Sozialgericht Osnabrück
Beschl. v. 13.05.2019, Az.: S 4 SO 51/19 ER
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 13.05.2019
- Aktenzeichen
- S 4 SO 51/19 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 19185
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichten, dem Antragsteller Leistungen der Eingliederungshilfe für die ab Sommer 2019 angestrebte Unterbringung im Stift I. zu bewilligen. Für die Zeit vom 18. April 2019 bis zur Aufnahme im Stift I. wird die Beigeladene zu 2) im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Familienpflege zu bewilligen. Der Antragsgegner und die Beigeladene zu 2) haben die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers je zur Hälfte zu erstatten.
Gründe
I. Der Antragsteller begehrt vom Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe. Der Antragsteller ist am 3. Oktober 2000 geboren. Beim Kläger bestehen eine allgemeine Entwicklungsstörung, eine geistige Behinderung, eine Verhaltensstörung und eine wiederkehrende Bewusstseinsstörung, eine Sehbehinderung und ein Asthma bronchiale. Ab 1. September 2003 waren für ihn ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen G, B und H festgestellt. Ab 11. Mai 2016 ist ein GdB von 100 festgestellt. Darüber hinaus erhält der Antragsteller Pflegegeld unter Berücksichtigung des Pflegegrades 4. Nach seiner Geburt lebte der Antragsteller zunächst mit seinen leiblichen Eltern in G. Im Jahr 2003 wurde der Antragsteller wegen Vernachlässigung aus der Familie genommen und durch das Jugendamt der Stadt G. am 10. September 2003 in seine jetzige Pflegefamilie gegeben. Die Betreuung erfolgt durch den Verbund J. als freiem Träger der Jugendhilfe. Die Pflegefamilie BC. lebte zunächst in K. im Kreis L. Dementsprechend war das Jugendamt des Kreises L. zum Amtsvormund bestellt worden. Ergänzend bestand eine Vormundschaft der Pflegeeltern für den Wirkungskreis der Gesundheitsfürsorge. Seit dem 30. September 2016 ist die Vormundschaft insgesamt auf die Pflegeeltern übertragen. Im Laufe des Aufenthalts in der Pflegefamilie zeigte sich, dass der Antragsteller in der Ursprungsfamilie nicht nur vernachlässigt worden war, sondern auch eine geistige Behinderung besteht. Die entsprechende Feststellung erfolgte am 10. Mai 2007. Auf den Antrag des Kreises L. erkannte die Stadt G. - die Beigeladene zu 2) - rückwirkend zum 9. August 2009 ihre Zuständigkeit nach § 54 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) an und erstattete dem Kreis L. die Kosten der erbrachten Leistungen. Die Fallübernahme erfolgte zum 1. August 2016. Am 8. Juli 2016 zog der Antragsteller mit seiner Pflegefamilie nach A-Stadt im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners. Erstmals per E-Mail vom 5. April 2018 bat die Stadt G. beim Beigeladenen zu 1) als überörtlichem Sozialhilfeträger um Klärung der Zuständigkeit für die Zeit ab dem 18. Geburtstag des Antragstellers. Dieser ging davon aus, dass wieder seine Zuständigkeit noch die Zuständigkeit der Stadt G. bestehe, sondern dass der Antragsgegner im Rahmen der Altfallregelung nach § 98 Abs. 5 Satz 2 SGB XII aufgrund des tatsächlichen Aufenthaltes zuständig sei. Mit Schreiben vom 17. Mai 2018 - beim Antragsgegner eingegangen am 28. Mai 2018 - beantragten die Pflegeeltern des Antragstellers die Übernahme der Kosten für die weitere Unterbringung in einer Pflegefamilie. Per E-Mail vom 22. Juni 2018 wandte sich der Antragsgegner an die Stadt G. und teilte mit, dass er die Einschätzung des Beigeladenen zu 1) zur Zuständigkeit nicht teile. Denn der Antragsteller sei vor dem 1. Januar 2005 nach § 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) im Rahmen einer Vollzeitpflege untergebracht gewesen. Dabei habe es sich nach den Wertungen des Jugendhilferechts um eine stationäre Maßnahme und nicht um eine ambulante Maßnahme, wie im Sozialhilferecht, gehandelt. Entsprechend liege die Zuständigkeit über den 18. Geburtstag des Antragstellers hinaus weiterhin bei einem der Beigeladenen. Im Übrigen, so ergänzte der Antragsgegner mit Schreiben vom 4. September 2018, sei dem Beigeladenen zu 1) der Fall bereits im April 2018 bekannt geworden, so dass er als ersteingegangener Träger vorläufig leistungspflichtig sei. Zunächst gegenüber dem Antragsgegner per E-Mail vom 2. Oktober 2018 und sodann mit Bescheid vom 30. Oktober 2018 gegenüber den Pflegeeltern gab die Beigeladene zu 2) ein Kostenanerkenntnis für die Zeit bis zum 31. Dezember 2018 ab. Zahlungen erfolgten bis zum 31. Januar 2019. Am 22. Januar 2019 wurde dem Antragsgegner bekannt, dass sich der Antragsteller um die Aufnahme in einem Wohnheim bemühe. Am 15. April 2019 beantragte der Antragsteller über seine Prozessbevollmächtigte die Übernahme der Kosten für einen Wohnheimplatz im Stift I.; bis zum Einzug werde er in der Pflegefamilie verbleiben. Diesen Antrag leitete der Antragsgegner mit Schreiben vom 16. April 2019 an den Beigeladenen zu 1) weiter. Am 18. April 2019 suchte der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nach, sowohl für die aktuelle Unterbringung in der Pflegefamilie als auch für die vorgesehene Wohnheimaufnahme. Mit Beschluss vom 23. April 2019 hat das Gericht den Landschaftsverband F. und die Stadt G. notwendig beigeladen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner, hilfsweise den Beigeladenen zu 1) oder die Beigeladene zu 2) im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen der Eingliederungshilfe für die Unterbringung im Stift I. und für die Zeit bis dahin für den Aufenthalt in der Pflegefamilie BC. in A-Stadt zu bewilligen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Er hält sich weiterhin nicht für zuständig. Der Beigeladene zu 1) habe sich überdies das Handeln der Beigeladenen zu 2) zurechnen zu lassen. Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt. Sie haben aber mitgeteilt, dass nach ihrer Ansicht nach dem 18. Geburtstag des Antragstellers der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich sei, der im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners liege. Dieser sei überdies auch erstangegangener Träger, da in der Anfrage des VSE kein Antrag zu sehen sei. Der Antrag vom Mai 2018 sei zudem nicht rechtzeitig weitergeleitet worden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge der beteiligten verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung der Kammer gewesen.
II. Der zulässige Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist im Sinne einer Verpflichtung der Beigeladenen zu 2) und des Antragsgegners begründet. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch ein Anordnungsanspruch (d. h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). 1. Leistungen können allerdings erst für die Zeit ab Einleitung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens am 18. April 2019 zugesprochen werden. Ein Nachholbedarf für die Zeit vom 1. Februar 2019 bis zum 17. April 2019 ist nicht vorgetragen und nicht ersichtlich. 2. Hinsichtlich der Eilbedürftigkeit geht die Kammer von einem glaubhaft gemachten Anordnungsgrund aus. Die Eilbedürftigkeit ist für die weitere Unterbringung in der Pflegefamilie offensichtlich; aber auch für die angestrebte Unterbringung im Stift I. geht die Kammer von einer Eilbedürftigkeit aus, da ohne einen zuständigen Leistungsträger eine entsprechende Unterbringung im Sommer 2019 nicht erfolgen kann. 1. Für den Anordnungsanspruch legt die Kammer folgende Erwägungen zugrunde: a) Für die Unterbringung im Stift I. ist der Antragsgegner der vorläufig zuständige Leistungsträger. § 14 Abs. 1 Satz 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) greift vorliegend nicht ein, da der Antragsgegner "den Antrag" nicht fristgerecht innerhalb von 14 Tagen an den Beigeladenen zu 1) weitergeleitet hat. Zwar findet § 14 SGB IX findet Anwendung, da es sich bei der Kostenübernahme für den Wohnheimplatz im Stift I. um eine Leistung zur Teilhabe im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX und zugleich um eine Leistung der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX (vgl. Luthe, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 55 SGB IX, Rn. 44) handelt. Allerdings hatte der Antragsgegner bereits am 22. Januar 2019 Kenntnis davon, dass der Antragsteller eine stationäre Einrichtung suche. Dies reicht nach Ansicht der Kammer für eine Kenntnis aus. Auf die Antragstellung vom 15. April 2019 durch die Rechtsanwältin der Pflegeeltern unter Vorlage einer Vollmacht der Pflegeeltern kann es - nach dem derzeitigen Akteninhalt - nicht ankommen, weil der Antragsteller volljährig geworden ist und damit die Vormundschaft der Eheleute BC. geendet hat. Eine gesetzliche Betreuung ist nach derzeitigem Stand der Akten nicht nachgewiesen. Insofern muss aber nach § 14 Abs. 4 Satz 2 SGB IX auf die Kenntnis des Antragsgegners vom Rehabilitationsbedarf abgestellt werden, die am 22. Januar 2019 vorgelegen hat. Auf die Einschätzung zur Zuständigkeit kommt es diesbezüglich nicht an. Hinzu kommt - und das stellt eine selbständig tragende Erwägung der Kammer dar -, dass sowohl der tatsächliche als auch der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers mit dem 18. Geburtstag im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners liegen. Das ist für den tatsächlichen Aufenthalt offensichtlich. Für den gewöhnlichen Aufenthalt ist zu berücksichtigen, dass ein solcher durch den Antragsteller bis zu seinem 18. Lebensjahr auch nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) nicht begründet werden konnte. Das ist nämlich nach §§ 109, 104 und 97 Abs. 2 BSHG ausgeschlossen, solange der Antragsteller von "Jugendlicher" gewesen ist (vgl. dazu statt aller Schoch, in Bieritz-Harder u.a., SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 107 Rn. 5). Eine entsprechende Regelung findet sich auch in §§ 109, 107, 98 Abs. 2 SGB XII. Dass insofern die Qualifizierung des Aufenthalts in der Pflegefamilie als stationärer Einrichtung im Sinne des Jugendhilferechts fortwirkt, hält die Kammer in Anbetracht der zwischenzeitlich erfolgten ausdrücklichen Regelung der Familienpflege im Sozialhilferecht für ausgeschlossen. Dementsprechend liegt auch eine Leistungskette beim Wechsel vom ambulant zu stationär nicht vor. b) Für den Aufenthalt in der Pflegefamilie BC. bis zum Umzug in den Stift I. ist allerdings die Beigeladene zu 2) leistungspflichtig, da es sich bei der Unterbringung in der Pflegefamilie um eine einheitliche Leistung ohne qualitative Veränderung handelt (vgl. dazu Bundessozialgericht -BSG-, Terminbericht Nr. 15/19 vom 5. April 2019 zum Verfahren B 8 SO 11/17 R). Entsprechend kann es zumindest für das hiesige Eilverfahren nicht auf eine erneute Antragstellung ankommen. Für die Frage allerdings, ob sich die Kammer grundsätzlich von ihrer bisherigen, entgegenstehenden Rechtsprechung (Urteil vom 16. Januar 2018 - S 4 SO 58/13 -) lösen muss, wird der Volltext der Entscheidung abzuwarten sein. Für die fortbestehende Zuständigkeit der Beigeladenen zu 2) spricht zunächst die - unstreitig bis zum 18. Lebensjahr fortbestehende Zuständigkeit nach § 98 Abs. 5 Satz 2 SGB XII i.V.m. §§ 97 Abs. 2, 104 BSHG. Nach § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG war für die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung ist der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme hat oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat. Nach § 104 BSHG galt § 97 Abs. 2 BSHG entsprechend, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher in einer anderen Familie oder bei anderen Personen als bei seinen Eltern oder bei einem Elternteil untergebracht ist. Diese Vorschriften greifen indes nicht mehr ab der Vollendung des 18. Lebensjahres. Für diese Zeit hat die Beigeladene zu 2) indes eine Weiterleitung nach § 14 SGB IX nicht vorgenommen, sondern mit Bescheid vom 30. Oktober 2018 weiter Leistungen bewilligt. Damit ist sie auch weiterhin zuständig. Im Übrigen mag sie im Wege des Erstattungsanspruches nach § 14 SGB IX vorgehen, sei es gegen den Antragsgegner oder gegen den Beigeladenen zu 1). Dies ist aber nicht Sache des vorliegenden Eilverfahrens. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.