.2005 zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen konsequent umsetze. Die Schule sei vorrangig für die Förderung und Hilfe zuständig und eine erlassgerechte schulische Förderung müsse eingefordert werden.
Am 21.05.2007 hat der Kläger Klage gegen den Ablehnungsbescheid erhoben.
Seit dem 16.05.2007 erhielt der Kläger eine Unterrichtsstunde wöchentlich Förderunterricht nach dem Erlass vom 04.10.2005. Die Förderlehrerin beschrieb ihren Eindruck vom Kläger mit Bericht vom 16.07.2007 folgendermaßen: Schon bei den Erstgesprächen sei deutlich geworden, dass der Kläger sich in einer tiefen seelisch-emotionalen Notlage befinde. Eine langjährige Sprachtherapie habe den negativen Effekt bei ihm hinterlassen, anders zu sein als seine Drillingsgeschwister. Indem er nun feststelle, dass er den Leistungsanforderungen im Lesen und Schreiben nicht genügen könne, empfinde er seine Disposition als deutlich abweichend von der Norm. Er selbst beschreibe seinen Zustand so: "Wenn ich vorlesen soll, fängt das Kribbeln im Bauch an. Ich kann doch noch nicht so schnell lesen wie die anderen. Wenn ich anfange zu lesen, lachen die anderen. Jetzt mag ich überhaupt nicht mehr vorlesen. Ich muss dann einfach weinen." Auch in den Förderstunden breche der Kläger regelmäßig in ein haltloses, erschütterndes, hilfloses Weinen aus. Sie erlebe den Kläger durchweg als höchst verstörtes, äußerst angespanntes und unter starkem seelischen Druck stehendes Kind. Trainingseinheiten im Lesen und Schreiben seien in den Förderstunden kaum möglich. Der Kläger bekomme Angst und unter dem daraus resultierenden Stress erlebe er Lernblockaden, die seine Leistungsfähigkeit vermindern würden. Obwohl er mit guten Grundbegabungsressourcen ausgestattet sei, würden sich seine Vermeidungsreaktionen intensivieren. Die sekundären Symptome seiner Legasthenie würden sich langsam in den Vordergrund schieben. Der Kläger benötige eine ganzheitliche, integrative, psychosoziale LRS-Therapie. Der von der Schule leistbare Förderunterricht könne die seelische Stabilisierung des Klägers nicht mehr gewährleisten, da die Lehrer keine Therapeuten seien.
In einer Stellungnahme vom 12.09.2007 teilte der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Psychotherapeutische Medizin Dr. F. mit, der Schweregrad der LRS sei durch eigene Testungen bestätigt worden. In der Schule komme es zu Angstzuständen in der Leistungssituation. Der psychische Druck führe zur psychomotorischer Unruhe, schlechter Schrift und Drumherumreden. Zuhause bemerke die Mutter bei einfachen Fragen bezogen auf andere Alltagssituationen, dass der Kläger nicht zuhöre, anders antworte und dann auch vollkommen unlogisch sowie unverständlich für die Mutter. Hier würden sich schon Beeinträchtigungen in einer einfachen Gesprächssituation im häuslichen Bereich mit der stützenden Mutter zeigen. Diese wirke wie ein traumatischer Ablauf mit Auslöser einer erfahrenen Stresssituation, die auf Grund des erlebten Leistungsversagens in der Schule nun in den gesamten Alltag hineinwirke. Dieser Befund werde durch mehrere Tests objektiviert. Im Angstfragebogen für Schüler bestehe hohe panische Angst und manifeste Angst bezogen auf die Schulsituation, in der Aussageliste Selbstwertgefühl bei Kindern und Jugendlichen ergebe sich ein Selbstwertgefühl in der Schule im Prozentbereich 0,1-5,0, in den Bereichen Freizeit und Familie liege der Wert deutlich höher. Im Depressionsfragebogen für Kinder und Jugendliche ergebe sich kein Anhalt für eine depressive Verstimmung. Bei dem ständigen Leistungsvergleich mit den Drillingsgeschwistern und den steigenden schulischen Anforderungen werde die Unterstützung durch die Familie und der Förderunterricht in der Schule nicht ausreichen, um die sich verfestigenden seelischen Folgen durch die schwere LRS zu verhindern, sondern es werde fachliche Einzeltherapie erforderlich sein.
Am 30.10.2007 stellte der Kläger einen erneuten Antrag auf Bewilligung einer Legasthenietherapie.
In einem weiteren vom Beklagten eingeholten Schulbericht vom 6.11.2007 wurde geschildert, dass der Kläger sich bei Gruppenarbeiten sehr zurückhaltend verhalte. Wenn er in Arbeitsphasen merke, dass die anderen schneller sind, werde er unruhig und habe Angst, nicht alles zu schaffen. Diese Versagensängste würden immer häufiger seine Leistungsfähigkeit beeinflussen und seine Konzentration lasse erheblich schnell nach. Bei Misserfolg fange der Kläger an zu weinen und verweigere die Weiterarbeit. In sozialen Situationen verhalte er sich unauffällig, sofern nicht Überforderung aufgrund seines Handicaps eintrete. Der Kläger erhalte einmal wöchentlich Einzelunterricht nach dem Erlass vom 04.10.2005, darüber hinaus könne keine weitere Fördermaßnahme geleistet werden. Im Übrigen stimmte der Bericht mit dem Bericht vom 09.01.2007 überein.
In einem Telefonat am 18.12.2007 teilte die Klassenlehrerin dem Beklagten mit, dass die Ängste des Klägers, etwas falsch zu machen, zugenommen hätten. Im Vergleich zu anderen Schülern wirke er sehr belastet.
Bei einem Hausbesuch am 03.01.2008 berichtete der Kläger, dass es ihm in der Schule gefalle. Er habe aber Angst, sich im Unterricht zu melden, und gehänselt zu werden, wenn er laut etwas vorlesen solle. Er würde sich nur in Mathematik melden. In Mathematik sei er gut, aber es würde zunehmend schwieriger werden, da jetzt auch Textaufgaben zu lösen seien. Er komme gut mit Gleichaltrigen aus. Er sei im Fußballverein und im Konfirmandenunterricht, wo er sich aber auch nicht von sich aus melden würde. Die Beziehung zu seinen Geschwistern sei gut. Er habe zwei Freunde, die er eigenständig besuche. Tennis spiele er nicht mehr, weil ihm die Freizeitaktivitäten zu viel geworden seien. Sein Hobby sei Schach, das er oft mit seinem Vater spiele. Bis vor einiger Zeit habe es an der Schule eine Schach-AG gegeben, an der er teilgenommen und in der er einmal Schachmeister geworden sei. Die Eltern des Klägers schilderten, dass es dem Kläger sehr schwer falle, vor der Klasse zu sprechen. Er habe die Strategie entwickelt, seine Gefühle zu überspielen. Die Eltern würden befürchten, dass er auf der weiterführenden Schule mit weniger Rücksichtnahme zum Mobbingopfer oder zum Schulverweigerer werden könne. Auf der Realschule, die der Kläger im kommenden Schuljahr besuchen werde, gebe es keine LRS-Förderung. Der Kläger habe bereits jetzt Angst vor negativen Reaktionen seiner Mitschüler und ziehe sich zeitweise im Schulischen zurück. Seine jetzigen Freunde würden alle aus der Kindergartenzeit stammen, neue Freundschaften seien nicht entstanden. Auf der weiterführenden Schule werde er von seinen Freunden und Geschwistern getrennt werden. Er interessiere sich für Raubtiere und habe ein großes Tierwissen.
Mit Bescheid vom 29.01.2008 lehnte der Beklagte den erneuten Antrag ab. Die Abweichung von der seelischen Gesundheit werde nicht in Frage gestellt. Jedoch könne keine Teilhabebeeinträchtigung festgestellt werden. Die Einschätzung der altersgerechten Teilhabe beziehe sich insbesondere auf die Lebensbereiche Familie, Schule, Freunde und Freizeitverhalten. Den den Kläger belastenden Faktoren seien die schützenden Faktoren gegenübergestellt und in ihrer Bedeutung für die soziale Funktionstüchtigkeit des Klägers gegeneinander abgewogen worden. Als Ergebnis sei festzustellen, dass der Kläger zweifelsohne unter seiner LRS leide, dennoch nehme er momentan immer noch am Leben in der Gesellschaft teil. Seine soziale Funktionsfähigkeit sei intakt. Die Befürchtungen der Eltern für den anstehenden Wechsel auf die weiterführende Schule seien nachvollziehbar, müssten sich aber nicht zwingend verwirklichen. Es könne nicht vorhergesagt werden, wie sich die seelische Verfassung und seine zurzeit noch gute Fähigkeit zur sozialen Integration auf der neuen Schule entwickeln würden und welche Bemühungen die neue Schule zeigen würde. Deshalb sei nicht festzustellen, dass eine Teilhabebeeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei.
Am 27.02.2008 hat der Kläger den Bescheid vom 29.01.2008 in das laufende Klageverfahren einbezogen.
Zur Begründung der Klage führt er aus, dass das fachärztliche Gutachten von Prof. Dr. D. eine drohende Teilhabebeeinträchtigung bejahe und bei der Prüfung der Teilhabebeeinträchtigung durch den Beklagten berücksichtigt werden müsse. Die Stellungnahme von Dr. Jacobs bestätige die Einschätzung. Der Beklagte beziehe sich nur auf die positiven Aspekte des Schulberichts vom 09.01.2007. Allein durch das Weinen bei Misserfolgen bestehe schon eine Teilhabegefährung. Die schulische Förderung nach dem Erlass vom 04.10.2005 sei auch nach Einschätzung der LRS-Fachkraft nicht ausreichend. Der Bescheid vom 29.01.2008 sei nicht nachvollziehbar. Durch die Unterstützung der Familie, der Schule und der Freunde könne nicht alles aufgefangen werden. Ein beigefügter zufällig gefundener Brief des Klägers an sich selbst mache deutlich, wie verzweifelt er sei. Im Gespräch mit der Mitarbeiterin des Jugendamtes habe der Kläger seine Versagensängste nicht so offen dargelegt, da er zu ihr bislang keinen Bezug gehabt habe. Durch seine LRS werde es für den Kläger zunehmend schwerer werden, an den weiterführenden Schulen zu bestehen. Es sei auch fraglich, ob er dort auf eine sehr sozial eingestellte Klassengemeinschaft stoßen werde, die ihn nicht ausgrenze. Auf der Realschule gebe es derzeit keine LRS-Förderung und eine Umsetzung des Erlasses vom 04.10.2005 könne sicher nicht sofort realisiert werden. Mit dem Förderunterricht werde für den Kläger auch der enge Bezug zu der Förderlehrerin wegfallen. Auch wolle der Kläger nicht mehr weiter Fußball spielen und setze der Motivation durch die Eltern enorme Gegenwehr entgegen. Insgesamt bewege sich der Kläger von den Eltern weg und entziehe sich ihnen. Die tägliche Beteiligung in der Familie werde geringer.
Nachdem der Beklagte erklärt hat, dass der Bescheid vom 29.01.2008 den Bescheid vom 19.04.2007 habe ersetzen sollen und dass von letzterem keine Regelungswirkung mehr ausgehe, beantragt der Kläger,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 29.01.2008 zu verpflichten, dem Kläger eine Legasthenietherapie zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er stützt sich darauf, dass bei dem Kläger keine Teilhabebeeinträchtigung vorliege oder drohe und vertieft die Argumentation des angegriffenen Bescheides. Zudem sei angesichts des engen Bezuges des Klägers zu der LRS-Förderlehrerin fraglich, ob eine zusätzliche LRS-Therapie oder eine Wechsel vom schulischen Förderunterricht zur LRS-Therapie derzeit im Interesse des Klägers wäre.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 20.05.2008 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig und hat in der Sache Erfolg.
Der Kläger hat gegen den Beklagten Anspruch auf Gewährung einer Legasthenietherapie aus § 35a Abs. 1 SGB VIII. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Anspruchsnorm sind erfüllt und die begehrte Legasthenietherapie ist die geeignete und erforderliche Hilfe.
Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
In § 35a Abs. 1a SGB VIII wird festgelegt, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 die Stellungnahme
1. eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2. eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder
3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,
einzuholen hat. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht.
1.
Die seelische Gesundheit des Klägers weicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand ab.
Eine Abweichung von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn ein Facharzt bzw. -therapeut das Vorliegen einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten wie der Lese- und Rechtschreibstörung oder der Rechenstörung (Dyskalkulie) attestiert hat. Diese Teilleistungsstörungen sind zwar in der aktuellen Fassung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, dem ICD-10, auf deren Grundlage die Stellungnahme des Facharztes bzw. -therapeuten gem. § 35a Abs. 1a SGB VIII erstellt werden soll, in Kapitel V (F) - Internationale Klassifikation psychischer Störungen - beschrieben. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass es sich bei diesen Störungsbildern um seelische Störungen handelt. Im Kapitel V (F) des ICD-10 werden unter dem Oberbegriff psychischer Störungen nicht nur seelische, sondern auch geistige Störungen aufgeführt, wie beispielsweise im Abschnitt F 7 die Intelligenzminderung. Der ICD-10 ist nicht nach der im deutschen Recht angelegten Unterscheidung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen gegliedert. Teilleistungsstörungen sind Schwächen kognitiver Art und daher allenfalls als Abweichungen von der geistigen Gesundheit zu bewerten. Dem artikulierten Willen des Gesetzgebers lässt sich nicht entnehmen, dass er mit der Normierung der Bezugnahme auf die Internationale Klassifikation der Krankheiten den Anwendungsbereich von § 35a SGB VIII verändern wollte, zumal er die herkömmliche Unterscheidung zwischen körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung im aktuellen Recht - beispielsweise in der Vorrangregelung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII - beibehalten hat. Demnach ist davon auszugehen, dass seelische Störungen nach dem ICD-10 zu verschlüsseln sind, nicht aber jede nach Kapitel V (F) des ICD-10 verschlüsselte Störung auch eine seelische Störung ist.
Im Zusammenhang mit Teilleistungsstörungen ist eine Abweichung von der für das Lebensalter typischen Gesundheit nur zu bejahen, wenn zusätzlich zu der Teilleistungsstörung eine seelische Störung vorliegt (sog. sekundäre Neurotisierung; ebenso OVG Rheinland-Pfalz, Urt.v. 26.03.2007, Az. 7 E 10212/07, FEVS 58, 477 ff.; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen , Beschl.v. 28.02.2007, Az. 12 A 1472/05, veröffentlicht in juris; Hess. VGH, Urt.v. 08.09.2005, Az. 10 UE 1647/04, JAmt 2006, 37 ff.; VG Braunschweig, Urt.v. 13.10.2005, Az. 3 A 78/05, ZfF 2006, 251 ff; Vondung im LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 35a Rn. 7; Stähr in Hauck/Haines, SGB VIII, 40. Lfg. 2008, § 35a Rn. 26; Harnach-Beck in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, § 35a Rn. 35; auch das BVerwG ist in seinem Urt.v. 28.09.1995, Az. 5 C 21/93, FEVS 46, 360 ff., davon ausgegangen, dass die LRS dem Bereich geistiger Leistungsstörungen zuzuordnen ist, und hat im Urt.v. 11.08.2005, Az. 5 C 18/04, FEVS 57, 481 ff., bestätigt, dass Lernschwächen als solche unstreitig noch keine seelischen Störungen seien; a.A. VG Göttingen, Urt.v. 22.02.2007, Az. 2 A 351/05, veröffentlicht in juris; VG Sigmaringen, Urt.v. 25.01.2005, Az. 4 K 2105/03, JAmt 2005, 246 ff.; Schleswig-Holsteinisches VG, Urt.v. 11.08.2004, Az. 15 A 171/03, veröffentlicht in juris; Fegert in Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 35a Rn. 68; Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Aufl. 2007, § 35a Rn. 7; Kunkel, Das Verfahren zur Gewährung einer Hilfe nach § 35a SGB VIII, JAmt 2007, 17,18).
Der Kläger leidet ausweislich der fachärztlichen Stellungnahme von Dr. F. nicht nur an einer LRS, sondern hat dadurch auch bereits eine Angststörung entwickelt. Zwar hat der Facharzt die Stellungnahme insoweit nicht entsprechend den Kriterien des ICD-10 abgefasst. Da der Beklagte jedoch zugestanden hat, dass ein Abweichen des seelischen Gesundheitszustandes im Sinne von § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII vorliegt, sieht das Gericht keine Veranlassung, hierzu weitere Ermittlungen anzustellen.
2.
Aufgrund der seelischen Störung ist die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt.
Ob eine Beeinträchtigung der Teilhabe vorliegt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, hat der Jugendhilfeträger nach fachlicher Erkenntnis zu beurteilen. Gleichwohl handelt es sich bei dem Begriff der Teilhabebeeinträchtigung um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung durch den Jugendhilfeträger von den Verwaltungsgerichten voll überprüfbar ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urt.v. 26.03.2007, a.a.O.; Nds. OVG, Beschl.v. 18.10.2006, Az. 4 LA 42/05, NdsVBl. 2007, 52f.).
Um zu einer fundierten Einschätzung zu gelangen, muss der Jugendhilfeträger fachliche Mindeststandards wahren. Dazu gehört es regelmäßig, das betroffene Kind selbst zur Situation zu hören (vgl. dazu auch Wiesner in Wiesner, a.a.O., Rn. 25). Sofern die fachärztliche bzw. - therapeutische Stellungnahme zum Vorliegen des Tatbestandsmerkmals von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII auch Aussagen zur Frage der (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung umfasst, sind diese vom Jugendhilfeträger bei seiner Beurteilung angemessen zu berücksichtigen.
Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne einer Partizipation ist gekennzeichnet durch die aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den das Kind beziehungsweise den Jugendlichen betreffenden Lebensbereichen wie Familie, Verwandtschafts- und Freundeskreis, Schule und außerschulischen Betätigungsfeldern (z.B. Sportvereine, kirchliche Gruppen, Pfadfinder) sowie Ausbildungsbereichen ( VG Düsseldorf, Urt.v. 05.03.2008, Az. 19 K 1659/07, JAmt 2008, 212 ff.; ähnlich beschreiben Wiesner in Wiesner, a.a.O., Rn. 19, Fischer in Schellhorn/Fischer/Mann, a.a.O., Rn. 11, und Stähr in Hauck/Haines, a.a.O., Rn. 29, sowie das VG Sigmaringen, Urt.v. 25.01.2005, ebenda, Teilhabe als aktive und selbstbestimmte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens). Eine Auslegung des Begriffs der "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII hat sich an der grundlegenden Zielbestimmung in § 1 Abs. 1 SGB VIII zu orientieren, nach der jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Die soziale Teilhabe ist daher im Hinblick auf die altersgemäßen Entwicklungsaufgaben mit konkreten Inhalten zu füllen (für eine Einbeziehung der Entwicklungspsychologie plädieren auch Kölch/Wolff/Fegert, Teilhabebeeinträchtigung - Möglichkeiten der Standardisierung im Verfahren nach § 35a SGB VIII, JAmt 2007, 1, 2f., und Harnach-Beck in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, § 35a Rn. 43). Als wesentliche Entwicklungsaufgaben im mittleren Schulalter (8-12 Jahre) werden soziale Kooperation, Selbstbewusstsein, Erwerb der Kulturtechniken sowie das Spielen und Arbeiten im Team benannt (Harnach-Beck, ebenda).
Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn die Teilhabe aufgrund der seelischen Störung tatsächlich eingeschränkt ist. Zum Verständnis des zweigliedrigen Behinderungsbegriffs des § 2 Abs. 1 SGB IX und des daran angelehnten § 35a Abs. 1 SGB VIII kann auf die Leitlinien der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückgegriffen werden, da der Gesetzgeber sich bei der Einführung des Begriffs an der zu der ICF führenden internationalen Diskussion orientieren wollte (vgl. den Gesetzesentwurf der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein SGB IX vom 16.01.2001, Bundestags-Drs. 14/5074, S. 98, 121). Nach der ICF liegt eine Behinderung vor, wenn im Zusammenhang mit einer Schädigung die Handlungsfähigkeit und die üblichen Partizipationsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Die Norm, mit der die Leistungsfähigkeit und die tatsächliche Leistung verglichen werden, ist die eines Menschen ohne vergleichbares Gesundheitsproblem. Die WHO-Definition betont stark die sozialen Aspekte von Behinderung. Ob aus abweichenden Verhaltens- und Erlebensweisen oder körperlichen Besonderheiten eine Behinderung resultiert, hängt wesentlich davon ab, mit welchen Umweltbedingungen ein Mensch zurechtkommen muss. Erst die Wechselwirkung von personellen Einschränkungen mit Kontextfaktoren formt das Ausmaß einer Behinderung. Behinderung ist demnach die negative Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (bestimmt nach ICD-10) und ihren Kontextfaktoren auf ihre Funktionsfähigkeit (insbesondere die Teilnahme an einem oder mehreren Lebensbereichen). Erleichternde oder einschränkende Kontextfaktoren können dabei nicht nur Umweltfaktoren sein, sondern auch personenbezogene Faktoren, die internal das Zurechtkommen mit einer beeinträchtigenden Situation mitbestimmen. Subjektive Krankheitsverarbeitung, das Umgehen mit der Problematik zur Partizipation sind individuelle Faktoren, die neben objektiven Faktoren des sozialen Umfelds genauso erfasst werden müssen wie die Einstellung der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihrer Sorgeberechtigten (Wiedergabe nach den zusammenfassenden Erläuterungen bei Harnach-Beck in Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, Vorbem. § 35a Rn. 23, und Kölch/Wolff/Fegert, a.a.O., S. 2 f.).
Dieser Betrachtungsweise steht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen. Im Urteil vom 26.11.1998 (Az. 5 C3 8/97, FEVS 49, 487 ff.) hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass für die Frage, ob eine seelische Behinderung vorliege, entscheidend sei, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv seien, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Damit hat sich das Bundesverwaltungsgericht lediglich zur Qualität der seelischen Störung geäußert und verdeutlicht, dass diese zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen muss. Dies hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich mit § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII ausdrücklich normiert. Anschließend hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass es danach rechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn ein Tatsachengericht einerseits bei bloßen Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft als behinderungsrelevante seelische Störungen die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, den Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule anführt. Die hier vom Bundesverwaltungsgericht benannte Untergrenze der Teilhabebeeinträchtigung stimmt mit dem Maßstab der ICF überein, da es damit auf die bei anderen Kindern ebenfalls üblichen Ängste und mithin auf Menschen ohne ein vergleichbares Gesundheitsproblem abstellt. Dass die aufgezählten schweren Beeinträchtigungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen, steht ebenfalls außer Frage. An welcher Schwelle jedoch eine relevante Beeinträchtigung beginnt, hat das Bundesverwaltungsgericht nicht erörtert. Aus der Entscheidung kann nicht abgeleitet werden, dass Beeinträchtigungen der genannten Art vorliegen müssen, um eine Teilhabebeeinträchtigung zu bejahen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Beispiele lediglich nicht für falsch gehalten.
Es lässt sich nicht rechtfertigen, das Vorliegen der Voraussetzung von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII nur zu bejahen, wenn die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung eine besonders gravierende Intensität hat. Eine derartige Qualifikation der Behinderung sehen weder das oben erörtere Behinderungskonzept der ICF, noch der Wortlaut der anspruchsbegründenden Norm vor. § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII fordert nur eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und kein (partielles) Unvermögen zur Teilhabe. Anders als § 53 SGB XII knüpft § 35a SGB VIII den Anspruch auf Eingliederungshilfe auch nicht an eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit. Sofern eine restriktive Auslegung für interessengerecht gehalten wird, weil es primär Aufgabe der Schule sei, Teilleistungsstörungen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern (z.B. VG Göttingen, Urt.v. 10.07.2007, Az. 2 A 483/05, JAmt 2007, 539 ff.), vermengt dieses Argument unzulässsigerweise zwei Prüfungsebenen. Zunächst ist zu klären, ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt und ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht. Erst in einem nachfolgenden Schritt ist zu prüfen, ob die Leistung vorrangig von einem anderen Leistungsträger zu erbringen ist und erbracht wird und die Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers subsidiär zurücktritt.
Klarstellend ist schließlich zu betonen, dass eine Beeinträchtigung der Teilhabe bereits vorliegt, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt (so auch explizit die Gesetzesbegründung, a.a.O., S. 98, und Kunkel, a.a.O., S. 18), und dass sie nicht nur durch eine Ausgrenzung von Seiten der Umwelt, sondern auch durch subjektive Schwierigkeiten des Betroffenen, aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, bedingt werden kann.
Nach diesem Maßstab ist beim Kläger eine Beeinträchtigung seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gegeben. Betroffen ist der Bereich des gesellschaftlichen Lebens in der Schule, dem im Hinblick auf alle für das Alter des Klägers relevanten Entwicklungaufgaben (soziale Kooperation, Selbstbewusstsein, Erwerb der Kulturtechniken, Spielen und Arbeiten im Team) besondere Bedeutung zukommt. Zwar ist dem Beklagten zuzustimmen, dass es im Leben des Klägers insgesamt und auch in der konkreten Schulsituation viele günstige Kontextfaktoren gibt. Diese konnten jedoch nicht verhindern, dass der Kläger aufgrund seiner seelischen Störung nicht mehr in der Lage ist, im üblichen Umfang aktiv und selbstbestimmt am Schulgeschehen teilzunehmen. In der sozialen Lernsituation im Klassenverband - gerade in Situationen, in denen der Erwerb der Kulturtechniken Lesen und Schreiben im Vordergrund steht - fängt der Kläger bei Misserfolgen an zu weinen und verweigert die Weiterarbeit. Die mündliche Mitarbeit hat er nach eigener Aussage bis auf den Mathematikunterricht eingestellt. Selbst in dem besonders geschützten Rahmen des LRS-Förderunterrichts kommt es aufgrund der Angst zu Lernblockaden, die eine normale, auf die Stoffvermittlung bezogene Interaktion erschweren oder ausschließen. Darüber hinaus zeichnet sich auch für den außerschulischen Bereich eine störungsbedingte Beeinträchtigung ab, wenn der Kläger - wie es Dr. F. in seiner Stellungnahme schilderte - in Alltagskommunikationen mit seiner Mutter nicht mehr adäquat reagieren kann.
3.
Die beantragte ambulante Legasthenietherapie entspricht dem Hilfebedarf des Klägers. Sowohl die Schule als auch die LRS-Förderlehrerin haben zum Ausdruck gebracht, dass die schulische LRS-Förderung nicht ausreicht, um den Kläger aufzufangen, da er spezifische therapeutische Hilfe benötigt. Die Zweifel des Beklagten, ob angesichts des engen Bezuges des Klägers zu der LRS-Förderlehrerin eine zusätzliche LRS-Therapie oder eine Wechsel vom schulischen Förderunterricht zur LRS-Therapie im Interesse des Klägers wären, können deshalb nicht nachvollzogen werden.
4.
Die Leistungspflicht des Beklagten tritt nicht nach § 10 Abs. 1 S. 1 SGB VIII hinter die Leistungspflicht der Schule zurück.
Zwar besteht grundsätzlich ein Subsidiaritätsverhältnis zwischen den Leistungen des Schulträgers und denen der Jugendhilfe. Im konkreten Fall wird die Leistungspflicht der Jugendhilfe jedoch nur verdrängt, wenn tatsächlich ein angemessenes Angebot der Schule vorhanden ist (vgl. OVG Münster, Beschl.v. 30.01.2004, Az. 12 B 2392/03, FEVS 55, 469 ff.; Beschl.v. 16.07.2004, Az. 12 B 1338/04, FEVS 56, 104 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschl.v. 06.12.1999, Az. 2 S 891/98, FEVS 51, 471 ff.). Hier führt die Schule des Klägers zwar eine Förderung nach dem Erlass vom 04.10.2005 durch, diese ist jedoch wie soeben ausgeführt nicht ausreichend, um den Hilfebedarf des Klägers zu decken.
5.
Da dem Kläger nach alledem der geltend gemachte Anspruch zusteht, ist der Ablehnungsbescheid vom 29.01.2008 aufzuheben.
6.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.