Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 11.02.2019, Az.: S 46 KR 83/18

Kostenerstattung für das selbst beschaffte verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel Cytotect CP zur Vermeidung einer Infektionserkrankung einer Versicherten bei ihrem ungeborenen Kind i.R.d. Primarinfektion mit Cytomegalieviren (CMV) in der Schwangerschaft

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
11.02.2019
Aktenzeichen
S 46 KR 83/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 62054
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid vom 01.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2018 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten für das Präparat Cytotect CP Biotest in Höhe von 2.917,85 EUR zu erstatten. Die notwendigen außergerichtlichen Kostend der Klägerin sind von der Beklagten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über eine Kostenerstattung für das selbst beschaffte, verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel Cytotect CP.

Die am B. geborene Klägerin infizierte sich während einer Schwangerschaft mit Cytomegalieviren (CMV) (nach ICD 10 GM: B25.88 Sonstige Zytomegalie). Auf den Laborbefund vom 28.11.2016 und den Bericht von Prof. Dr. X vom 24.12.2016 wird Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt am 22.12.2016 die Genehmigung einer Verordnung für den sog. "off label use" des Fertigarzneimittels Cytotect CP Biotest zur Vermeidung einer Infektionserkrankung bei ihrem ungeborenen Kind im Rahmen der Primarinfektion mit CM Viren in der Schwangerschaft. (Bei dem Medikament handelt es sich um eine verschreibungspflichtige Infusionslösung, die zur Prophylaxe klinischer Manifestationen einer Cytomegalie Virusinfektion unter immunsuppressiver Therapie zugelassen ist.) Sie bat darum, aufgrund des dringenden Therapiebedarfs, innerhalb von drei Tagen über den Antrag zu entscheiden.

Am 28.12.2016 erfolgte die Behandlung mit einer intravenösen Infusion des Präparats Cytotect CP Biotest im Rahmen eines "off label use" zur Vermeidung einer Infektionserkrankung bei dem ungeborenen Kind. Auf den Bericht von Dr. BG. vom 09.01.2017 wird Bezug genommen. Die nach dem Privatrezept vom 22.12.201627 entstandenen Kosten i. H. v. 2917,85 EUR wurden von der Klägerin am 27.12.2016 bezahlt.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 01.02.2017 den Antrag auf Kostenübernahme ab, da die Voraussetzungen eines "off label use" nicht erfüllt seien. Begründet wurde der Bescheid unter Bezugnahme auf das Gutachten des MDK vom 26.01.2017, nach dem keine Erkrankung der Mutter behandelt werde und auf Grund der Datenlage keine begründete Aussicht bestehe, dass mit dem Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen sei.

Die Klägerin legte mit Schreiben vom 17.02.2017 Widerspruch ein und begründete diesen ergänzende mit Schreiben vom 14.06.2017.

Das Kind der Klägerin wurde am 04.05.2017 gesund geboren.

Die Beklagte holte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens ein erneutes Gutachten vom 23.05.2017 ein, nach dem Cytotect weder durch das Paul-Ehrlich-Institut noch durch die European Agency for the Evaluation of Medical Products (EMA) für den bei der Klägerin verwendeten Zweck zugelassen sei. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.01.2018 zurück und begründete dieses damit, dass auch kein Anspruch nach § 2 Abs.1a Satz 1 SGB V bestehe, da nach den Feststellungen des MDK vom 26.01.2017 und 23.05.2017 kein erforderlicher Wirksamkeitsnachweis vorliege.

Die Klägerin hat am 22.02.2018 Klage erhoben. Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen eines Anspruchs nach den Grundsätzen eines "off label use" und die Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 2 Abs. 1a SGB V erfüllt seien. Es liege sehr wohl eine Erkrankung bzw. drohende Erkrankung vor, da Mutter und Kind als Einheit zu sehen seien. Die Klägerin nimmt diesbezüglich Bezug auf die Entscheidung vom BSG vom 24.01.1990 (3 RK 18/88). Zudem nimmt die Klägerin Bezug auf eine Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts vom 01.05.2016, nach der die Behandlung der Primärinfektion von Schwangeren mit spezifischen Cytomegalie-Immunglobulinen die klinische Manifestation der CMV-Infektion bei Neugeborenen verhindern könnte, dieses würden mehrere kleine Studien beweisen. Ferner nimmt die Klägerin Bezug auf Entscheidungen des SG Koblenz (vom 07.06.2013, S 8 KR 272/13 ER), des SG Düsseldorf (vom 07.05.2015, S 27 KR 734/13 und vom 28.12.2016, S 47 KR 708/13) sowie des SG München (vom 21.03.2018, S 7 KR 1723/15), auf einen Hinweis des Hessisches LSG (vom 30.09.2013, L 8 KR 84/12) und ein Protokoll des LSG NRW (vom 27.11.2018, L 1 KR 98/17 126). Schließlich nimmt die Klägerin Bezug auf die Pressemitteilung der Firma Biotest vom 15.08.2018.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 01.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für das Präparat Cytotect CP Biotest in Höhe von 2.917,85 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte nimmt im Wesentlichen Bezug auf die angefochtenen Bescheide und ist der Ansicht, dass keine Erkrankung der Klägerin vorliege, sondern es sich bei der streitgegenständlichen Behandlung um eine Vorsorgemaßnahme in Bezug auf den Embryo handele. Bezüglich weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die als Anfechtungs- und Leistungsklage zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 01.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.01.2018 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung von 2.917,85 EUR aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V sind Versicherten die Kosten für eine selbst beschaffte notwendige Leistung zu erstatten, die dadurch entstehen, dass die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Grundvoraussetzung eines Anspruchs nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V ist, dass ein sogenannter Primäranspruch, also ein Sach- oder Dienstleistungsanspruch des oder der Versicherten gegen die Krankenkasse besteht, weil der Erstattungsanspruch den durch Zweckerreichung erloschenen (primären) Sach- und Dienstleistungsanspruch ersetzt bzw. an dessen Stelle tritt (Helbig in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 13 SGB V, Rn. 39). Ferner ist Voraussetzung für einen Anspruch nach der ersten Alternative des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V, bei der die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig kann ist, dass die streitgegenständliche Leistung medizinisch so dringlich ist, dass die Entscheidung der Krankenkasse nicht abgewartet werden kann (BSG, 08.09.2015, B 1 KR 14/14 R, Rn. 15 nach Juris). Im vorliegenden Fall besteht ein Primäranspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem streitgegenständlichen Arzneimittel zudem handelte es sich dabei um eine unaufschiebbare Leistung. Die Klägerin hatte einen Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V auf Versorgung mit dem nicht für den in ihrem Fall verwendeten Behandlungszweck zugelassenen Fertigarzneimittel Cytotect CP. Ein direkter Anspruch aus § 27 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Satz 2 Nr. 3 SGB V, § 31 Abs. 1 SGB V scheidet aus, da Versicherte die Versorgung mit vertragsärztlich verordneten Fertigarzneimitteln grundsätzlich ungeachtet weiterer Einschränkung (vgl. §§ 31, 34 SGB V) nur beanspruchen können, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem sie angewendet werden sollen. Das ergibt sich daraus, dass aufgrund von Wirtschaftlichkeitserwägungen die Leistungspflicht der Krankenkassen für Arzneimittel ausgeschlossen ist, denen eine arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (BSG, 03.07.2012, B 1 KR 25/11 R). Das Medikament Cytotect CP ist bislang weder vom Paul-Ehrlich-Institut noch vom EMA für die Behandlung einer Primärinfektion mit CMV während der Schwangerschaft zugelassen. Anspruchsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V sind, dass bei Versicherten eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vorliegt, eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht und bezüglich der begehrten Leistung eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Zunächst handelt es sich bei der Infektion der Klägerin mit CMV um eine lebensbedrohliche oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung. Das ergibt sich daraus, dass eine Schädigung der Leibesfrucht einer Erkrankung der Mutter gleichsteht (vgl. LSG NRW, 10.03.2011, L 5 KR 177/10, Rn. 34 nach Juris und wenn auch in völligen anderem Zusammenhang BSG, 24.01.1990, 3 RK 18/88). Zudem ist es - auch dann, wenn man streng zwischen einer Erkrankung der Mutter und einer Erkrankung des Fötus differenzieren würde - nach Ansicht der Kammer ausreichend, dass eine Krankheit für das Leben des Fötus lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich ist oder dass es sich um eine für ihn wertungsmäßig vergleichbare Krankheit handelt, um von einer für die jeweilige Versicherte wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung auszugehen. Das ergibt sich aus staatlichen Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen menschlichen Leben aus Artikel 1 Abs. 1 GG i. V. m. Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, 28.05.1993, 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92). Bei einer Transmission des CMV auf den Fötus sind diese Voraussetzungen gegeben, d. h. bei der Primärinfektion mit CMV in der Schwangerschaft handelt es sich für den Fötus um eine lebensbedrohliche Erkrankung oder zumindest um eine damit wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung. Bei Kindern, die während der Schwangerschaft durch eine Erstinfektion der Mutter mit HCMV infiziert wurden, können Wachstumsverzögerungen, Mikrozephalie, geistige Behinderung und besonders Hörschäden entstehen. Des Weiteren werden neurologische Spätfolgen beobachtet. Das Risiko einer Übertragung an den Fetus beträgt bei Erstinfektion der Schwangeren im ersten Trimenon ca. 20 %, wobei über 50 % dieser Kinder schwere dauerhafte Schäden davontragen. Im dritten Trimenon ist die Übertragungswahrscheinlichkeit mit ca. 80 % deutlich höher, wobei Schädigungen des Fötus zu diesem Zeitpunkt bisher nicht sicher beobachtet wurden. (Robert Koch Institut in: RKI-Ratgeber für Ärzte. 20. Januar 2014, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber Zytomegalievirus.html zuletzt aufgerufen am 08.02.2019). Nach dem MSD Manual haben symptomatische Neugeborene eine Mortalität von bis zu 30%. 40 - 90% der Überlebenden weisen neurologische Defizite wie Hörverlust, geistige Behinderung und Sehstörungen auf. Unter asymptomatischen Neugeborenen, entwickeln 5-15% schließlich neurologische Folgeerscheinungen; Hörverlust ist davon die häufigste. (siehe: https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/pädiatrie/infektionen-des-neugeborenen/kongenitale-und-perinatale-zytomegalievirusinfektion-cmv (zuletzt am 08.02.2019 aufgerufen). Eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung steht nicht zur Verfügung. Schließlich besteht bezüglich der begehrten Leistung eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Das ergibt sich aus der Stellungnahme des C. -Instituts vom 01.05.2016 nach der auf eine Anfrage des Sozialgerichts Köln zum Zulassungsstatus von Cytotect mitgeteilt wurde, dass die Behandlung der Primärinfektion von Schwangeren mit Cytotect CP, das ein spezifisches Cytomegalie-Immunglobulinen enthalte, die klinische Manifestation der CMV-Infektion bei Neugeborenen verhindern könnte. Darauf würden mehrere kleine Studien hinweisen. Zudem deutet auch die Pressemitteilung der Firma Biotest vom 15.08.2018 auf dieses Ergebnis hin, nach der eine Studie der Universität Tübingen ergeben habe, dass durch Cytotect CP eine starke Reduktion der Transmissionsraten des CMV auf den Fötus von 35,2 % auf 2,5 % erreicht werden könnte und zudem die Anwendung bis zur 20. Schwangerschaftswoche sicher sei. Ein Anspruch nach den Grundsätzen eines sog. "Off-Label-Use" besteht hingegen zumindest momentan nicht. Ein "Off-Label-Use" zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung kommt danach in Betracht, wenn das einzusetzende Arzneimittel generell arzneimittelrechtlich verkehrsfähig ist, es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (Beck/Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 31 SGB V, Rn. 45). Damit eine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. (Beck/Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 31 SGB V, Rn. 45). Hinsichtlich der Verwendung des Präparats Cytotect CP Biotest zur Vermeidung einer Infektionserkrankung mit CMV bei einem ungeborenen Kind im Rahmen einer Primarinfektion in der Schwangerschaft liegen solche Erkenntnisse bislang nicht vor. Die Kammer weist darauf hin, dass die Phase III Studie nach Informationen auf der Internetseite https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01376778 (zuletzt am 08.02.2019 aufgerufen) voraussichtlich erst im August 2021 beendet sein wird. Neben dem erforderlichen Primäranspruch sind auch die weiteren Erstattungsvoraussetzungen des § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V erfüllt. Es handelte sich um eine unaufschiebbare Leistung. Diese konnte von der Beklagten nicht rechtzeitig erbracht werden. Die Klägerin beschaffte sich die streitgegenständliche Leistung durch Einlösung der Privatrezeptes am 27.12.2016 und ließ sich am 28.12.2016 mit einer intravenösen Infusion des Präparats Cytotect CP Biotest behandeln. Die Kammer weist darauf hin, dass der Zinsanspruch sich aus § 44 Abs. 1 SGB I ergibt. Die Kostenentscheidung ergeht aus § 193 SGG.