Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.12.2005, Az.: 12 ME 422/05

Anspruch; Aufnahme; Behinderter; Behinderung; Besuch; Betreuung; Einrichtung; Gruppe; heilpädagogischer Sonderkindergarten; Integration; Integrationsgruppe; integrative Kindergartengruppe; Kind; Kindergarten; Kindergartengruppe; Kindergartenplatz; Kosten; Kostenübernahme; Platz; Regelgruppe; teilstationäre Einrichtung; wesentlich behindertes Kind; wesentliche Behinderung; Übernahme

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.12.2005
Aktenzeichen
12 ME 422/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 51062
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 26.08.2005 - AZ: 4 B 1528/05
nachfolgend
BVerfG - 10.02.2006 - AZ: 1 BvR 91/06

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Der Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens beschränkt sich bei wesentlich behinderten Kindern, die den Tatbestand des § 12 Abs. 2 Nds. KiTaG erfüllen, auf einen Platz in einer teilstationären Einrichtung.

2. § 3 Abs. 6 Satz 1 Nds. KitaG vermittelt wesentlich behinderten Kindern i. S. der Vorschrift keinen jederzeit durchsetzbaren Anspruch auf eine gemeinsame Betreuung mit nichtbehinderten Kindern in einer integrativen Kindergartengruppe.

Gründe

1

Die Antragstellerinnen sind im Jahr 2001 geborene Zwillinge. Sie leiden an einer Osteogenesis imperfecta. Das Verwaltungsgericht hat mit dem angegriffenen Beschluss ihren Antrag abgelehnt, die Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie mit Beginn des Kindergartenjahres 2005/2006 in die Integrationsgruppe des Kindergartens H. der Antragsgegnerin zu 1) aufzunehmen und die Kosten der Integration zu übernehmen.

2

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seines Beschlusses ausgeführt, die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO lägen nicht vor. Die Antragstellerinnen hätten den erforderlichen Anordnungsanspruch auf ihre Aufnahme in die Integrationsgruppe des Kindergartens und Kostenübernahme nicht glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin zu 1) sei schon nicht passivlegitimiert, weil sich der Anspruch auf einen Kindergartenplatz nach § 12 KiTaG gegen den örtlichen Träger der Jugendhilfe richte. Dies sei der Antragsgegner zu 2). Das Begehren habe aber auch gegen den Antragsgegner zu 2) keinen Erfolg. Die Antragstellerinnen seien unstreitig körperlich wesentlich behindert. Ihr Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz richte sich daher nach § 12 Abs. 2 KiTaG, d. h. auf einen Platz in einer teilstationären Einrichtung. Zu den teilstationären Einrichtungen dieser Vorschrift gehörten neben Sonderkindergärten auch Kindergärten, die – wie hier der Kindergarten H. mit einer Gruppe – als integrative Einrichtung zur gemeinsamen Betreuung von behinderten und nichtbehinderten Kindern eingerichtet und vom Landesjugendamt genehmigt seien. Eine Aufnahme der Antragstellerinnen in die vorhandene Integrationsgruppe des in Rede stehenden Kindergartens sei derzeit nicht möglich, weil die vier Plätze für behinderte Kinder besetzt seien. Die Antragstellerinnen könnten im vorläufigen Rechtsschutzverfahren auch nicht verlangen, dass die für das Betreuungsjahr 2006/2007 geplante zweite Integrationsgruppe schon jetzt geschaffen werde. Die dafür erforderlichen personellen, baulichen und organisatorischen Voraussetzungen seien nicht gegeben. Den Antragstellerinnen sei es zuzumuten, den von ihrem Wohnort nur 11 km entfernten Sonderkindergarten in I. zu besuchen.

3

Die dagegen eingelegte Beschwerde der Antragstellerinnen, über die der Senat gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG unter allen in Betracht kommenden rechtlichen – auch rechtswegfremden - Gesichtspunkten nach Maßgabe der Besonderheiten des Beschwerderechts (§ 146 Abs. 4 VwGO) zu entscheiden hat, hat keinen Erfolg.

4

Die Beschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Antragsgegnerin zu 1) richtet. Sie genügt insoweit nicht den Anforderungen gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Denn sie setzt sich nicht mit der vom Verwaltungsgericht vertretenen und in der Sache zutreffenden Auffassung auseinander, dass die Antragsgegnerin zu 1) in bezug auf die Geltendmachung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz nicht passivlegitimiert ist (vgl. auch Beschluss des 4. Senats des Gerichts vom 27.11.1996 – 4 M 4787/96 -, FEVS 47, 248).

5

Die gegen den Antragsgegner zu 2) gerichtete Beschwerde ist zulässig. Soweit die Antragstellerinnen ihr Begehren umgestellt und nunmehr auf die Aufnahme in eine Regelgruppe des Kindergartens J. gerichtet haben, hilfsweise mit persönlicher Assistenz, hilfsweise im Rahmen der Einzelintegration und weiterhin hilfsweise auf eine Aufnahme in die dortige Integrationsgruppe, handelt es sich um eine Antragsänderung, die – auch im zweiten Rechtszug – gemäß § 91 Abs. 1 VwGO (analog) zulässig ist. Der Antragsgegner zu 2) hat sich rügelos zu dem geänderten Antragsbegehren sachlich eingelassen und damit in die Änderung des Antrags konkludent eingewilligt (§ 91 Abs. 2 VwGO analog). Im übrigen trägt die Änderung des Antrags zur Vermeidung eines weiteren Rechtsstreits zwischen den Beteiligten bei und ist deshalb als sachdienlich anzusehen.

6

Die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens, auf dessen Überprüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber dem Antragsgegner zu 2) nicht vor, weil die Antragstellerinnen einen Anordnungsanspruch für ihr geändertes Begehren nicht glaubhaft gemacht haben.

7

Die Antragstellerinnen haben nach derzeitigen Erkenntnisstand, d. h. bei summarischer Prüfung des Sach- und Streitstandes, weder einen Anspruch auf Aufnahme in die Regelgruppe des Kindergartens H. – auch nicht unter Berücksichtigung der hilfsweise formulierten Einschränkungen – noch einen Anspruch auf Aufnahme in die dortige Integrationsgruppe. Den inzwischen vier Jahre alten Antragstellerinnen steht gemäß § 24 SGB VIII zwar ein Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens zu. Der Anspruch besteht aber nicht uneingeschränkt, vielmehr unterliegt er gemäß § 26 SGB VIII dem Vorbehalt des Landesrechts, d. h. § 12 KiTaG (i.d.F. der Bekanntmachung vom 7.2.2002, Nds.GVBl. S. 52, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.6.2005, Nds. GVBl. S. 207). Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 KiTaG hat grundsätzlich jedes Kind nach Maßgabe des § 24 SGB VIII einen Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Kinder, die wesentlich behindert im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und leistungsberechtigt gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII sind und infolge ihrer Behinderung der Hilfe in einer teilstationären Einrichtung bedürfen, haben nach der Sonderregelung in § 12 Abs. 2 KiTaG allerdings (nur) einen Anspruch auf einen Platz in einer solchen Einrichtung (vgl. Klügel/Reckmann, Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder in Niedersachsen, 4. Aufl.2004, § 12 Anm. 22; Göke, Nds.VBl. 1998, 134, 136).

8

Nach gegenwärtiger Erkenntnislage müssen die Antragstellerinnen sich auf einen Platz in einer teilstationären Einrichtung gemäß § 12 Abs. 2 KiTaG verweisen lassen. Sie leiden an einer Osteogenesis imperfecta, d. h. an einer Erkrankung, die nach ihren eigenen Angaben und den von ihnen vorgelegten Unterlagen (Bescheinigungen des Universitätsklinikums K. vom 9.9.2005, des Diakoniekrankenhauses L. vom 12.9.2005 und des Facharztes für Allgemeinmedizin M. vom 19.9.2005) durch eine erhöhte Brüchigkeit der Knochen und eine erhöhte Neigung zur Knochenverformung gekennzeichnet und vor allem in den ersten Lebensjahren ausgeprägt ist (sogenannte Glasknochenkrankheit). Der Senat teilt im vorliegenden Verfahren die Einschätzung beider Antragsgegner, dass es sich bei der Erkrankung um eine körperlich wesentliche Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX handelt und die Antragstellerinnen leistungsberechtigt gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII sind. Für diese Annahme spricht schon, dass die Antragstellerinnen als schwerpflegebedürftig i.S.v. § 15 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI (Pflegestufe II) eingestuft sind. Die Antragstellerinnen sind bisher auch selbst von einer bei ihnen vorliegenden wesentlichen körperlichen Behinderung ausgegangen, wie sich z.B. anhand ihres Aufnahmeantrags für einen Integrationsplatz im Kindergarten H. vom 21. Januar 2005 und ihres Antrags auf Einzelintegration als Maßnahme der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe vom 28. April 2005 gezeigt hat.

9

Entgegen dem Beschwerdevorbringen geht der Senat weiterhin davon aus, dass die Antragstellerinnen wegen ihrer Behinderung der Hilfe in einer teilstationären Einrichtung bedürfen, wobei zu den teilstationären Einrichtungen grundsätzlich auch vom Landesjugendamt genehmigte integrative Gruppen in einem Regelkindergarten wie hier dem Kindergarten H. gehören (vgl. Klügel/Reckmann, a.a.O.). Auch insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerinnen zunächst selbst von einer Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 12 Abs. 2 KiTaG ausgegangen sind. Dementsprechend haben sie am 21. Januar 2005 gegenüber der Antragsgegnerin zu 1) die Aufnahme in die Integrationsgruppe des Kindergartens H. beantragt und ihr dahingehendes Begehren mit dem erstinstanzlich beim Verwaltungsgericht beantragten Erlass einer einstweiligen Anordnung weiterverfolgt, und zwar nicht nur hilfsweise wie nunmehr im Beschwerdeverfahren. Soweit die Antragstellerinnen mit der Beschwerde die Aufnahme in eine Regelgruppe des Kindergartens für sich beanspruchen, setzen sie sich in Widerspruch zu ihrem bisherigen Vorbringen, ohne dies überzeugend zu begründen. So stellen sie weiterhin nicht in Abrede, dass sie gelegentlich auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen sind, und halten wegen der bei ihnen bestehenden Gefahr von Knochenbrüchen einen „gewissen Schutzraum“ für erforderlich, um nicht aufgrund von Unachtsamkeiten anderer angerempelt oder gestoßen zu werden und dann Knochenbrüche davon zu tragen. Unachtsamkeiten beim Toben und Spielen der Kinder lassen sich aber ungeachtet des Auftrags nach § 2 Abs. 1 Satz 3 KiTaG, den Umgang von behinderten und nichtbehinderten Kindern untereinander in den Tageseinrichtungen zu fördern, nicht ausschließen. Aus dem Vortrag der Antragstellerinnen erschließt sich auch nicht, was sie unter einem „gewissen Schutzraum“ verstehen, den sie für erforderlich halten. Unter Berücksichtigung der nicht hinreichend abschätzbaren Risiken für die gesundheitliche Integrität der Antragstellerinnen ist es deshalb nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner zu 2) es derzeit ablehnt, ihnen einen Platz in einer Regelgruppe – auch in einer Nachmittagsgruppe – des Kindergartens H. zur Verfügung zu stellen bzw. dahingehend auf die Antragsgegnerin zu 1) einzuwirken.

10

Im Ergebnis gilt nichts anderes, soweit die Antragstellerinnen hilfsweise die Aufnahme in eine Regelgruppe mit persönlicher Assistenz bzw. als Maßnahme der Einzelintegration geltend machen. Zu berücksichtigen ist, das § 12 KiTaG selbst derartige Ansprüche nicht kennt, sondern nur den uneingeschränkten Anspruch auf einen Regelkindergartenplatz nach Abs. 1 und den Rechtsanspruch auf teilstationäre Betreuung gemäß Abs. 2 gewährleistet, der wiederum durch einen Platz in einem heilpädagogischen Sonderkindergarten oder in einer vom Landesjugendamt anerkannten integrativen Gruppe eines Regelkindergartens erfüllt werden kann (Klügel/Reckmann, a.a.O., § 3 Anm. 12, § 12 Anm. 22, § 18 Anm. 5). Einzelintegrative Maßnahmen, zu denen auch die von den Antragstellerinnen geltend gemachte persönliche Assistenz gehören dürfte, können in Einzelfällen als Maßnahmen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX in Betracht kommen. Dabei ist aber zu beachten, dass die Aufnahme in eine integrative Gruppe gegenüber der Maßnahme der Einzelintegration Vorrang hat (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1  2.DVO-KiTaG vom 16.7.2002, Nds. GVBl. S. 353; Ziff. 2 des RdErl. d. MS vom 5.5.1997, Nds. MBl. S. 769) und eine Einzelintegration nur bei Vorliegen weiterer die Besonderheiten des Einzelfalles und auch Wirtschaftlichkeitserwägungen berücksichtigenden Voraussetzungen (vgl. § 9 SGB XII) sachgerecht sein dürfte. Das vorliegende Verfahren gibt keinen Anlass, hierzu vertiefend Stellung zu nehmen. Denn das Vorbringen der Antragstellerinnen verhält sich zu einem etwaigen Anspruch auf Eingliederungshilfe –abgesehen von der schlichten Geltendmachung einer persönlichen Assistenz bzw. Einzelintegration im Rahmen ihres geänderten Antrags – nicht. Es ist substanzlos geblieben und lässt in keiner Weise erkennen, worauf die Maßnahmen konkret gerichtet sein sollen und inwieweit durch sie sichergestellt sein soll, dass die Antragstellerinnen in einer Regelgruppe des Kindergartens vor der erhöhten Gefahr von Knochenbrüchen hinreichend geschützt werden können.

11

Mit ihrem weiterhin hilfsweise geltend gemachten Begehren, in die Integrationsgruppe des Kindergartens H. aufgenommen zu werden, dringen die Antragstellerinnen ebenfalls nicht durch. Dem Begehren steht entgegen, dass die Integrationsgruppe derzeit mit vier behinderten und vierzehn nichtbehinderten Kindern voll belegt ist (vgl. dazu § 1 Abs. 3 Sätze 2 und 3 2. DVO-KiTaG) und es den Antragstellerinnen einstweilen, d. h. bis zum Ende des laufenden Betreuungsjahres 2005/2006 zuzumuten ist, den ihnen angebotenen Platz im Heilpädagogischen Kindergarten in I. in Anspruch zu nehmen. Der Senat nimmt insoweit auf die Ausführungen in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Bezug und macht sie sich zu eigen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Das Beschwerdevorbringen enthält keine neuen Gesichtspunkte, die eine andere Beurteilung rechtfertigen. Gemäß § 3 Abs. 6 Satz 1 KiTaG sollen wesentlich behinderte Kinder nach Möglichkeit in einer ortsnahen Kindertagesstätte gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern in einer Gruppe betreut werden. Durch die Regelung ist klargestellt, dass ein jederzeit durchsetzbarer Anspruch auf eine gemeinsame Betreuung nicht besteht. Steht ein Platz in einer integrativen Gruppe nicht zur Verfügung – wie hier -, kann der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz auch durch einen Platz in einem Sonderkindergarten erfüllt werden (Klügel/Reckmann, a.a.O., § 3 Anm. 17, § 12 Anm. 22).