Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 10.07.2007, Az.: 2 A 483/05
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 10.07.2007
- Aktenzeichen
- 2 A 483/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 62065
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2007:0710.2A483.05.0A
Rechtsgrundlagen
- § 35a I 1 Nr. 1 SGB VIII
- § 35a I 1 Nr. 2 SGB VIII
Fundstelle
- JAmt 2007, 539-542
Tatbestand:
Der am ... geborene Kläger besuchte im Schuljahr 2004/2005 die Grundschule in H. in der 4. Klasse. Seit dem Schuljahr 2005/2006 wird er an der I. -J. -Realschule in K. beschult.
Anfang April 2005 stellten die Eltern des Klägers, die sich Ende 2004/Anfang 2005 getrennt hatten, den Kläger erstmals in der Praxis der sachverständigen Zeugin Dr. med. L.M. -N., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Psychotherapie vor. Diese stellte im Laufe ihrer Untersuchungen fest, dass beim Kläger eine Legasthenie vorliege. In ihrer fachärztlichen Stellungnahme vom 5. Juli 2005 fasst die Zeugin die testdiagnostischen Ergebnisse wie folgt zusammen:
Der Kläger habe mit einem T-Wert von 63 beim Intelligenztest HAWIK III ein überdurchschnittliches Ergebnis erreicht. In dem von ihr verwendeten Rechtschreibtest DRT 4 Form A. habe der Kläger einen T.-Wert von 39 erzielt. Auch im Salzburger Lesetest seien teilweise kritische Werte erreicht worden. Zusammenfassend lasse sich daraus ableiten, dass bei dem Kläger eine umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und des Schreibens gemäß der internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 F 81.0 vorliege. Die dadurch bedingten besonderen Misserfolgserfahrungen verstärkten beim Kläger eine Anpassungsstörung. Der Kläger sei dem Personenkreis des § 35a KJHG zuzurechnen.
Bereits am 30. Mai 2005 beantragten die Eltern des Klägers für diesen beim Beklagten die Gewährung von Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für eine Legasthenietherapie. Der Beklagte leitete diesen Antrag an die von ihm und anderen südniedersächsischen Landkreisen für die Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a SGB VIII eingerichtete Fachstelle Diagnostik zur Bearbeitung weiter. Diese holte einen Bericht der Grundschule H. sowie einen Fragebogen der Eltern des Klägers ein. Sie ließ sich auch die dem Kläger bisher erteilten Zeugnisse vorlegen. Im Schulbericht vom 10. Juni 2005 heißt u.a., die Klasse des Klägers sei sehr lebhaft und es gebe keine direkten Außenseiter. Zu seinem Sozialverhalten wird ausgeführt, er sei in die Klassengemeinschaft integriert, nehme von sich aus Kontakt zu Schülern auf und werde von der Klassengemeinschaft akzeptiert. Er weise eine geringe Frustrationstoleranz auf.
Im Elternfragebogen gaben die Eltern des Klägers an, bei ihm besonders häufig Kopfschmerzen und Schlafstörungen zu beobachten, die vor Klassenarbeiten in Deutsch aufträten. Ihr Sohn fühle sich im Klassenverband wohl, habe Freunde und sein Verhältnis zu seinen Mitschülern sei nicht gestört. Er weine oft bei Deutschhausaufgaben und brauche dabei häufig Hilfe. Vor Diktaten und Englischarbeiten schlafe er am Abend vorher schlecht, sei bereits mehrere Tage vorher aufgeregt und nach der Arbeit besonders erschöpft. Der Kläger verbringe gelegentlich seine Freizeit außerhalb des Hauses und sei gerne mit gleichaltrigen Kindern und Klassenkameraden zusammen. Seit einem Jahr betreibe er im Sportverein Jiu Jitsu. Fühle er sich ungerecht behandelt, werde er sehr wütend. Im Elterngespräch in der Fachstelle gaben die Eltern des Klägers am 30. August 2005 an, ihr Sohn habe viele Freunde und sei beliebt. Am Ort wohnten einige Gleichaltrige, mit denen er sich am Nachmittag sehe.
Im Halbjahreszeugnis wie im Abschlusszeugnis der 4. Klasse erhielt der Kläger in Deutsch jeweils eine 3 und in Rechtschreibung jeweils eine 4. In den übrigen Fächern wurden seine Leistungen zwischen 2 und 3 beurteilt. In beiden Zeugnissen wird ausgeführt, sein Arbeitsverhalten entspreche den Erwartungen in vollem Umfang und sein Sozialverhalten entspreche den Erwartungen. Er sei bemüht, sein Verhalten zu reflektieren und Konflikte altersangemessen zu lösen. Regeln und Vereinbarungen halte er meist ein, zeige jedoch nicht immer faires Verhalten.
Am 7. September 2005 führten Mitarbeiter der Fachstelle mit A. einen Lesetest durch. Nach Einschätzung der Fachstelle wirkte er sehr aufgeschlossen und sehr sicher. Er berichtete von seiner neuen Schulklasse und gab an, sich mit den meisten Jungen schon angefreundet zu haben. Seine Rechtschreibschwäche finde er blöd. Am 22. September 2005 erstellte die Fachstelle Diagnostik ein Entscheidungsblatt, in dem ausgeführt wurde, bei dem Kläger läge zwar eine Teilleistungsstörung vor, jedoch keine Abweichung in der seelischen Gesundheit vom für das Lebensalter typischen Zustand; auch sei eine Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht festzustellen.
Unter Bezugnahme auf diese Stellungnahme lehnte der Beklagte den Antrag der Eltern des Klägers mit Bescheid vom 6. Oktober 2005 ab.
Hiergegen hat der Kläger, der seit Oktober 2005 bis heute eine Legasthenietherapie unternimmt, am 25. Oktober 2005 Klage erhoben.
Er meint, Anspruch auf Leistungen des Beklagten für eine Legasthenietherapie zu haben. Die sachverständige Zeugin M. -N. habe bei ihm eine Legasthenie festgestellt, die Anpassungsstörungen verstärke. Er weine, wenn er für den Deutschunterricht üben soll und werde wegen seiner Schulangst von den Mitschülern gehänselt.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 6. Oktober 2005 zu verpflichten, ihm die Übernahme der Kosten einer Legasthenietherapie im Umfang von zunächst 40 Stunden zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Kläger leide nicht unter einer schwergradigen Lese- und Rechtschreibstörung. Der von ihm im Test erzielte Prozentrang von 14 spreche gegen die Annahme einer Teilleistungsstörung. Bestätigt werde dies durch lediglich unterdurchschnittliche Rechtschreibleistungen wie sie im Zeugnis der 4. Klasse bescheinigt werden. Die Leseleistungen seien sogar durchschnittlich. Es drohe auch keine Gefährdung seiner Integration. Sein Sozialverhalten entspreche dem Gleichaltriger. Das mit der Klagebegründung vorgetragene Verhalten sei schwer nachvollziehbar, da es eine abrupte Änderung des klägerischen Verhaltens darlege.
Das Gericht hat die Eltern des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 15. Mai 2007 zu seinem Sozialverhalten informatorisch angehört. Zu der Frage des Vorliegens einer Anpassungsstörung hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung vom 10. Juli 2007 Beweis erhoben durch Einvernahme der Frau Dr. med. L.M. -N. als sachverständige Zeugin. Wegen der Einzelheiten der Befragungen und deren Ergebnisse wird auf die jeweilige Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 6. Oktober 2005 ist rechtswidrig und der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Jugendhilfeleistung (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 35a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII.
Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist in Fällen, in denen um die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII gestritten wird, grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier der 6. Oktober 2005 (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.06.1995 - 5 C 30.93 -, FEVS Bd. 46, S. 94). Das Gericht hat nicht die Aufgabe, einen Hilfefall selbst erstmalig zu prüfen, sondern kann nur darüber befinden, ob einem Hilfesuchenden die begehrte Hilfe in dem streitbefangenen Zeitraum von Rechts wegen zustand oder nicht. Anders ist es nach der zitierten, von der Kammer geteilten Rechtssprechung, wenn die letzte Verwaltungsentscheidung selbst eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Regelung enthält. Davon kann bei leistungsversagenden Jugendhilfebescheiden indes nicht ausgegangen werden. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 5. Oktober 2005 lehnte der Beklagte nicht etwa für unbestimmte Zeit künftige Jugendhilfeleistungen ab. Er konnte und wollte als Jugendhilfeträger vielmehr nur eine Entscheidung nach Maßgabe der im Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannten leistungsrelevanten Umstände treffen. Es kommt daher nicht darauf an, ob das Leistungsbegehren längerfristig ausgelegt ist, sondern darauf, ob dies die Entscheidung des Jugendhilfeträgers ist (vgl. Urteil der Kammer vom 22.02.2007 - 2 A 351/05 -, veröffentlicht in der Internetentscheidungssammlung des Nds. OVG).
Im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung am 6. Oktober 2005 lagen die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII vor.
Nach dieser Vorschrift i.d.F. des ab 1. Oktober 2005 geltenden Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) vom 8. September 2005 (Bundesgesetzblatt I, S. 2729) haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
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ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und
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daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Die seelische Gesundheit des Klägers weicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustands ab, so dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII vorliegen.
Wann bei einer Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie) oder Rechenschwäche (Dyskalkulie) von einer seelischen Erkrankung im Sinne von § 35a Abs. 1 SGB VIII gesprochen werden kann, hat die Kammer in ihrer diesbezüglichen Grundsatzentscheidung vom 26. Januar 2006 (2 A 161/05, bekräftigt durch Urteil vom 22.02.2007 - 2 A 351/05 -, jeweils veröffentlicht in der Internetentscheidungssammlung des Nds. OVG) ausführlich dargelegt. Dem Prozessbevollmächtigten des Klägers und dem Beklagten sind diese Entscheidungen bekannt, so dass zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf sie Bezug genommen wird.
Die Kammer hat in diesen Entscheidungen und in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, sie lege für die fachärztliche Diagnose einer isolierten Rechtschreibstörung oder einer Lese-Rechtschreibstörung die fachlichen Standards der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugrunde, wie sie sich aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin ergeben. Diesen Leitlinien folgend, hat die Kammer bisher eine behandlungsbedürftige Teilleistungsstörung als nicht gegeben erachtet, wenn die vom Hilfesuchenden in einem anerkannten Diagnosetest erzielte Leistung zu einem Prozentrang von über 10 geführt hat (bestätigt durch Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 21.2.2007 -4 LA 134/07 -). Dies würde im Fall des Klägers, der in dem entsprechenden Test DRT 4 einen T-Wert von 39 und damit einen Prozentrang von 14 erzielt hat, die Annahme einer seelischen Behinderung in Form der Legasthenie ausschließen. Indes betrafen die bisher von der Kammer entschiedenen Fälle Kinder mit einer durchschnittlichen Intelligenzleistung. Der Kläger hingegen hat bei der von der sachverständigen Zeugin M. -N. durchgeführten Untersuchung im HAWIK III-Test einen T-Wert von 63 erzielt, was einem Intelligenzquotienten von 120, und damit einer überdurchschnittlichen Intelligenz entspricht. Die Frage, welche Bedeutung der Intelligenzleistung bei der Beurteilung des jeweiligen Prozentranges zukommt, war in den bisherigen Leitlinien nicht näher problematisiert worden. Indes sind diese Leitlinien jüngst überarbeitet und erweitert worden und enthalten nun konkrete Aussagen zum Verhältnis zwischen Intelligenz- und Teilleistung (vgl. Dritte überarbeitete und erweiterte Auflage der Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, veröffentlicht im Deutschen Ärzte Verlag, Stand: 2007, S. 207 ff.).
Der hierin befindliche Abschnitt 2.5 über die apparative, Labor- und Testdiagnostik (a.a.O., S. 212 ff.) ist darin vollständig neu gefasst. Während in anderen Bereichen der Leitlinien allenfalls redaktionelle Änderungen festzustellen sind, wird die Frage des Verhältnisses zwischen Intelligenzleistung und Rechtschreib- bzw. Leseleistung völlig neu bewertet. Zwar heißt es im Grundsatz, das Leistungsniveau im Lesen bzw. Schreiben sollte zur Stellung einer Diagnose zunächst den Grenzwert von Prozentrang ca. 10 nicht überschreiten, und ferner solle die Diskrepanz zwischen Rechtschreib- bzw. Leseleistung und Intelligenz eine Standardabweichung von mind. 1,2 betragen. Neu ist indes, dass die Leitlinien bei extrem niedrigem oder extrem hohem IQ die Anwendung eines sogenannten Regressionsmodells empfehlen. Nach diesem Modell variiert der kritische Prozentrang im Lesen oder Rechtschreiben je nach Intelligenzleistung. Der Vorteil des Regressionsmodells gegenüber dem IQ-Diskrepanzmodell wird darin gesehen, dass Verzerrungen in den Extrembereichen der Verteilung der Rechtschreib- oder Leseleistung vermieden würden. So sei beispielsweise in den Extrembereichen eines höheren IQ das Kriterium eines Lese-Rechtschreibprozentranges von 10 oder kleiner nicht immer adäquat zur Abbildung des klinischen Bildes. Die Kammer folgt dieser fachlichen Einschätzung, die die anerkannten Standards der Diagnose von Teilleistungsstörungen darstellen. Die hierzu abgebildete Tabelle bezeichnet bei einem Intelligenzquotient von 120, wie ihn der Kläger aufweist, einen Prozentrang von 25 als kritisch. Diesen Prozentrang hat der Kläger mit 14 im Rechtschreibtest deutlich unterschritten, so dass die Diagnose einer Legasthenie in seinem Fall geboten ist.
Im Fall des Klägers liegen daneben die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Nr. 2 SB VIII vor, weil seine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung beeinträchtigt war bzw. eine solche Beeinträchtigung zu erwarten war.
Die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird bei Teilleistungsstörungen wie der Legasthenie nach der Intensität der Auswirkungen der seelischen Störung abgegrenzt. Es ist zu fragen, ob die seelische Störung so intensiv ist, dass sie über bloße Schulprobleme und Schulängste, die andere Kinder oftmals aufweisen, in bedeutsamer Weise hinausgeht. Davon ist z.B. bei Vorliegen einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, die zum Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und zur Vereinzelung in der Schule geführt hat bzw. zu führen droht, der Fall (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 26.11.1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487 ff.). Erforderlich ist also, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Kindes vorliegt oder eine solche droht. Daraus folgt, dass bei Schulproblemen, wie sie auch viele andere Kinder haben, z.B. bei Gehemmtheit, Versagensängsten oder Schulunlust, eine Teilhabegefährdung oder gar Beeinträchtigung noch nicht anzunehmen ist. Es verbietet sich demnach, jegliche Beeinträchtigung im Rahmen des Schulbesuchs, die aufgrund der Legasthenieerkrankung eintritt, schon als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu definieren. Nur eine solche Sichtweise ist auch interessengerecht, da es primär die Aufgabe der Schule ist, eine Lese- oder Rechtschreibschwäche durch geeignete Maßnahmen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern. Es ist daher angezeigt, den Nachweis weit mehr als üblicher schulischer Probleme im Falle mangelhafter Rechtschreibleistungen zu fordern, bevor ein Anspruch auf Eingliederungshilfe entstehen kann.
Nach diesen Maßgaben ist beim Kläger von einer drohenden Beeinträchtigung seiner Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auszugehen, weil er in seiner sozialen Funktionsfähigkeit durch die Legasthenie eingeschränkt ist.
Die Kammer verkennt dabei nicht, dass die Auswertung des Schulberichts der Grundschule H. vom 10. Juni 2005 und des Elternfragebogens eher gegen eine Teilhabegefährdung des Klägers sprechen. Ausweislich des Schulberichts war der Kläger in der Grundschule in die Klassengemeinschaft integriert und von ihr akzeptiert; er befand sich nicht in einer Außenseiterrolle und eine solche drohte auch nicht. Lediglich seine geringe Frustrationstoleranz war auffällig. Auch der Elternfragebogen enthält Angaben, die zunächst gegen eine Teilhabegefährdung sprechen. So gaben die Eltern des Klägers an, dieser habe zahlreiche Freunde, mit denen er auch regelmäßig spiele. Ferner sei er im Sportverein in einer Jiu Jitsu-Gruppe. Auch die geschilderten Einschlafstörungen und die Aufregung vor Diktaten und Englischarbeiten sowie die Erschöpfung nach solchen Arbeiten deuten eher auf Probleme hin, die bei Schulkindern heute nicht unüblich sind. Schließlich lässt sich eine Teilhabegefährdung auch nicht den Grundschulzeugnissen für den Kläger entnehmen. Von einer Isolation oder gar einem vollständigen Rückzug des Klägers aus dem Schulgeschehen kann nach ihnen keine Rede sein.
Dennoch ist die Kammer vor allem aufgrund der Vernehmung der sachverständigen Zeugin M. -N. zu der Überzeugung gelangt, dass beim Kläger im Oktober 2005 eine Teilhabegefährdung drohte. Im wesentlichen folgt dies aus der von der Zeugin diagnostizierten Anpassungsstörung des Klägers und der Untermauerung dieser Diagnose bei der Vernehmung der mündlichen Verhandlung. Aus ihr ergibt sich die Beeinträchtigung der sozialen Funktionsfähigkeit des Klägers.
Die sachverständige Zeugin diagnostizierte in ihrer fachärztlichen Stellungnahme vom 5. Juli 2005 beim Kläger eine Anpassungsstörung, die sich durch die Legasthenie bedingten besonderen Misserfolgserfahrungen verstärke. Eine solche Anpassungsstörung ist nach ICD-10 F 43.2 als Krankheit klassifiziert. Die sachverständige Zeugin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung ihre Diagnose untermauert. Sie hat zunächst allgemein bekundet, eine Anpassungsstörung sei eine gefühlsmäßige Beeinträchtigung durch Lebensereignisse. Eine solche Störung sei beim Kläger aufgetreten und Anlass für seine Vorstellung bei ihr gewesen. Es habe in der Schule eine Schlägerei gegeben und A. habe ein anderes Kind gewürgt. Dieser "Ausraster" sei kein Einzelfall gewesen. Ihr sei von anderen derartigen Ereignissen sowohl von der Mutter des Klägers als auch von seinem Klassenlehrer berichtet worden. Beim Kläger, den sie in der Testsituation eher als überangepasst, auf jeden Fall nicht als aggressiv erfahren habe, habe sich diese Anpassungsstörung so ausgewirkt, dass er auf subjektive Belastungen zunächst lange Zeit nicht reagiert habe, dann aber plötzlich sehr wütend geworden sei. Ein solcher Wutanfall sei Anlass für das geschilderte Ausrasten in der Schule gewesen. Die gefühlsmäßige Beeinträchtigung, die zu dieser Anpassungsstörung beim Kläger geführt habe, sei nicht allein die Trennung seiner Eltern Anfang 2005 gewesen, sondern maßgeblich auch seine, von ihr erstmals diagnostizierte, Legasthenie. Zwar hat sich die sachverständige Zeugin nicht festlegen können und wollen, welche gefühlsmäßige Beeinträchtigung hauptursächlich für die Anpassungsstörung des Klägers ist, sie hat jedoch, was sein Verhalten in der Schule betrifft, die Legasthenie als im Vordergrund stehend bezeichnet. Zusammenfassend lässt sich aus der Zeugenvernehmung schließen, dass die legastheniebedingten Misserfolgserlebnisse des Klägers, der in Anbetracht seiner überdurchschnittlichen Intelligenz weitaus bessere schulische Ergebnisse erzielen könnte und müsste, bei ihm zu einem Aufstauen der Gefühle führt, bis sich dann irgendwann, durch ein noch so nichtiges Ereignis dieser Stau durch einen Wutanfall mit Gefährdung für die Gesundheit seiner Mitschüler Bahn bricht. Die sachverständige Zeugin hat nachvollziehbar und glaubwürdig bekundet, dass die Beteiligten, Schule und Elternhaus, bis zu ihrer Diagnose der Legasthenie unzutreffend davon ausgegangen waren, dass die Ursache für das sozial inadäquate Verhalten des Klägers in der Trennung seiner Eltern gelegen habe. Ohne die Ursachen für das Verhalten gekannt zu haben, haben die Eltern des Klägers im Elternfragebogen so auch angegeben, ihr Sohn reagiere zornig und wütend, wenn er sich ungerecht behandelt vorkomme. Bestätigung findet die Diagnose der sachverständigen Zeugin M. -N. mittelbar auch dadurch, dass der Kläger ausweislich der Bekundung seines Vaters in der mündlichen Verhandlung bei Jiu Jitsu seine Aggressionen unter Kontrolle habe und dort akzeptiert sei. Denn hier erfolgt das Ausleben von Aggressionen nach festen Regeln, deren Einhaltung durchgesetzt wird. Bestätigt wird die Diagnose der Anpassungsstörung zudem durch die von den Eltern des Klägers von Anfang an bekundeten körperlichen Beschwerden ihres Sohnes vor einem Diktat oder einer Englischarbeit. In Kombination mit dem vom Vater des Klägers ebenfalls glaubhaft und nachvollziehbar geschilderten Hänseln seitens seiner Mitschüler, dem Umstand, dass er sich zum Klassenkasper macht und einem zunehmenden Rückzug aus sozialen Kontakten, wie ihn seine Mutter überzeugend geschildert hat, kann für den Kläger angenommen werden, dass sich bei ihm immer wieder ein derartiger Gefühlsstau entwickelt. Folglich ist die Aussage der sachverständigen Zeugin nachvollziehbar, dass bei einer Legasthenie über einen längeren Zeitraum durch stete Misserfolgserlebnisse mit wechselnd stark ausgeprägten Phasen mit erheblichen gefühlsmäßigen Beeinträchtigungen zu rechnen sei und solche Beeinträchtigungen bei ihren Untersuchungen auch aufgetreten seien.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht damit fest, dass die diagnostizierte Legasthenie im schulischen Verhalten des Klägers infolge ständiger Misserfolgserlebnisse Ursache für regelmäßig wiederkehrende Wutausbrüche gegenüber Mitschülern oder ggf. auch Lehrern ist. Ist dem aber so, droht dem Kläger eine Gefährdung seiner Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Denn zwangsläufig führt ein derartiges dissoziales Verhalten zu einer Isolation des Klägers innerhalb der Schulgemeinschaft. Entsprechend hat die Mutter des Klägers bei ihrer informatorischen Befragung auch bekundet, die Spielkameraden ihres Sohnes würden sich von ihm zurückziehen, weil er immer sehr übermütig sei und gewinnen und sich behaupten wolle. Es kommt mithin in diesem Fall der diagnostizierten Anpassungsstörung für die Annahme einer Teilhabegefährdung nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Kläger bereits eine Schulphobie oder eine totale Schul- und Lernverweigerung mit Rückzug aus jedem sozialen Kontakt gezeigt hat. Entscheidend ist vielmehr, dass dem Kläger infolge seiner Anpassungsstörung und seiner plötzlich auftretenden Wutanfälle im Sinne einer Beeinträchtigung der sozialen Funktionsfähigkeit eine Isolierung in der Schule droht und dass diese Gefahr maßgeblich mit durch die Legasthenie verursacht ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.