Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.12.2005, Az.: 11 ME 359/05
Aufenthaltserlaubnis; Ausländer; ausländischer Elternteil; Ausübung; Betreuungsleistung; Erziehungsleistung; Familie; Kind ; Kindeswohl; Lebensgemeinschaft; Mutter; Personensorge; Personensorgeberechtigter; Sorgeberechtigter; Sorgerecht; tatsächliche Ausübung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 19.12.2005
- Aktenzeichen
- 11 ME 359/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 51037
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 27.10.2005 - AZ: 1 B 6476/05
Rechtsgrundlagen
- § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004
- § 23 Abs 3 Nr 3 AuslG 1990
Gründe
Die Antragstellerin, die türkische Staatsangehörige ist, reiste am 18. Dezember 1998 mit einem Visum zur Familienzusammenführung mit ihrem Ehemann in das Bundesgebiet ein. In der Folgezeit wurden ihr fortlaufend, zuletzt bis zum 2. November 2004, Aufenthaltserlaubnisse erteilt. Seit dem 14. Februar 2003 lebt sie von ihrem Ehemann getrennt. Aus der Ehe ist die am 10. November 2000 geborene Tochter B. hervorgegangen. Die Tochter besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und lebt bei ihrem Vater. Die Antragstellerin und ihr Ehemann einigten sich am 2. Dezember 2003 vor dem Amtsgericht C. im Wege des Vergleichs dahingehend, dass sie weiterhin gemeinsam die elterliche Sorge für ihre Tochter ausüben. Ferner wurde der Aufenthalt bzw. die Betreuung ihrer Tochter wie folgt geregelt:
„Die Kindesmutter holt das Kind Freitagnachmittag aus dem Kindergarten/Krabbelgruppe ab. Ist das Kind an diesem Tag dort nicht im Kindergarten, wird das Kind beim Kindesvater abgeholt.
Es verbleibt dann bis Sonntag, ca. 19.30 Uhr, bei der Mutter.
Der Kindesvater holt B. dann in der Wohnung der Mutter zu diesem Zeitpunkt ab. Ab dann bis Freitagnachmittag wird B. vom Vater betreut.
Die Mutter holt das Kind an dem darauf folgenden Freitagnachmittag wieder vom Kindergarten/Krabbelgruppe, bei Verhinderung vom Kindesvater, ab.
Dieser wöchentliche Besuchsrhythmus wird regelmäßig wiederholt.“
Mit Bescheid vom 20. Juni 2005 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihr zugleich unter Fristsetzung die Abschiebung in die Türkei an. Dagegen hat die Antragstellerin Klage erhoben - 1 A 4145/05 -, über die noch nicht entschieden ist. Ihren gleichfalls gestellten Antrag, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2005 anzuordnen, lehnte das Verwaltungsgericht durch bestandskräftig gewordenen Beschluss vom 11. August 2005 – 1 B 4146/05 – ab.
Am 13. Oktober 2005 beantragte die Antragstellerin die Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses vom 11. August 2005. Diesem Antrag gab das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 27. Oktober 2005 statt und ordnete die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den angefochtenen Bescheid an. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass das private Interesse der Antragstellerin, sich weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten zu können, Vorrang hat vor dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides. Denn mit dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, dass nach dem derzeitigen Erkenntnisstand Überwiegendes dafür spricht, dass zwischen der Antragstellerin und ihrer Tochter eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht, so dass die Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis voraussichtlich Erfolg haben wird. Das Verwaltungsgericht hat dazu ausgeführt, die Antragstellerin sehe ihre Tochter jedes Wochenende von Freitagnachmittag bis Sonntagabend und darüber hinaus auch an Feiertagen, so dass bereits die Häufigkeit dieser Besuche für eine familiäre Lebensgemeinschaft spreche. Entscheidend sei für das Gericht die Frage gewesen, in welchem Maße der Umgang mit der Mutter dem Wohl des Kindes diene und welche Folgen es hätte, wenn das Kind nach einer Abschiebung seine Mutter dauerhaft nicht sehen könne. Erkenntnisse, wie wichtig der Umgang mit der Mutter für das Kind sei, ergäben sich aus der eidesstattlichen Versicherung der Freundin der Antragstellerin. Diese gebe an, dass Mutter und Tochter eine herzliche Beziehung hätten und sich die Tochter darüber freue, ihre Mutter regelmäßig zu sehen. Die Einwände der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren vermögen zu keiner hiervon abweichenden Beurteilung zu führen.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist die Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Diese Vorschrift entspricht weitgehend § 23 Abs. 1 Nr. 3 AuslG, so dass auf die dazu ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann. Es ist unstreitig, dass der Antragstellerin für ihre fünfjährige Tochter, welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, das Personensorgerecht zusteht. Dem Anspruch aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG steht nicht entgegen, dass auch der Ehemann der Antragstellerin das Sorgerecht besitzt. Die Antragsgegnerin bezweifelt jedoch „die Existenz einer echten familiären Beistands- und Erziehungsgemeinschaft“. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.
Allerdings ist es richtig, dass allein vom formellen Bestehen des Sorgerechts keine aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen ausgehen (vgl. etwa Hailbronner, AuslR, Stand: Juni 2005, § 28 AufenthG Rdnr. 12). Vielmehr kommt es ganz wesentlich auf die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts an (vgl. Eberle, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann-Kreher; Kommentar zum Zuwanderungsgesetz 2005, § 28 AufenthG Rdnr. 21 ff.). Dies bedeutet, dass der Sorgeberechtigte nach außen hin erkennbar in ausreichendem Maße Verantwortung für die Betreuung und Erziehung seines minderjährigen Kindes übernimmt (st. Rspr. d. Sen., vgl. etwa Beschl. v. 26.5.2004 - 11 ME 70/04 -; ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.6.2004, NVwZ-RR 2005, 209; Hess.VGH, Beschl. v. 22.5.2003, InfAuslR 2003, 274). Es braucht nicht unbedingt eine häusliche Gemeinschaft gelebt zu werden; regelmäßige Besuche, Gespräche und Betreuungsleistungen können ausreichen (vgl. Renner, AuslR, 8. Aufl., § 28 AufenthG Rdnr. 11 m. w. Nachw. a. d. Rspr.). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Entwicklung eines Kindes nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.12.2003, NJW 2004, 606 u. Beschl. v. 30.1.2002, DVBl. 2002, 693). Da auf das Kindeswohl als verfassungsrechtlich vorgegebenen Richtpunkt auch für das gesamte Aufenthaltsrecht zu achten ist (vgl. etwa Renner, a.a.O., § 28 AufenthG Rdnr. 10), muss sorgfältig geprüft werden, ob durch eine Ausweisung bzw. Abschiebung die sozial-familiäre Beziehung des Kindes zu dem betreffenden Elternteil (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 9.4.2003, NJW 2003, 2151) nachhaltigen Schaden erleiden kann.
Hiervon ausgehend ist nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung festzustellen, dass die Behauptung der Antragstellerin, sie übe das Sorgerecht trotz getrennter Wohnungen durch wesentliche Erziehungs- und Betreuungsleistungen im Alltag aus, glaubhaft ist. Dies ergibt sich nicht nur aus ihrem – von der Antragsgegnerin nicht substantiell in Zweifel gezogenen – Vortrag, dass sie entsprechend der Sorgerechtsvereinbarung ihre Tochter jedes Wochenende von Freitagnachmittag bis Sonntagabend zu sich nach Hause nimmt. Im Abänderungsverfahren hat sie darüber hinaus vorgetragen, es komme häufig vor, dass das Kind auch über diese Zeiten hinaus, etwa an allen gesetzlichen Feiertagen, bei ihr sei. Dies hat die Antragsgegnerin auch nicht durch Vorlage einer gegenteiligen Erklärung des Ehemanns der Antragstellerin in Frage gestellt. Ebenso hat die Antragsgegnerin nicht substantiiert in Abrede stellen können, dass die Antragstellerin an allen wichtigen Entscheidungen für die Tochter, beispielsweise bezüglich des Kindergartenbesuchs, etwaiger Arztbesuche oder anderer Erziehungsfragen, mitwirke. Dass zwischen der Antragstellerin und ihrer Tochter auch eine enge emotionale Beziehung besteht, hat eine befreundete Familie, die ebenfalls Kinder hat und zu der ein regelmäßiger Kontakt besteht, im Wege einer eidesstattlichen Versicherung vom 13. Oktober 2005 bestätigt. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass die Antragsgegnerin bei Zweifeln die Möglichkeit gehabt hätte, etwa durch Einschaltung ihres Jugendamtes gegebenenfalls andere Erkenntnisse zu gewinnen. Dies ist jedoch nicht geschehen.
Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass durch eine Ausweisung bzw. Abschiebung der Antragstellerin die bestehende sozial-familiäre Beziehung zu ihrer Tochter und damit deren Kindeswohl nachhaltig beeinträchtigt werden könnte. Der Antragsgegnerin bleibt es unbenommen, die weitere Entwicklung des Mutter-Kind-Verhältnisses zu beobachten und gegebenenfalls eine Änderung dieses Beschlusses nach § 80 Abs. 7 VwGO zu erwirken. Letztlich dürfte aber eine abschließende Klärung dieser Frage dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.