Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.02.2012, Az.: 3 A 2962/11

Eingliederunghilfe; Entwicklungsaufgaben; Kostenübernahme; Legasthenie; Legasthenietherapie; Lese-Rechtschreibschwäche; schulische Teilleistungsstörung; Selbstbeschaffung; Teilhabebeeinträchtigung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.02.2012
Aktenzeichen
3 A 2962/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44500
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Schulische Teilleistungsstörungen (hier: Lese-Rechtschreibschwäche - LRS) stellen für sich genommen keine seelischen Störungen im Sinne des § 35 a SGB VIII dar.

2. Ob das Jugendamt den Begriff der "Teilhabebeeinträgchtigung" zutreffend ausgelegt hat, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle.

3. Zur Auslegung des Begriffs der Teilhabebeeinträchtigung.

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 05.07.2011 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für die bereits begonnene LRS-Therapie bei Frau D. im Umfang von 40 Therapieeinheiten zu bewilligen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Kostenvollstreckung seitens der Klägerin mittels Sicherheitsleitung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin ist im Juli 2002 geboren. Sie lebt mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern in E..

Im Jahr 2008 wurde die Klägerin regulär in die Grundschule F. eingeschult. Nach einem Umzug der Familie nach E. wechselte die Klägerin zum Schuljahr 2009/2010 in die Grundschule G., in der sie sodann das erste Schuljahr wiederholte. Derzeit besucht die Klägerin die 3. Klasse.

Von Beginn der Schulzeit an zeigte sich, dass die Klägerin besondere Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat, während ihr mathematische Aufgabenstellungen keine grundlegenden Probleme bereiteten. Die Schwäche im Bereich Lesen und Schreiben war auch der Grund für die Wiederholung der 1. Klasse. Weder dadurch noch mit der Teilnahme am zusätzlichen schulischen Förderunterricht konnte diese Problematik allerdings grundlegend gemindert bzw. gar behoben werden. Bis in die jüngere Vergangenheit hinein unterliefen der Klägerin beim Lesen und Schreiben nach wie vor deutlich überdurchschnittlich viele Fehler. Außerdem benötigte die Klägerin für die Bewältigung derartiger Aufgaben sowohl in der Schule als auch zu Hause übermäßig viel Zeit. Der fehlende Lernfortschritt in diesem Bereich verunsicherte die Klägerin und machte sie zunehmend traurig und resignativ. Sie entwickelte eine zunehmend negative Grundeinstellung zum Fach Deutsch und zog sich aus der aktiven Mitarbeit im Unterricht zurück bzw. verweigerte teilweise die Bearbeitung von Aufgaben.

Wegen dieser Problematik stellten die Eltern der Klägerin diese Anfang 2011 dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie H. in I. vor, der die Klägerin mehrfach untersuchte und unter dem 02.05.2011 eine gutachtliche Äußerung abgab. Darin attestierte er der Klägerin bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz eine Lese- und Rechtschreibstörung im Sinne von F 81.0 des ICD 10 sowie eine sonstige emotionale Störung des Kindesalters gemäß F 93.9 des ICD 10. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten verwiesen.

Unter dem 08.04.2011 stellte die Klägerin beim Beklagten einen Antrag auf Leistungen nach § 35a SGB VIII. Der Beklagte befragte die Klägerin und ihre Eltern im Rahmen eines Hausbesuchs sowie mit einem Elternfragebogen und holte von der Grundschule G. einen Schulbericht ein. Wegen der Einzelheiten wird auf den über den Hausbesuch gefertigten Vermerk vom 24.05.2011, den ausgefüllten Elternfragebogen und den Bericht der Schule vom 15.04.2011 Bezug genommen.

In einer internen Vorlage für eine "Entscheiderkonferenz" im Jugendamt des Beklagten, deren Teilnehmer im Verwaltungsvorgang nicht dokumentiert sind, schlug die den Fall bearbeitende Mitarbeiterin vor, dem Antrag stattzugeben, da zwar noch keine Teilhabebeeinträchtigung festgestellt werden könne, diese aber aus ihrer Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen könne (BA, Bl. 36 - 39). Im Ergebnis folgte die "Entscheiderkonferenz" diesem Vorschlag jedoch nicht, sondern kam zu dem Ergebnis, dass der Antrag abzulehnen sei, da eine Teilhabebeeinträchtigung weder vorliege noch mit hoher Wahrscheinlichkeit drohe.

Die Klägerin hat gegen den daraufhin unter dem 05.07.2011 ergangenen Ablehnungsbescheid am 03.08.2011 Klage erhoben. Sie macht geltend, dass die Bewilligungsvoraussetzungen vorlägen. Insbesondere sei sie bereits aktuell in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt bzw. drohe ihr eine derartige Beeinträchtigung. Das habe bereits der Facharzt Herr H. festgestellt. Im September 2011 hat die Klägerin eine auf zunächst 40 Therapieeinheiten begrenzte LRS-Therapie bei Frau D. begonnen, die von ihren Eltern privat finanziert wird. Wegen der Einzelheiten des Inhalts und des bisherigen Verlaufs der Therapie wird auf den Bericht der Therapeutin vom 06.01.2012 verwiesen.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheides vom 05.07.2011 zu verpflichten, ihr Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten für die bereits begonnene LRS-Therapie bei Frau D. im Umfang von zunächst 40 Therapieeinheiten zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist wie auch schon im Ablehnungsbescheid darauf, dass bei der Klägerin nach der fachlichen Einschätzung seines Jugendamtes weder eine Teilhabebeeinträchtigung vorliege noch eine solche mit hoher Wahrscheinlichkeit drohe. Die Klägerin sei in ihren sozialen Funktionen nicht beeinträchtigt und eine solche Beeinträchtigung sei auch in Zukunft nicht zu erwarten. Nach den Angaben der Schule, die im Verlauf des Klageverfahrens nochmals aktualisiert worden seien, sei sie in ihrer Klasse gut integriert, gehe gern zur Schule und weise keine besonderen Auffälligkeiten gegenüber Kindern ohne LRS-Schwäche auf, insbesondere zeige sie keine psychosomatischen Symptome oder extremen Selbstwertprobleme und auch keine Schulverweigerung. Dass sie in der Klasse nicht gern laut vorlesen wolle, sei bei der LRS-Schwäche verständlich, begründe aber noch keine Teilhabebeeinträchtigung. Sie zeige normale Schul- und Prüfungsängste, die andere Kinder ohne LRS-Problematik auch hätten. Auch außerhalb der Schule habe sie normale altersgemäße soziale Kontakte. Die Fachkraft habe sie beim Hausbesuch als lebensfrohes, aufgeschlossenes und nicht auf den Mund gefallenes Mädchen erlebt.

Die Kammer hat das Verfahren mit Beschluss vom 07.02.2012 zur Entscheidung auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Der Einzelrichter hat in der mündlichen Verhandlung die Klägerin persönlich angehört sowie Beweis erhoben durch Vernehmung der die Klägerin im Fach Deutsch unterrichtenden Lehrkräfte J. und Frau K.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Terminsprotokoll verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Beteiligten sowie des Sachverhalts im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig und hat in der Sache Erfolg.

1.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten Anspruch auf Bewilligung einer LRS-Therapie aus § 35a Abs. 1 SGB VIII. Danach haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und

2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm sind erfüllt und die bereits begonnene Therapie ist die geeignete und erforderliche Hilfe.

a) Die seelische Gesundheit der Klägerin wich jedenfalls in dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand ab.

Eine Abweichung von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII liegt nach ständiger Rechtsprechung der Kammer nicht bereits dann vor, wenn ein Facharzt bzw. -therapeut das Vorliegen einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten wie z.B. einer Lese- und Rechtschreibstörung attestiert hat. Im Zusammenhang mit schulischen Teilleistungsstörungen ist eine Abweichung von der für das Lebensalter typischen Gesundheit vielmehr nur zu bejahen, wenn zusätzlich zu der Teilleistungsstörung eine seelische Störung vorliegt (sog. sekundäre Neurotisierung; vgl. mit ausführlicher Begründung u.a. Urt. der Kammer vom 20.05.2008, 3 A 3648/07, m.w.N., JAmt 2009, S. 385 ff).

Eine derartige, auf der LRS beruhende seelische Störung lag in dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin die hier verfahrensgegenständliche Therapie begonnen hatte, vor. Ausweislich des Gutachtens des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie H. vom 02.05.2011 bestand zu jenem Zeitpunkt eine seelische Störung in Form einer sonstigen emotionalen Störung des Kindesalters nach F 93.9 des ICD 10. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass sich daran bis zur Aufnahme der Therapie etwas geändert hatte. Das Gutachten wurde von einem Therapeuten im Sinne von § 35a Abs. 1a S. 1 SGB VIII auf Grundlage des ICD-10 abgegeben und auch vom Beklagten inhaltlich akzeptiert.

Soweit sich als Folge der nunmehr von der Klägerin aufgenommenen Therapie deren seelischer Zustand inzwischen gebessert haben sollte, ist das im vorliegenden Verfahren nicht zu berücksichtigen. Zwar kommt es in Verfahren der vorliegenden Art, bei denen die Bewilligung einer Jugendhilfeleistung begehrt wird, grundsätzlich auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an. Das gilt aber nicht, wenn - wie im vorliegenden Verfahren - die begehrte Hilfe vor Abschluss des laufenden Verfahrens selbst beschafft und deshalb (nur noch) um eine Kostenerstattung gestritten wird. In einem solchen Fall sind vielmehr die Verhältnisse maßgebend, die im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung vorgelegen haben.

b) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme spricht viel dafür, dass bei der Klägerin aufgrund der seelischen Störung spätestens im Sommer 2011 bereits eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingetreten war. Jedenfalls aber war eine solche Beeinträchtigung zu erwarten, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einzutreten drohte.

aa) Ob eine Beeinträchtigung der Teilhabe vorliegt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, hat der Jugendhilfeträger nach fachlicher Erkenntnis zu beurteilen. Gleichwohl handelt es sich nach der Rechtsprechung der Kammer bei dem Begriff der Teilhabebeeinträchtigung um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung durch den Jugendhilfeträger von den Verwaltungsgerichten voll überprüfbar ist (vgl. u.a. Urt. vom 20.05.2008, 3 A 3648/07, a.a.O., m.w.N.; Nds. OVG, Beschl. vom 25.03.2010, 4 LA 43/09, JAmt 2010, 378; Wiesner in: Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, Rn. 25a, m.w.N.). Die Auslegung und Anwendung dieses Tatbestandsmerkmals seitens des Beklagten entspricht im vorliegenden Fall nicht dem Gesetz.

bb) Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne einer Partizipation ist gekennzeichnet durch die aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung sozialer Funktionen und Rollen in den das Kind beziehungsweise den Jugendlichen betreffenden Lebensbereichen wie Familie, Verwandtschafts- und Freundeskreis, Schule und außerschulischen Betätigungsfeldern (z.B. Sportvereine, kirchliche Gruppen, Pfadfinder) sowie Ausbildungsbereichen (VG Düsseldorf, Urt. v. 05.03.2008, Az. 19 K 1659/07, JAmt 2008, 212ff.; Wiesner, a.a.O., § 35a Rn. 19; vgl. auch Fischer in: Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/KJHG, 3. Aufl. 2007, Rn. 11; sowie VG Sigmaringen, Urt. v. 25.01.2005, 4 K 2105/03, JAmt 2005, 246ff: Teilhabe als aktive und selbstbestimmte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens). Eine Auslegung des Begriffs der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne von § 35a Abs. 1 S.1 Nr. 2 SGB VIII hat sich an der grundlegenden Zielbestimmung in § 1 Abs. 1 SGB VIII zu orientieren, nach der jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Die soziale Teilhabe ist daher im Hinblick auf die altersgemäßen Entwicklungsaufgaben mit konkreten Inhalten zu füllen (für eine Einbeziehung der Entwicklungspsychologie plädieren auch Kölch/Wolff/Fegert, Teilhabebeeinträchtigung - Möglichkeiten der Standardisierung im Verfahren nach § 35a SGB VIII, JAmt 2007, 1, 2f., und Harnach-Beck in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, § 35a Rn. 43). Als wesentliche Entwicklungsaufgaben im mittleren Schulalter (8-12 Jahre) werden soziale Kooperation, Selbstbewusstsein, Erwerb der Kulturtechniken sowie das Spielen und Arbeiten im Team benannt (Harnach-Beck, ebenda).

Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn die Teilhabe aufgrund der seelischen Störung tatsächlich eingeschränkt ist. Zum Verständnis des zweigliedrigen Behinderungsbegriffs des § 2 Abs. 1 SGB IX und des daran angelehnten § 35a Abs. 1 SGB VIII kann auf die Leitlinien der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückgegriffen werden, da der Gesetzgeber sich bei der Einführung des Begriffs an der zu der ICF führenden internationalen Diskussion orientieren wollte (vgl. den Gesetzesentwurf der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein SGB IX vom 16.01.2001, Bundestags-Drs. 14/5074, S. 98, 121; Wiesner, a.a.O. § 35a Rn. 5 und 19). Nach der ICF liegt eine Behinderung vor, wenn im Zusammenhang mit einer Schädigung die Handlungsfähigkeit und die üblichen Partizipationsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Die Norm, mit der die Leistungsfähigkeit und die tatsächliche Leistung verglichen werden, ist das entsprechende Leistungsbild eines Menschen ohne vergleichbares Gesundheitsproblem. Die WHO-Definition betont stark die sozialen Aspekte von Behinderung. Ob aus abweichenden Verhaltens- und Erlebensweisen oder körperlichen Besonderheiten eine Behinderung resultiert, hängt danach wesentlich davon ab, mit welchen Umweltbedingungen ein Mensch zurechtkommen muss. Erst die Wechselwirkung von personellen Einschränkungen mit Kontextfaktoren formt das Ausmaß einer Behinderung. Behinderung ist demnach die negative Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem (bestimmt nach ICD-10) und ihren Kontextfaktoren auf ihre Funktionsfähigkeit (insbesondere die Teilnahme an einem oder mehreren Lebensbereichen). Erleichternde oder einschränkende Kontextfaktoren können dabei nicht nur Umweltfaktoren sein, sondern auch personenbezogene Faktoren, die internal das Zurechtkommen mit einer beeinträchtigenden Situation mitbestimmen. Subjektive Krankheitsverarbeitung, das Umgehen mit der Problematik bei der Partizipation sind individuelle Faktoren, die neben objektiven Faktoren des sozialen Umfelds genauso erfasst werden müssen wie die Einstellung der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihrer Sorgeberechtigten (Wiedergabe nach den zusammenfassenden Erläuterungen bei Harnach-Beck in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 33. Lfg. 2006, Vorbem. § 35a Rn. 23, und Kölch/Wolff/Fegert, a.a.O., S. 2 f.).

Dieser Betrachtungsweise steht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen. Im Urteil vom 26.11.1998 (Az. 5 C3 8/97, FEVS 49, 487ff.) hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass für die Frage, ob eine seelische Behinderung vorliege, entscheidend sei, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv seien, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Damit hat sich das Bundesverwaltungsgericht lediglich zur Qualität der seelischen Störung geäußert und verdeutlicht, dass diese zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen muss. Dies hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich mit § 35 Abs. 1 S.1 Nr. 2 SGB VIII ausdrücklich normiert. Anschließend hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass es danach rechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn ein Tatsachengericht einerseits bei bloßen Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft als behinderungsrelevante seelische Störungen die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, den Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule anführt. Die hier vom Bundesverwaltungsgericht benannte Untergrenze der Teilhabebeeinträchtigung stimmt mit dem Maßstab der ICF überein, da es damit auf die bei anderen Kindern ebenfalls gelegentlich vorkommenden Ängste und mithin auf Menschen ohne ein vergleichbares Gesundheitsproblem abstellt. Dass die aufgezählten Verhaltensweisen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen, steht ebenfalls außer Frage. An welcher Schwelle jedoch eine relevante Beeinträchtigung beginnt, hat das Bundesverwaltungsgericht in der Entscheidung überhaupt nicht erörtert. Aus der Entscheidung kann insbesondere nicht abgeleitet werden, dass Verhaltensweisen der genannten Art bzw. Schwere bereits vorliegen müssen, um eine Teilhabebeeinträchtigung zu bejahen. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Beispiele lediglich nicht für falsch gehalten. Soweit in der Rechtsprechung nach wie vor zum Teil eine auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder die Vereinzelung in der Schule als (Mindest-)Voraussetzungen für das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB VIII bezeichnet werden, beruht das unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen auf einer Fehlinterpretation des Gesetzes.

Es lässt sich unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks zudem nicht rechtfertigen, das Vorliegen der Voraussetzung von § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII erst dann zu bejahen, wenn die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung eine besonders gravierende Intensität hat. Eine derartige Qualifikation der Behinderung sehen weder das oben erörtere Behinderungskonzept der ICF, noch der Wortlaut der anspruchsbegründenden Norm vor. Das Gesetz fordert in § 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 VIII nur eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und kein (partielles) Unvermögen zur Teilhabe. Anders als § 53 SGB XII knüpft § 35a SGB VIII den Anspruch auf Eingliederungshilfe auch nicht an eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit. Sofern eine restriktive Auslegung für interessengerecht gehalten wird, weil es primär Aufgabe der Schule sei, Teilleistungsstörungen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern (z.B. VG Göttingen, Urt. v. 10.07.2007, Az. 2 A 483/05, JAmt 2007, 539ff.; ebenso VG Hamburg, Urt. vom 24.11.2009, Az. 13 K 4032/07, juris), vermengt dieses Argument in unzulässiger Weise zwei Prüfungsebenen. Zunächst ist nämlich zu klären, ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt und ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht. Erst in einem nachfolgenden Schritt ist zu prüfen, ob die Leistung vorrangig von einem anderen Leistungsträger zu erbringen ist und erbracht wird und die Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers deshalb als subsidiär zurücktritt.

Klarstellend ist schließlich zu betonen, dass eine Beeinträchtigung der Teilhabe bereits vorliegt, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt (so auch explizit die Gesetzesbegründung, a.a.O., S. 98, und Kunkel, Das Verfahren zur Gewährung einer Hilfe nach § 35 a SGB VIII, JAmt 2007, S. 18), und dass sie nicht nur durch eine Ausgrenzung von Seiten der Umwelt, sondern auch durch subjektive Schwierigkeiten des Betroffenen, von sich aus aktiv am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, bedingt werden kann (ebenso Wiesner, a.a.O., § 35a Rn. 19).

Hinsichtlich des Maßstabs der Wahrscheinlichkeit hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 26.11.1998 (a.a.O.) folgende Vorgaben gemacht: Es sei nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50% verlange. Dabei sei für die Prognose insbesondere bedeutsam, auf welche Zeit bezogen die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts einer Behinderung beurteilt werden solle. Hierfür komme kein starrer Zeitrahmen in Betracht, sondern eine nach Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe bemessene Zeit. Sei es nämlich Ziel der Eingliederungshilfe für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche, den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten, so sei der Beginn der Bedrohung so früh, aber auch nicht früher anzusetzen, dass noch Erfolg versprechende Eingliederungshilfemaßnahmen gegen den Eintritt einer Behinderung eingesetzt werden könnten.

cc) Nach diesen Maßstäben drohte im Sommer 2011 eine Teilhabebeeinträchtigung zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zukunft einzutreten.

(1) Wie oben ausgeführt gehört zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne des § 35a SGB VIII für (Grund-)Schulkinder u.a. ein nach den individuellen intellektuellen Fähigkeiten angemessener Erwerb der wesentlichen Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen), denn das gehört zu den wesentlichen sozialen Entwicklungsaufgaben in diesem Alter. Im Erwerb angemessener Fähigkeiten im Bereich des Schreibens und insbesondere des Lesens war und ist die Klägerin jedoch beeinträchtigt. Dabei folgte - und das ist das Entscheidende - diese Beeinträchtigung nicht allein und auch nicht maßgeblich aus der bei ihr bestehenden LRS. Vielmehr hatte die Klägerin, wie sich insbesondere im Rahmen der Beweisaufnahme ergeben hat, im Verlauf ihrer ersten Grundschuljahre als Folge der andauernden Misserfolgs- bzw. Versagenserlebnisse in diesem Bereich eine zunehmend negative Grundeinstellung in Richtung hin zu einer resignativen Haltung zu den Lernanforderungen im Bereich des Schreibens und Lesens entwickelt. Insbesondere diese negative innere Einstellung und nicht die LRS an sich hinderte sie in immer stärkerem Maße daran, mit den Lernanforderungen m Bereich Lesen und Schreiben altersgemäß umzugehen und sie letztlich auch in angemessenem Umfang zu bewältigen. Beide Zeuginnen haben übereinstimmend ausgesagt, dass die Klägerin sich insbesondere im Verlauf der 2. Klasse aus der aktiven Mitarbeit im Fach Deutsch zunehmend zurückgezogen und vor allem der Bearbeitung von Aufgaben im Bereich des Lesens und Schreibens verweigert habe. Die Klägerin habe sich zunehmend stiller und zurückgezogener verhalten. Die Zeugin L. hat zudem angegeben, die Leistungs- und Lernbereitschaftskurve der Klägerin habe nach der Aufnahme der LRS-Therapie deutlich ins Positive gedreht. Das lässt den Umkehrschluss zu, dass die Entwicklung davor eine negative Richtung aufwies. Das deckt sich mit den Angaben der Zeugin K., wonach die Klägerin insbesondere seit dem Februar 2011 durchaus typischerweise die Mitarbeit im Fach Deutsch bei Aufgaben im Bereich des Lesens und Schreibens verweigert und in solchen Situationen regelrecht "zugemacht" habe, wobei sie im Regelfall auch mittels persönlicher Ansprache nicht mehr zur weiteren Mitarbeit habe motiviert werden können. Die Klägerin habe sich vielmehr in solchen Situationen stur verhalten. Sie, die Zeugin, habe dieses Verhalten als im Ansatz resignativ empfunden. Dieses Verhalten habe die Klägerin auch noch zu Beginn der 3. Klasse gezeigt. Nach Aufnahme der Therapie habe sich dieses Verhalten dagegen deutlich im Sinne einer nunmehr positiven Arbeitshaltung und Einstellung der Klägerin gegenüber den Anforderungen im Bereich des Lesens und Schreibens verändert.

Diese Schilderungen zeichnen zusammen mit den Angaben, die die Eltern im Verlauf des Verfahrens gemacht haben, sowie mit den Ausführungen von Herrn H. in seinem Gutachten vom 02.05.2011 ein insgesamt negatives Entwicklungsbild bezüglich der Lern- und Leistungsbereitschaft der Klägerin im Bereich des Lesens und Schreibens vor Aufnahme der LRS-Therapie, wie es für derartige Fälle bei fehlender therapeutischer Bearbeitung nach den Kenntnissen des Einzelrichters aus der vielfachen Bearbeitung entsprechender Fälle durchaus typisch ist. Kinder mit schulischen Teilleistungsschwächen erleben ein kontinuierliches punktuelles "Versagen" in der Schule, aus dem sie auch mit den herkömmlichen ggf. von Schule und Elternhaus bereit gestellten Hilfen - Unterstützung bei den Hausaufgaben, zusätzliches Lernen, Förderunterricht - nicht herauskommen. Als Folge entwickeln sich emotional eine negative Selbstwahrnehmung ("Ich bin zu blöd!") mit der Tendenz zu depressivem Empfinden und eine negative Grundeinstellung zu den entsprechenden schulischen Anforderungen, die sich im weiteren Verlauf des Schulbesuchs wegen der stetig steigenden Anforderungen tendenziell immer weiter verstärkt und schließlich in Resignation und Verweigerung münden kann.

(2) Zur Überzeugung des Einzelrichters führt die Gesamtschau auf alle Erkenntnisse, insbesondere unter Berücksichtigung der Schilderungen der Zeuginnen, zu dem Schluss, dass sich die Klägerin spätestens im Verlauf des Jahres 2011 in genau solch einer Entwicklung befand. Angesichts dessen ist die positive fachliche Einschätzung des Beklagten zum prognostischen weiteren Verlauf der Entwicklung der Klägerin nicht nachvollziehbar. Vielmehr sind keine Tatsachen erkennbar, die eine solche, von der ursprünglichen Einschätzung der mit der Bearbeitung des Falles betrauten Mitarbeiterin abweichende positive Prognose rechtfertigen könnten.

Es ist zunächst nicht nachvollziehbar, dass, wie der Beklagte im Bescheid ausgeführt hat, bereits eine "weiterhin" erfolgende "konsequente Umsetzung" des Erlasses des Nds. Kultusministeriums zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen vom 04.10.2005 auf die Klägerin die eingetretene Entwicklung hätte durchbrechen und ins Positive ändern können. Vielmehr steht gar nicht fest, dass bzw. inwieweit dieser Erlass in der von der Klägerin besuchten Schule überhaupt angewendet wird und inwieweit dabei den spezifischen Problemen der Klägerin Rechnung getragen werden könnte. Ausweislich des Schulberichts vom 15.04.2011 fand zumindest bis dahin eine Förderung nach Maßgabe des Erlasses offenbar gerade nicht statt, denn das entsprechende Ankreuzfeld ist in dem Bericht nicht markiert, sondern stattdessen das Feld für sonstige Fördermaßnahmen ausgefüllt.

Der Beklagte hat sich zudem in keiner Weise mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass der von der Klägerin bis dahin über nahezu zwei Jahre wahrgenommene Förderunterricht gerade nicht zu einer Verbesserung oder zumindest Stabilisierung geführt hatte, sondern gleichwohl eine negative Entwicklung eingetreten war. Soweit der Beklagte im Übrigen auf sonstige die Klägerin stützende Faktoren (stabile, fürsorgliche Familienverhältnisse, soziale Kontakte innerhalb und außerhalb der Schule, positive Erfahrungen in anderen schulischen und außerschulischen Lebensbereichen) verweist, haben auch diese Faktoren, die bereits seit Beginn der Schulzeit vorhanden waren, die eingetretene negative Entwicklung in Bezug auf den Erwerb angemessener Fähigkeiten im Bereich des Lesens und Schreibens offenkundig nicht verhindern können.

Soweit der Beklagte schließlich auf Aussagen der Zeugin L. in dem im Verlauf des Klageverfahrens zusätzlich eingeholten Schulbericht und in dem anschließend zwischen dieser und der sachbearbeitenden Mitarbeiterin geführten Telefongespräch verweist, kann auch dies die Ablehnungsentscheidung des Beklagten nicht stützen. Wie sich im Rahmen der Beweisaufnahme gezeigt hat, ging die Zeugin nämlich von einem Verständnis des Begriffs "Teilhabebeeinträchtigung" aus, das mit dem oben dargelegten Inhalt der maßgeblichen gesetzlichen Regelung nicht übereinstimmt. Die Frage einer "psychischen Erkrankung" ist in dem Telefonat zudem in einem nur unvollständigen Kontext nämlich in Bezug auf das Vorliegen von für die Zeugin erkennbaren psychosomatischen Beschwerden erörtert worden.

c) Dass die zwischenzeitlich von der Klägerin aufgenommene Therapie die geeignete und erforderliche Hilfe darstellt, zeigt schon der Umstand, dass die Klägerin nach deren Aufnahme nach den übereinstimmenden Angaben der beiden Zeuginnen eine deutlich positivere Grundeinstellung zu den Anforderungen im Bereich des Lesens und Schreibens entwickelt und sich auch insgesamt seelisch offenkundig stabilisiert hat. Die Fortsetzung der begonnenen Therapie ist erforderlich, um diese positive Entwicklung weiter zu verfestigen und die bisherigen Therapieerfolge nachhaltig zu sichern. Dabei entspricht es dem üblichen fachlichen Vorgehen der Jugendämter zumindest im örtlichen Zuständigkeitsbereich des erkennenden Gerichts, im Rahmen einer Erstbewilligung zunächst mindestens 40 Therapieeinheiten zuzusprechen. Dem folgt der Einzelrichter auch für dieses Verfahren.

d) Die zwischenzeitliche Selbstbeschaffung der Hilfe steht dem Erfolg der Klage schließlich ebenfalls nicht entgegen, denn die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 SGB VIII, unter denen eine Selbstbeschaffung zulässig ist, sind erfüllt. Insbesondere duldete die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub bis zur Entscheidung über die Klage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Erwerb ausreichender Fähigkeiten im Bereich des Lesens und Schreibens eine elementare Bedeutung für die gesamte schulische Entwicklung eines Kindes zukommt. Gerade ab dem Beginn der 3. Klasse werden ausreichende Fähigkeiten in diesem Bereich auch in den übrigen Schulfächern, insbesondere im Fach Mathematik wegen der Zunahme von textlich formulierten Sachaufgaben aber auch etwa im Fach Sachkunde, immer wichtiger. Hinzu kommt, dass mit dem Beginn der Notenvergabe für schriftliche Leistungen ab der 3. Klasse der Leistungsdruck für die Schülerinnen und Schüler aber auch deren Eigenwahrnehmung der schulischen Leistungsfähigkeit erheblich anwächst. Angesichts dessen stand zu befürchten, dass die bisher im Wesentlichen auf das Lesen und Schreiben beschränkte zunehmend negative Grundeinstellung der Klägerin sich noch weiter verfestigen und zudem auf weitere schulische Anforderungen ausdehnen würde. Die weitere Hinnahme einer solchen Entwicklung war der Klägerin mit Blick auf die in § 1 Abs. 1, 3 SGB VIII beschriebene Zielsetzung des Jugendhilferechts nicht zuzumuten.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.