Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 05.06.2019, Az.: S 10 R 347/17

Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund der Tätigkeit als Unternehmensjurist i.R.d. Zulassung als Syndikusrechtsanwalt

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
05.06.2019
Aktenzeichen
S 10 R 347/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 20943
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstelle

  • FA 2019, 323

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 2018 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 9. März 2018 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin für die Zeit vom 1. November 2014 bis zum 30. März 2016 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien und die zu Unrecht gezahlten Beiträge zu erstatten. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht aufgrund ihrer Tätigkeit als Unternehmensjuristin für die Zeit vom 1. November 2014 bis zum 30. März 2016 einschließlich. Die Klägerin wurde am 14. Juni 2012 erstmalig als Rechtsanwältin zugelassen. Zu diesem Zeitpunkt war sie in einer Rechtsanwaltskanzlei angestellt. Zum 1. November 2014 nahm die Klägerin eine Tätigkeit als Unternehmensjuristin bei der E. AG auf. Nach einer später erstellten und von der Arbeitgeberin bestätigten Tätigkeitsbeschreibung war die Klägerin seit 1. November 2014 in der Rechtsabteilung des Konzerns, Gruppe Vertrieb, als Rechtsanwältin beschäftigt sei. Die fachliche Unabhängigkeit sei vertraglich und tatsächlich gewährleistet. Eventuell anderslautende Bestimmungen zur Weisungsgebundenheit der Arbeitnehmerin würden bezogen auf die anwaltliche Tätigkeit aufgehoben. Zu den weiteren Einzelheiten der Tätigkeitsbeschreibung wird auf die beigezogene Personalakte der Rechtsanwaltskammer F. verwiesen. Im Zusammenhang mit der Aufnahme dieser Tätigkeit verzichtete die Klägerin aufgrund der Urteile des Bundessozialgerichts vom 3. April 2014 - B 5 RE 13/14 R, B 5 RE 3/14 R und B 5 RE 9/14 R - auf die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Mit Bescheid vom 28. Oktober 2014 widerrief die zuständige Anwaltskammer die Zulassung und die Klägerin verzichtete auf Rechtsmittel. Nach Änderung der maßgeblichen Rechtsvorschriften beantragte die Klägerin bei der zuständigen Anwaltskammer am 31. März 2016 die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft als Syndikusanwältin. Am 1. April 2016 beantragte sie bei der Beklagten die auch rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht und die Erstattung der gezahlten Versicherungsbeiträge. Dazu legte sie eine Bestätigung des Rechtsanwaltsversorgungswerkes Niedersachsen vom 31. März 2016 vor, dass für sie aufgrund des Zulassungsverzichts für die Zeit seit dem 1. November 2014 eine auf Antrag fortgesetzte Mitgliedschaft bestehe und dass ab Beginn der Befreiung einkommensbezogene Pflichtbeiträge analog §§ 157 ff. SGB VI zu zahlen seien. Mit Schreiben vom 21. September 2016 stellte das Rechtsanwaltsversorgungswerk klar, dass die Klägerin in der Zeit vom 1. November 2014 bis zum 29. August 2016 freiwilliges Pflichtmitglied des Versorgungswerkes gewesen sei und satzungsgemäße Pflichtbeiträge gezahlt habe. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens bei der Rechtsanwaltskammer ist die Beklagte beteiligt worden. Einwände gegen die Zulassung als Syndikusanwältin für die im Arbeitsvertrag vom 13. Oktober 2014 mit Ergänzung vom 31. März 2016 bezeichnete Tätigkeit erhob die Beklagte in ihrem Schreiben vom 6. Juni 2016 ausdrücklich nicht. Am 19. August 2016 wurde die Klägerin als Syndikusanwältin zugelassen. Mit Bescheid vom 19. September 2016 befreite die Beklagte die Klägerin ab dem Zeitpunkt der Zulassung als Syndikusanwältin am 19. August 2016 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Arbeitsverhältnis ist zum 1. November 2016 entfristet worden. Auch über diese Änderung ist die Beklagte mit Schreiben vom 5. Oktober 2016 durch die Rechtsanwaltskammer informiert worden. Da die Zulassung als Syndikusrechtsanwältin tätigkeitsbezogen erfolgt sei, erstrecke sie sich auch auf das entfristete Arbeitsverhältnis. Mit Bescheid vom 18. Januar 2017 lehnte die Beklagte die rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht ab, da die Klägerin weder Pflichtmitglied in der berufsständischen Versorgungseinrichtung noch überhaupt zur Rechtsanwaltschaft zugelassen gewesen sei. Aus diesem Grunde komme auch die begehrte Erstattung der Pflichtbeiträge nicht in Betracht. Dagegen hat die Klägerin am 8. Februar 2017 Widerspruch erhoben, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 2017 als unbegründet zurückgewiesen hat. Die Klägerin hat am 6. Juli 2017 Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Insbesondere sei es ihr vor dem 1. Januar 2016 nicht möglich gewesen, als Rechtsanwältin zugelassen und Pflichtmitglied des Versorgungswerkes zu bleiben. Mit Bescheid vom 12. Juli 2017 hat die B. die Zulassung rückwirkend zum 31. März 2016 - dem Antragsdatum - erteilt. Mit Bescheid vom 9. März 2018 hat die Beklagte die rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht für die Zeit ab dem 31. März 2016 - dem Zeitpunkt der Zulassung als Syndikusanwältin - erteilt.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 2018 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 9. März 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin für die Zeit vom 1. November 2014 bis zum 30. März 2016 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien und die zu Unrecht gezahlten Beiträge zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass nach § 231 Abs. 4 b Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) für eine rückwirkende Befreiung von der Versicherungspflicht für Zeiten vor Zulassung als Syndikusanwältin nicht nur ein entsprechender Antrag und eine fortbestehende Tätigkeit erforderlich seien, sondern auch die Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk und die Zahlung einkommensgerechter Beiträge. Eine Pflichtmitgliedschaft lasse sich nicht nach § 231 Abs. 4 c SGB VI fingieren, da diese Vorschrift nur für Syndikusanwälte gelte, die nach der Gesetzesänderung zum 1. Januar 2016 aus Altersgründen nicht mehr Pflichtmitglied eines Versorgungswerkes hätten werden können. Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt, die Klägerin mit Schriftsatz vom 4. April 2018 und die Beklagte mit Schriftsatz vom 17. Mai 2018. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Vorgelegten Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die beigezogenen Personalakten der Rechtsanwaltskammer F. verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung der Kammer gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) entscheiden. Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat für die nunmehr nur noch streitgegenständliche Zeit vom 1. November 2014 bis zum 30. März 2016 Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und Erstattung der zu Unrecht gezahlten Beträge. Der Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Juni 2018 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 9. März 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung besteht nach § 1 Satz 1 Nr. 1 Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI werden Beschäftigte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, unter bestimmten Voraussetzungen von der Versicherungspflicht werden befreit. Als Sonderregelung dazu bestimmt § 231 Abs. 4 b Satz 1 SGB VI, dass eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikusrechtsanwalt nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, die unter Berücksichtigung der Bundesrechtsanwaltsordnung in der ab dem 1. Januar 2016 geltenden Fassung erteilt wurde, auf Antrag vom Beginn derjenigen Beschäftigung an wirkt, für die die Befreiung von der Versicherungspflicht erteilt wird. Sie wirkt auch vom Beginn davor liegender Beschäftigungen an, wenn während dieser Beschäftigungen eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk bestand (§ 231 Abs. 4 b Satz 2 SGB VI). Die Befreiung nach den Sätzen 1 und 2 wirkt frühestens ab dem 1. April 2014 (§ 231 Abs. 4 b Satz 3 SGB VI). Die Befreiung wirkt jedoch auch für Zeiten vor dem 1. April 2014, wenn für diese Zeiten einkommensbezogene Pflichtbeiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk gezahlt wurden (§ 231 Abs. 4 b Satz 4 SGB VI). Die Sätze 1 bis 4 gelten nicht für Beschäftigungen, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Syndikusrechtsanwalt auf Grund einer vor dem 4. April 2014 ergangenen Entscheidung bestandskräftig abgelehnt wurde (§ 231 Abs. 4 b Satz 5 SGB VI). Der Antrag auf rückwirkende Befreiung nach den Sätzen 1 und 2 kann nur bis zum Ablauf des 1. April 2016 gestellt werden (§ 231 Abs. 4 b Satz 6 SGB VI). Dementsprechend hat die Klägerin bereits nach § 231 Abs. 4 b Satz 1 nicht nur Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht ab dem Zeitpunkt der Zulassung als Syndikusanwältin am 31. März 2016, sondern bereits ab Beginn der Beschäftigung am 1. November 2014. Es handelt sich - wie die Beklagte letztlich auch mit ihrem Bescheid vom 9. März 2018 bestätigt hat - um die gleiche Beschäftigung. Die weiteren Voraussetzungen nach § 231 Abs. 4 b Sätze 5 und 6 SGB VI liegen vor, da eine bestandskräftige Ablehnung der Befreiung von der Versicherungspflicht nicht ergangen ist und die Klägerin den Antrag rechtzeitig am 1. April 2016 gestellt hat. Demgegenüber kommt es auf das Bestehen einer Pflichtmitgliedschaft in einem Versorgungswerk nicht an, da es sich nicht vor der bestehenden Beschäftigung liegende Beschäftigungen oder um Beschäftigungen vor dem 1. April 2014 handelt (§ 231 Abs. 4 b Sätze 2 und 4 SGB VI). Die Kammer schließt sich insofern ausdrücklich der Auffassung des Hessischen Landessozialgerichts (Hess. LSG, Urteil vom 14. Februar 2019 - L 1 KR 617/18 -, juris, Rn. 25 m.w.N.) an. Sie weist ergänzend darauf hin, dass nicht nur der Wortlaut des § 231 Abs. 4 b SGB VI für diese Lösung spricht, sondern auch die systematische Auslegung im unmittelbaren Zusammenhang mit § 231 Abs. 4 c SGB VI. Nach § 231 Abs. 4 c SGB VI gilt eine durch Gesetz angeordnete oder auf Gesetz beruhende Verpflichtung zur Mitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung im Sinne des § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 SGB VI als gegeben für Personen, die nach dem 3. April 2014 auf ihre Rechte aus der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verzichtet haben (Nr. 1) und die bis zum Ablauf des 1. April 2016 die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt nach der Bundesrechtsanwaltsordnung in der ab dem 1. Januar 2016 geltenden Fassung geltenden Fassung beantragen (Nr. 2). § 231 Abs. 4 c Satz 1 SGB VI gilt nur, solange die Personen als Syndikusrechtsanwalt zugelassen sind und als freiwilliges Mitglied in einem Versorgungswerk einkommensbezogene Beiträge zahlen; er gilt nicht, wenn vor dem 1. Januar 2016 infolge eines Ortswechsels der anwaltlichen Tätigkeit eine Pflichtmitgliedschaft in dem neu zuständigen berufsständischen Versorgungswerk wegen Überschreitens einer Altersgrenze nicht mehr begründet werden konnte. Die Fiktion des § 231 Abs. 4 c Satz 1 SGB VI soll bewirken, dass auch Syndikusanwälte vom Befreiungsrecht Gebrauch machen können, die angesichts der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ihre Zulassung zurückgegeben haben, bei der (Neu-)Zulassung nach neuem Recht gemäß der Satzung des zuständigen Versorgungswerkes jedoch aufgrund ihres Lebensalters - die Satzungen sehen in der Regel eine Altersgrenze von 45 Jahren vor - nicht mehr zur dortigen Pflichtversicherung berechtigt waren (so die Formulierung des Hess. LSG im Urteil vom 14. Februar 2019 - L 1 KR 617/18 -, juris, Rn. 29, m.w.N., auf die sich sinngemäß auch die Beklagte beruft). Eine solche Privilegierung ergibt indes nur vor dem Hintergrund Sinn, dass es für diejenigen, bei denen die Altersgrenze nicht problematisch ist, einer fortbestehenden Pflichtmitgliedschaft nicht bedarf. Ansonsten stellte die Privilegierung der älteren Syndikusanwälte eine nicht zu begründende Diskriminierung dar. Die Beitragserstattung erfolgt auf Grundlage des § 286 f Satz 1 SGB VI. Nach dieser Vorschrift werden Pflichtbeiträge, die auf Grund einer Befreiung nach § 231 Absatz 4b und 4d SGB VI zu Unrecht entrichtet wurden, abweichend von § 211 und abweichend von § 26 Absatz 3 des Vierten Buches von dem zuständigen Träger der Rentenversicherung beanstandet und unmittelbar an die zuständige berufsständische Versorgungseinrichtung erstattet. Der zunächst angekündigten Beiladung des Rechtsanwaltsversorgungswerkes G. nach § 75 Abs. 2 SGG bedurfte es nicht. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.