Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.03.2009, Az.: 2 LB 643/07

Abkommen; Abschiebung; Abschiebungsschutz; Abschiebungsschutzsuchender; Aufenthalt; Ausländer; Bescheid; Bundesbeauftragter für Asylangelegenheiten; deutsch-syrisches Abkommen; Einreise; Einreisemöglichkeit; Kurde; Person; politische Verfolgung; Protokoll; Qualifikationsrichtlinie; Regelungsgegenstand; Regelungsinhalt; Religion; religiöse Verfolgung; Rückführung; Rückführungsabkommen; Schutzsuchender; Staat; Staatsangehörigkeit; Syrien; Türkei; Verfolgung; Yezide

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.03.2009
Aktenzeichen
2 LB 643/07
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 50661
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 20.09.2001 - AZ: 6 A 83/00

Tenor:

Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 6. Kammer vom 20. September 2001 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Beigeladene und Berufungsklägerin - im Folgenden: Beigeladene - (geboren in E. /Syrien) ist nach ihren Angaben Kurdin yezidischer Religions- und ungeklärter Staatsangehörigkeit aus Syrien, Provinz F., Dorf E.. Nach ihren Angaben reiste sie zusammen mit ihrem Bruder, Herrn G. (geboren am ), am 13. April 1999 mit Hilfe von Schleppern und mit gefälschten türkischen Reisepässen über Istanbul auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte ebenso wie ihr Bruder einen Asylantrag.

2

Zur Begründung ihres Asylantrages trug die Beigeladene bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - im Folgenden: Bundesamt am 28. April 1999 im Wesentlichen Folgendes vor: Sie habe bis zu ihrer Ausreise in E. gelebt. Dort lebten noch ihre Verwandten, unter anderem vier ältere Schwestern und drei Bruder, die alle verheiratet seien und eigene Familien hätten, sowie Onkel und Tanten. Sie sei nicht zur Schule gegangen. In Deutschland lebe ein weiterer Bruder, sie wisse aber nicht wo. Sie sei nicht vorbestraft. Ihre Familie habe in Syrien Land gepachtet, das sie bewirtschafteten und von dem sie lebten. Sie gehöre der yezidischen Religionsgemeinschaft an und sei staatenlos. Mitglied einer politischen Partei oder Organisation sei sie nicht gewesen. Sie würden als Yeziden und Staatenlose von den Arabern unterdrückt und zur Teilnahme am moslemischen Religionsunterricht gezwungen. Drei yezidische Mädchen seien entführt worden, ein yezidischer Junge sei ermordet worden. Sie würden am Schulbesuch gehindert. Im weiteren Verlauf der Anhörung durch das Bundesamt beantwortete die Beigeladene einige Fragen zur yezidischen Religion. Ihr Vater habe in dem Dorf H. um den 20. März 1999 herum mit seinem Kraftfahrzeug einen Unfall gehabt, bei dem ein Araber um das Leben gekommen sei. Ihr Bruder, mit dem sie nach Deutschland gekommen sei, sei bei diesem Vorfall mit ihrem Vater zusammen gewesen. Der Araber sei später im Krankenhaus gestorben. Daraufhin seien Polizisten zu ihnen nach Hause gekommen und hätten ihren Vater verhaftet sowie das Auto enteignet. Ihr Bruder, der mit ihr nach Deutschland gekommen sei, sei wegen des Unfalls von Arabern angegriffen und mit einem Messer verletzt worden. Nachdem ihr Bruder nach Hause gekommen sei, habe ihr Onkel gesagt, sie und ihr Bruder könnten nicht mehr zu Hause bleiben, da die Araber sie wegen der Blutrache überfallen würden. Daraufhin seien sie und ihr Bruder zu Bekannten gegangen. Ihr Haus sei tatsächlich von Arabern überfallen worden. Zu dieser Zeit hätten sich in dem Haus ihre Mutter, ein paar Leute aus dem Dorf und ihr Onkel aufgehalten. Ihr Onkel habe ihren Vater im Gefängnis besucht. Dieser habe ihnen geraten, das Land zu verlassen. Deshalb hätten sie und ihr Bruder am 28. März 1999 das Dorf verlassen und seien mit Hilfe eines Schleppers zunächst nach Istanbul gefahren und von dort am 13. April 1999 auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist.

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Ihr Bruder erklärte während seiner Anhörung vor dem Bundesamt am selben Tag im Wesentlichen Folgendes: Er habe bis zu seiner Ausreise in E. gelebt. Seine Familie habe gepachtetes Land bestellt. Er sei sechs Jahre zur Schule gegangen und habe danach seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Einer politischen Partei oder Organisation gehöre er nicht an, politisch betätigt habe er sich ebenfalls nicht. Eines Tages sei er mit seinem Vater mit ihrem Pick-up unterwegs gewesen, sein Vater habe das Fahrzeug gefahren. In dem Dorf H. sei aus einem Bus ein sechsjähriges arabisches Kind ausgestiegen und habe nicht auf den Verkehr geachtet. Sein Vater habe dieses Kind mit seinem Fahrzeug angefahren. Sein Vater habe das Kind ins Krankenhaus nach I. gefahren. Es seien viele Araber zu der Unfallstelle gekommen und hätten ihn (das heißt den Bruder der Beigeladenen) für den Unfall verantwortlich gemacht. Auf die Frage, ob ihm unmittelbar nach dem Unfall etwas geschehen sei, antwortete er nicht bzw. ausweichend. Er sei von der Unfallstelle zunächst zu Fuß in das yezidische Dorf J. gegangen und habe dort seinen Onkel benachrichtigt. Danach sei er nach Hause gefahren, um seine Schwester, die Beigeladene, abzuholen. In der Nacht seien sie zu ihrem Onkel nach K. gegangen. Ihr Haus sei in der Nacht von Arabern überfallen worden; die Fenster seien zerschlagen, und das Haus sei verwüstet worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sich in dem Haus niemand aufgehalten. Sein Vater sei von der Polizei im Krankenhaus in L. verhaftet worden. Der Vater des getöteten Mädchens sei Mitglied der Baath-Partei gewesen und habe durch Bestechungsgelder dafür gesorgt, dass sein Vater in das Gefängnis gekommen sei. Ob sein Vater offiziell angeklagt und von einem Gericht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden sei, wisse er nicht. Nach den Regeln der Blutrache würden die Araber sich auf irgendeine Weise an ihm (dem Bruder der Beigeladenen) rächen. Er selbst sei von dem Vorfall direkt betroffen gewesen. Da er als männlicher Schutz für seine Schwester, die Beigeladene, nicht mehr zur Verfügung gestanden habe, sei sie mit ihm über die Türkei auf dem Luftweg nach Deutschland ausgereist. Im weiteren Verlauf der Anhörung beantwortete der Bruder der Beigeladenen ebenfalls Fragen zur yezidischen Religion.

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Mit Bescheiden vom 17. Mai 1999 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Beigeladenen und ihres Bruders wegen fehlender Nachweise über die behauptete Einreise auf dem Luftweg ab (Nr. 1), stellte aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Syriens gegeben seien (Nr. 2), ohne hierfür eine nähere Begründung zu geben. Von Feststellungen zu § 53 AuslG sah das Bundesamt gemäß § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG a. F. ab, zumal jedenfalls derzeit wegen § 51 Abs. 4 Satz 2 AuslG ein Abschiebestaat nicht habe benannt werden können und deshalb auf den Erlass einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylVfG a. F. i. V. m. § 50 AuslG habe verzichtet werden müssen.

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Gegen die ihm am 20. Mai 1999 zugestellten Bescheide des Bundesamtes hat der Kläger jeweils am 2. Juni 1999 Klage erhoben, mit der er sich gegen die vom Bundesamt offenbar angenommene relevante Verfolgungsgefahr in Form einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an die kurdische Volkszugehörigkeit und die yezidische Religionszugehörigkeit der Beigeladenen und ihres Bruders gewandt hat. Mit Beschluss des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts vom 20. September 2001 wurden die bisher getrennten Klageverfahren zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

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Der Kläger hat beantragt,

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die Bescheide des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17. Mai 1999 aufzuheben, soweit darin die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 1 AuslG getroffen worden ist.

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Die Beklagte hat weder Ausführungen zur Sache gemacht noch einen Klageantrag gestellt.

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Die Beigeladene und ihr Bruder haben beantragt,

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die Klage abzuweisen,

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und ihren bisherigen Vortrag hinsichtlich des Unfalls und der allgemeinen Situation der Yeziden und Kurden in Syrien vertieft. Der Bruder der Beigeladenen hat hierzu vorgetragen, er sei noch am Unfallort von Arabern blutig geschlagen und mit einem Messer an der Brust verletzt worden. Zudem hat er behauptet, Mitglied der "Ekiti"-Partei gewesen zu sein. Aus diesem Grund habe ihn die Polizei regelmäßig abgeholt und verhört. Bei den Verhören sei er hart geschlagen und tagelang festgehalten worden. Die Beigeladene hat - ebenso wie ihr Bruder - eine Bescheinigung des Kulturforums der yezidischen Glaubensgemeinschaft e. V., M. vom 15. Dezember 1999 vorgelegt und vorgetragen, dass sie sich auch auf Syrien als abschiebungsschutzrelevantes Land berufen könne, da Syrien ihr als staatenlose kurdische Yezidin die Wiedereinreise aus asyl- und abschiebungsschutzrelevanten Gründen verweigere. Ergänzend haben sie sich darauf berufen, türkische Staatsangehörige zu sein und hierzu nähere Ausführungen gemacht. Ihr Vater heiße N. und sei 1922 in O. im Kreis P. /Türkei geboren; ihre Mutter führe den Namen Q. (oder R.)

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S. und sei (nach ihrem Vortrag: richtigerweise nicht 1912, sondern am ) ebenfalls dort geboren. Hierzu haben die Beigeladene und ihr Bruder einen Auszug aus dem syrischen Ausländerregister nebst Übersetzung sowie einen Auszug aus dem ihre Eltern betreffenden Ausländerregister vorgelegt; aus letzterem ergebe sich der Geburtsort ihrer Eltern in der Türkei. Deshalb könnten sie sich auch auf die Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei berufen.

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Mit Urteil vom 20. September 2001 hat das Verwaltungsgericht Braunschweig die Regelungen zu Nr. 2 der Bescheide des Bundesamtes vom 17. Mai 1999 aufgehoben und die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte auf die Beklagte und die Beigeladene sowie ihren Bruder verteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen angeführt, die Beigeladene und ihr Bruder hätten keinen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Syrien. Sie hätten ihr Heimatland nicht wegen einer bereits erlittenen oder unmittelbar drohenden Gefahr der individuellen Verfolgung wegen ihrer yezidischen Glaubenszugehörigkeit verlassen. Die geschilderten Benachteiligungen wegen ihrer Religionszugehörigkeit in der Vergangenheit hätten die asylrechtlich relevante Grenze nicht erreicht. Ihre Angaben zu dem behaupteten Verkehrsunfall und den behaupteten politischen Aktivitäten des Bruders der Beigeladenen seien widersprüchlich sowie gesteigert und mithin nicht glaubhaft. Auch eine unmittelbare oder mittelbare staatliche Gruppenverfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit liege in Bezug auf Syrien nicht vor. Gleiches gelte wegen ihrer Eigenschaft als Kurden. Auch im Übrigen sei nicht erkennbar, dass sie mit politischer Verfolgung in Syrien zu rechnen hätten. Nachfluchtgründe seien nicht gegeben. Unabhängig hiervon sei davon auszugehen, dass ein Anspruch der Beigeladenen und ihres Bruders auf Feststellung von Abschiebungshindernissen hinsichtlich Syrien schon deshalb nicht bestehe, weil sie vom syrischen Staat nicht als seine Staatsangehörigen anerkannt würden, sondern als Ausländer registriert seien. Diesem Personenkreis verweigere der syrische Staat ohne Anknüpfung an abschiebungsschutzrelevante Merkmale die Wiedereinreise, sodass die Gewährung von Abschiebungsschutz von vornherein ausscheide. Soweit sie geltend machten, türkische Staatsangehörige zu sein, komme es hierauf im Rahmen der vorliegenden Anfechtungsklage nicht an. Streitgegenstand der Beanstandungsklage des Klägers sei lediglich die Frage, ob ein Abschiebungshindernis nach § 51 Abs. 1 AuslG bezüglich des in der angegriffenen Regelung genannten Landes - hier Syrien - gegeben sei.

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Gegen dieses ihnen am 5. Oktober 2001 zugestellte Urteil haben die Beigeladene und ihr Bruder am 18. Oktober 2001 unter Hinweis auf ihre türkische Staatsangehörigkeit, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des erkennenden Senats durchaus beachtlich sei, und wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.

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Mit Beschluss vom 14. Juni 2002 - 2 LA 3510/01 - hat der Senat wegen einer Abweichung des angefochtenen Urteils von seiner Rechtsprechung zu der entscheidungserheblichen Frage der türkischen Staatsangehörigkeit die Berufung zugelassen und das Berufungsverfahren unter dem Aktenzeichen 2 LB 116/02 geführt.

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Nachdem dem Bruder der Beigeladenen von der zuständigen Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt worden war, hat dieser seine Berufung mit Schriftsatz vom 23. November 2007 zurückgenommen. Daraufhin hat der Senat mit Beschluss vom 30. November 2007 das die Beigeladene betreffende Berufungsverfahren abgetrennt und unter dem jetzigen Aktenzeichen fortgeführt. Das Berufungsverfahren des Bruders der Beigeladenen hat der Senat mit Beschluss vom 30. November 2007 eingestellt.

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Zur Begründung ihrer Berufung verweist die Beigeladene auf ihre türkische Staatsangehörigkeit und legt das Original eines Urteils des Gerichts für Personenstandsangelegenheiten von F. /Syrien vom 7. September 2003 nebst Übersetzung in die deutsche Sprache sowie erneut den ihre Eltern betreffenden Familienregisterauszug aus den Ausländerregistern im Bezirk T. und eine ihren Bruder G. betreffende Identitätsbescheinigung des Muchtar von U. vom 18. September 1999 vor. Ihre Mutter habe das unzutreffende Geburtsdatum "1912" in dem Ausländerregister durch dieses Urteil in das richtige Geburtsdatum "V. " ändern lassen. Ergänzend trägt sie vor, ihr Vater sei in der Türkei in einem Dorf namens "W. " (phonetisch), das zu "X. " (phonetisch) gehört habe, geboren worden. Wegen Schwierigkeiten aufgrund seiner Religionszugehörigkeit habe er dort nicht mehr leben können und sei als Kind mit seinem Vater nach Syrien geflüchtet. In Syrien habe er nur einen Staatenlosenausweis bekommen, mit dem er dort nichts habe anfangen können. Es sei auch weiterhin von einer Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei auszugehen. Im Übrigen macht sie Ausführungen zur Situation der nicht-syrischen kurdischen Volkszugehörigen in Syrien. Die Weigerung der syrischen Behörden, sie wieder nach Syrien einreisen zu lassen, knüpfe an das Merkmal ihrer kurdischen Volkzugehörigkeit bei Staatenlosen an und sei abschiebungsschutzrelevant.

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Die Beigeladene beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichtes Braunschweig vom 20. September 2001 zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Zur Begründung trägt er vor, entgegen seiner bisherigen Einschätzung der Rechtslage komme es zwar darauf an, ob die Beigeladene die türkische Staatsangehörigkeit besitze. Streitgegenstand der vorliegenden Beanstandungsklage sei nämlich nicht allein die Frage, ob die gerade und nur bezüglich Syrien erfolgte Feststellung i. S. d. § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG rechtmäßig sei. Ungeachtet dessen sei aber auch in Bezug auf die Türkei nicht (mehr) von einer Gruppenverfolgung der Yeziden auszugehen. Gleiches gelte für die vorgetragene Gruppenverfolgung von Yeziden in Syrien. Ein etwaiger Anspruch der Beigeladenen auf die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (früher § 53 AuslG) sei nach der weiterhin maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem vorliegenden Beanstandungsklageverfahren nicht Streitgegenstand.

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Die Beklagte macht zur Sache keine Angaben und stellt keinen Antrag.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung der Beigeladenen hat in der Sache keinen Erfolg.

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Das Verwaltungsgericht hat auf die - nach § 87 b AsylVfG auch im gegenwärtigen Zeitpunkt trotz der mit Wirkung zum 1. September 2004 geregelten Aufhebung des § 6 AsylVfG, der die Rechtsstellung des Klägers zum Gegenstand hatte (Art. 3 Nr. 5, Art. 15 Abs. 2 Zuwanderungsgesetz vom 30.7.2004, BGBl. I S. 1950) zulässige - Beanstandungsklage des Klägers einen Anspruch der Beigeladenen auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz bisher auf der Grundlage des § 51 Abs. 1 AuslG und nunmehr gemäß dem seit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG allein maßgeblichen § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2965) zu Recht verneint und die Regelung zu Nr. 2 des die Beigeladene betreffenden Bescheides des Bundesamtes vom 17. Mai 1999 im Ergebnis ebenso zutreffend aufgehoben (dazu 1.). Die Frage, ob die Beigeladene die Gewährung von Abschiebungsschutz auf der Grundlage von § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (früher § 53 AuslG) beanspruchen kann, ist nicht Streitgegenstand des vorliegenden Beanstandungsklage- und Berufungsverfahrens (dazu 2.).

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1. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist an die Stelle der Feststellung der Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG getreten. Sie ist zu gewähren, wenn der Ausländer in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist (§ 3 Abs. 1 AsylVfG).

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Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen im Fall der Beigeladenen nicht vor. Diese Einschätzung gilt unabhängig davon, ob die Beigeladene als staatenlose Kurdin yezidischen Glaubens aus Syrien (dazu a) oder - wie sie im Klageverfahren in erster Instanz erstmals geltend gemacht hat - als türkische Staatsangehörige kurdischer Volksund yezidischer Glaubenszugehörigkeit (dazu b) anzusehen ist.

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Grundsätzlich kann der asylrechtliche Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist. Offen bleiben kann diese aber dann, wenn hinsichtlich sämtlicher als Staat der Staatsangehörigkeit in Betracht kommenden Staaten das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG entweder einheitlich bejaht oder - wie im Ergebnis hier - verneint werden kann. Daher sind alle Staaten in die Prüfung einzubeziehen, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene möglicherweise besitzt oder in denen er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte; im Fall der Beigeladenen sind dies Syrien und die Türkei. Dies gilt unabhängig davon, in welchem Stadium des asylrechtlichen Verfahrens sich der Betroffene auf die Staatsangehörigkeit eines Staates und eine ihm dort drohende politische Verfolgung beruft (BVerwG, Urt. v. 8.2.2005 - 1 C 29.03 -, BVerwGE 122, 376 = juris Langtext Rdnr. 15; Urt. v. 12.7.2005 - 1 C 22.04 -, NVwZ 2006, 99 = juris Langtext Rdnr. 10).

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Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthGArt. 4 Abs. 4 sowie Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. Nr. L 304 S. 12, ber. ABl. 2005 Nr. L 204 S. 24) - Qualifikationsrichtlinie ergänzend anzuwenden.

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a) Der Senat prüft das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich einer möglichen abschiebungsschutzrelevanten Verfolgung in Syrien. Dieses Land wird in den Blick genommen, weil die Beigeladene jedenfalls aus syrischer Sicht und nach ihrer bisherigen Darstellung staatenlos ist und zeitlebens in Syrien gelebt hat. Deshalb sind - jedenfalls grundsätzlich - (auch) die Verhältnisse in Syrien als Land des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts maßgeblich.

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Diese Prüfung ergibt, dass die Beigeladene einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer abschiebungsschutzrelevanten Verfolgung in Syrien als möglichem Staat des gewöhnlichen Aufenthalts nicht hat. Dies gilt zum einen deshalb, weil ihr nach dem bisherigen Sachstand eine Wiedereinreise nach Syrien nicht möglich war (dazu aa). Dies gilt aber zum anderen auch dann, wenn man davon auszugehen hat, dass auf der Grundlage des Deutsch-syrischen Abkommens über die Rückführung von illegal aufhältigen Personen und des Protokolls zur Durchführung dieses Abkommens vom 25. Juli 2008 (BGBl. II S. 811) - im Folgenden: Rückführungsabkommen -, das am 3. Januar 2009 in Kraft getreten ist (BGBl. II S. 107), nunmehr eine derartige Einreisemöglichkeit nach Syrien besteht (dazu bb).

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aa) Nach bisheriger Sachlage hat die Beigeladene bereits deshalb keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihr eine Wiedereinreise nach Syrien - sei es freiwillig oder im Wege der Abschiebung - nicht möglich ist - dazu (1) - und weil das Wiedereinreiseverbot seinerseits nicht auf in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gründen beruht - dazu (2) -.

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Das (bisherige) Wiedereinreiseverbot hat zur Folge, dass Syrien nicht mehr als das Land des gewöhnlichen Aufenthalts der Beigeladenen anzusehen ist und diese deshalb die Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf Syrien von vornherein nicht beanspruchen kann. Während ein Staat seine Eigenschaft als Land des gewöhnlichen Aufenthalts nicht allein dadurch einbüßt, dass der Staatenlose ihn verlässt und in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 12.2.1985 - 9 C 45.84 -, NVwZ 1985, 579 [BVerwG 12.04.1984 - BVerwG 5 C 72.82]), tritt eine Änderung der rechtlichen Situation jedoch dann ein, wenn er den Staatenlosen - aus im asylrechtlichen Sinne nicht politischen Gründen - ausweist oder ihm die Wiedereinreise verweigert, nachdem dieser das Land verlassen hat. Er löst damit seine Beziehungen zu dem Staatenlosen und hört auf, für diesen Land des gewöhnlichen Aufenthalts zu sein. Er steht dem Staatenlosen nunmehr in gleicher Weise gegenüber wie jeder andere auswärtige Staat. Die Frage, ob dem Staatenlosen auf seinem Territorium politische Verfolgung droht, wird unter asyl- und abschiebungsrechtlichen Gesichtspunkten gegenstandslos. Sie stellt sich ebenso wenig, wie sie sich in Bezug auf sonstige Staaten stellt (BVerwG, Urt. v. 15.10.1985 - 9 C 30.85 -, NVwZ 1986, 759; Urt. v. 24.10.1995 - 9 C 3.95 -, NVwZ-RR 1996, 44 [OLG Hamm 17.06.1994 - 20 U 407/93]; Urt. v. 22.2.2005 - 1 C 17.03 -, NVwZ 2005, 1191).

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(1) Der syrische Staat hat bisher illegal ausgereisten staatenlosen Kurden - unabhängig davon, ob sie in Syrien registriert sind oder nicht - in der Regel die Wiedereinreise verweigert (Senat, Urt. v. 22.6.2004 - 2 L 6129/96 -, InfAuslR 2004, 454, 457 f. = juris Langtext Rdnr. 43 m. w. N. und Beschl. v. 2.8.2004 - 2 LA 342/03 -, AuAS 2004, 271 = juris Langtext Rdnr. 21; vgl. ferner OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.8.2007 - 15 A 1450/04.A -, juris Langtext Rdnr. 28; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.3.2006 - 3 L 327/03 - und Urt. v. 9.2.2007 - 3 L 103/05 -; OVG Brandenburg und Berlin, Urt. v. 22.12.2006 - 3 B 19.05 -; Schleswig-Holsteinisches OVG, Urt. v. 29.9.2005 -; OVG Saarland, Beschl. v. 13.9.2002 - 3 R 3/02 -; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.9.2001 - A 2 S 26/98 -).

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(2) Diese Wiedereinreisesperre ist entgegen der Ansicht der Beigeladenen für die Gewährung von Asyl und Abschiebungsschutz ohne Belang.

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Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu grundsätzlich festgestellt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.10.1995 - 9 C 75.95 -, NVwZ-RR 1996, 471; Urt. v. 24.10.1995 - 9 C 3.95 -, a. a. O.), dass „Aussperrungen“ und „Ausgrenzungen“ in Gestalt von Rückkehrverweigerungen politische Verfolgung in dem genannten Sinne darstellen können, wenn sie wegen asylerheblicher Merkmale des Betroffenen erfolgen, die Verweigerung der Wiedereinreise also auf asyl- und abschiebungsschutzerhebliche Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder auf politische Überzeugungen des Asylbewerbers zielen. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, die vom Senat geteilt wird, ist dies regelmäßig dann anzunehmen, wenn die Aussperrung Staatsangehörige betrifft. Bei Staatenlosen liegt es demgegenüber nahe, dass eine solche Maßnahme auf anderen als asylrelevanten Gründen beruht, weil beispielsweise der Staat ein Interesse daran hat, die durch den Aufenthalt der Staatenlosen in seinem Hoheitsgebiet entstehenden wirtschaftlichen Belastungen zu mindern oder Gefahren für die Staatssicherheit durch potentielle Unruhestifter vorzubeugen, oder weil er keine Veranlassung sieht, Staatenlose, die freiwillig das Land verlassen haben, (erneut) wieder aufzunehmen. Der erkennende Senat hat hierzu in seinem Urteil vom 22. Juni 2004 (- 2 L 6129/96 -, S. 19 ff. UA = juris Langtext Rndr. 46 ff., insoweit in InfAuslR 2004, 454 ff. nicht abgedruckt) Folgendes ausgeführt:

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"Nach diesen Maßstäben lässt sich nicht feststellen, dass die Weigerung des syrischen Staates, staatenlose Kurden, die illegal Syrien verlassen haben - mag es sich bei ihnen auch um Yeziden handeln -, wieder einreisen zu lassen, auf asylrelevanten Gründen beruht …, also eine asylerhebliche Gerichtetheit aufweist (ebenso Sächs. OVG, Urt. v. 22.8.2003 - A 4 B 849/03 -, InfAuslR 2004, 173, 175). Zu der Frage, auf welchen Gründen die Verweigerung der Wiedereinreise beruht, wird in der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 26. April 2001 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes ausgeführt, dass die syrische Regierung zur Begründung einer solchen Maßnahme nicht auf eine bestimmte Volkszugehörigkeit zurückgreife, sondern an die Tatsache anknüpfe, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer das Recht zum Aufenthalt in Syrien erhält. Erkenntnismittel, in denen hierzu eine andere Auffassung vertreten wird, sind nicht ersichtlich. Auch der Einwand des Klägers, dem Wiedereinreiseverbot komme entgegen der Ansicht des Senats asylrechtliche Bedeutung zu, weil mit dem gerade gegenüber staatenlosen Kurden yezidischer Religionszugehörigkeit praktizierten Verbot der Wiedereinreise eine politische Verfolgung dieser Minderheit betrieben werde, vermag nicht zu überzeugen. Schon die These des Klägers, die Gruppenverfolgung, denen die Yeziden ausgesetzt seien, indiziere eine politische Gerichtetheit des Wiedereinreiseverbots, ist in sich nicht schlüssig; denn bereits die Prämisse einer gruppengerichteten Verfolgung der Yeziden in Syrien erweist sich als nicht tragfähig. Wie ... darzulegen sein wird, sind die Yeziden wegen ihrer Religion einer gruppengerichteten Verfolgung - auch im Bezirk F. - nicht ausgesetzt. Mithin kann das Wiedereinreiseverbot nicht als Teil einer umfassend angelegten Verfolgung der Yeziden charakterisiert werden. Hiervon abgesehen, lässt auch die Praktizierung des Wiedereinreiseverbots eine diskriminierende Differenzierung nach der Religions- und/oder der Volkszugehörigkeit nicht erkennen. Würde sich das Wiedereinreiseverbot nämlich gegen illegal ausgereiste yezidische Kurden gerade wegen ihrer Volkszugehörigkeit oder ihres Glaubens richten, so müsste es auch und gerade gegenüber allen Yeziden, die illegal das Land verlassen haben, praktiziert werden. Dies ist aber nicht der Fall. Besitzt nämlich ein Yezide die syrische Staatsangehörigkeit, so kann er ohne weiteres selbst dann wieder einreisen, wenn er zuvor Syrien illegal verlassen hatte. Bereits dies spricht gegen eine (asylerhebliche) Gerichtetheit des Wiedereinreiseverbots (so auch OVG LSA, Urt. v. 22.10. 2003 - 3 L 344/01 -, UA S. 21). Hinzu kommt, dass nicht einleuchtend ist, dass der syrische Staat heute noch, und zwar gegenüber den Nachfahren der Kurden, die 1962 nicht eingebürgert (und nicht als syrische Staatsangehörige registriert) worden sind, eine ‚Arabisierungspolitik’ i. S. einer (rassistischen) Ausgrenzung betreiben soll. Selbst wenn die Verweigerung der Registrierung (Einbürgerung) gegenüber einer Minderheit von Kurden im Jahre 1962 - nach Y. (Gutachten v. 27.9.2002 für das VG Magdeburg) und dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 7.10.2002 sind von der nicht erfolgten Registrierung rd. 120.000 Personen und damit nur ca. 10 % der kurdischen Volksgruppe in Syrien betroffen gewesen - willkürlich gewesen sein sollte, würde dies noch nicht auf eine über Jahrzehnte fortdauernde, zielgerichtete Verfolgung einer bestimmten Gruppe (etwa der Kurden) hindeuten. Denn hierzu ist die Anzahl der betroffenen Personen (nur rd. 10 % der Kurden) zu gering. Vielmehr spricht alles dafür, dass der syrische Staat bei dem gegenüber illegal ausgereisten Staatenlosen praktizierten Wiedereinreiseverbot lediglich an abstrakte Merkmale anknüpft, die allen Angehörigen der in Syrien lebenden Volksgruppen Syriens zuzuordnen sind, und zwar an die illegale Ausreise und die Staatenlosigkeit, mithin an asylneutrale, rein ordnungspolitische Merkmale (so schon Senat, Urt. v. 9.12.2002 - 2 L 3940/96 -)“.

39

An dieser Rechtsprechung, die mit der Rechtsprechung anderer Obergerichte übereinstimmt (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.12.2006 - 3 B 19.05 -, juris Langtext Rdnr. 43 ff.; Nordrhein-Westfälisches OVG, Urt. v. 28.8.2007 - 15 A 1450/04.A -, juris Langtext Rdnr. 35 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.3.2006 - 3 L 327/03 -, juris Langtext Rdnr. 44 ff.), hält der Senat fest. Diese sich auf staatenlose Kurden yezidischer Religionszugehörigkeit beziehenden Ausführungen des Senats in seinem Urteil vom 22. Juni 2004 - 2 L 6129/96 - gelten auch für staatenlose Kurden, die nicht der yezidischen Glaubensgemeinschaft angehören; denn auch die Angehörigen der kurdischen Minderheit als solche sind, wie der Senat in seinem Urteil vom 22. Juni 2004 - 2 LB 86/03 - festgestellt (und damit erneut grundsätzlich geklärt) hat, einer gruppengerichteten Verfolgung - auch unter Berücksichtigung der Unruhen im März 2004 - in Syrien nicht ausgesetzt (siehe dazu im Übrigen unten); auch wird das Wiedereinreiseverbot nur gegenüber staatenlosen Kurden, nicht aber gegenüber solchen Kurden praktiziert, die syrische Staatsangehörige sind, knüpft also nicht an eine bestimmte Ethnie, sondern lediglich - ordnungsrechtlich und damit asylneutral - an den Status des illegal Ausgereisten an.

40

Soweit in Syrien lebende staatenlose Palästinenser auch nach illegaler Ausreise ohne weiteres nach Syrien wieder einreisen können, kann dies nicht als Beleg für eine Asylrelevanz des gegenüber Kurden praktizierten Wiedereinreiseverbots gewertet werden. Die in Syrien lebenden Palästinenser genießen nämlich wegen der Verbundenheit der syrischen Staatsführung mit dem Kampf der Palästinenser gegen den Staat Israel, mit dem sich Syrien weiterhin im Kriegszustand befindet, in Syrien einen Sonderstatus. Dies erklärt, dass (staatenlose) Palästinenser auch bei illegaler Ausreise im Falle der Wiedereinreise eine Privilegierung erfahren, also ausnahmsweise nicht unter das ansonsten bei illegal ausgereisten Staatenlosen praktizierte Wiedereinreiseverbot fallen. Die nicht zuletzt aus außenpolitischen Rücksichten gegenüber anderen arabischen "Brudernationen" praktizierte Sonderbehandlung der Palästinenser ist daher nicht geeignet, den ordnungsrechtlichen Charakter des Wiedereinreiseverbots gegenüber illegal ausgereisten staatenlosen Kurden in Zweifel zu ziehen.

41

Auch wenn die im Jahr 1962 vorgenommenen Ausbürgerungen durch den syrischen Staat - so die Argumentation der Beigeladenen - im Jahre 1962 als politische Verfolgung gegenüber den Vorfahren der Betroffenen zu bewerten gewesen sein sollten, ändert dies nichts daran, dass das Wiedereinreiseverbot aus den vorstehenden Gründen eine aktuelle politische Verfolgung nicht darstellt, da es nicht an die Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie, sondern an die Staatenlosigkeit und die nach syrischen Recht illegale Ausreise anknüpft.

42

Gegen eine an die Ethnie anknüpfende Motivation des Wiedereinreiseverbots sprechen auch die derzeit bestehenden allgemeinen politischen Verhältnisse der kurdischen Volksgruppen in Syrien. Danach kann nicht davon ausgegangen werden, dass die in Syrien lebende kurdische Minderheit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.8.2007 - 15 A 1450/04.A -, juris Langtext Rdnr. 60 f.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 9.2.2007, - 3 L 103/05 -, S. 14 ff. UA und Urt. v. 22.3.2006, - 3 L 327/03 -, juris Langtext Rdnr. 46 ff., m. w. N.). Einer asylerheblichen Gruppenverfolgung sind auch die Yeziden in Syrien nicht ausgesetzt (vgl. dazu näher unten).

43

Aber selbst dann, wenn die 1962 erfolgte Ausbürgerung kurdischer Volkszugehöriger und die Verweigerung einer Einbürgerung Akte politischer Verfolgung gewesen sein sollten, rechtfertigt allein der Umstand, dass auch die Nachkommen dieser Personengruppen von den Folgen dieser Maßnahme (noch) betroffen sind, nicht schon die Annahme einer auch hinsichtlich der Abkömmlinge (fort- )bestehenden politischen Verfolgung. Das Grundrecht auf Asyl ist ein höchstpersönliches Recht, d. h. aus dem Umstand einer womöglich vormals gegenüber den Eltern bzw. Großeltern erfolgten asylrelevanten Verfolgungshandlung ergibt sich keine politische Verfolgung für die Beigeladene.

44

Aber auch unabhängig davon stellen die Folgen der Sondervolkszählung 1962 keine politische Verfolgung der Nachkommen der davon Betroffenen dar. Der Status der Nachkömmlinge knüpft daran an, dass die Eltern bzw. Großeltern ihre Staatsangehörigkeit nicht erworben bzw. verloren haben, indem sie als Ausländer registriert bzw. nicht registriert wurden. Bei diesen für die Nachkommen fortwirkenden Rechtsnachteilen handelt es sich nicht um eine staatliche Maßnahme, die - wie es für eine asyl- und abschiebungsschutzrelevante politische Verfolgung aber erforderlich wäre - hinsichtlich ihrer Zielgerichtetheit unverändert an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpft. Daher ist nicht davon auszugehen, dass es dem syrischen Staat auch heute noch darum geht, die von der Volkszählung selbst oder infolge ihrer Abstammung mittelbar betroffenen Kurden in Syrien wegen ihrer Ethnie auszugrenzen. Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung ist die kurdische Bevölkerung einer Gruppenverfolgung nicht ausgesetzt. Ebenso lässt sich nicht feststellen, dass eine programmatische Politik der Vertreibung, Ausbürgerung oder Ausgrenzung von Kurden wegen ihrer Volkszugehörigkeit betrieben wird, selbst wenn gegenüber den 1962 ausgebürgerten und unregistrierten Kurden Vorbehalte verblieben und sie aufgrund ihres Status erheblich benachteiligt sind. Dies gilt umso mehr, als die syrische Regierung 1976 von der Zwangsansiedlungs- und Umsiedlungspolitik offiziell Abstand genommen und diese aufgegeben hat. Dass sich in Syrien die Einstellung zu den staatenlosen Kurden - und speziell auch hinsichtlich der Staatsangehörigkeitsfrage - gegenüber den 60iger Jahren des vorigen Jahrhunderts geändert hat, belegt im Übrigen auch der Umstand, dass im öffentlichen Raum über die (Wieder- )Einbürgerung der von der Volkszählung 1962 Betroffenen diskutiert wird, selbst wenn diese Diskussion bisher noch nicht zu greifbaren Ergebnissen geführt hat (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.8.2007 - 15 A 1450/04.A -, juris Langtext Rdnr. 65).

45

Die Annahme einer (fortbestehenden) asylrelevanten Verfolgungssituation lässt sich schließlich auch nicht daraus herleiten, dass der syrische Staat den Status quo der durch die Ereignisse von 1962 betroffenen Kurden und ihrer Abkömmlinge unverändert als gegeben hinnimmt und sich (bislang) nicht veranlasst gesehen hat, die von der Volkszählung betroffenen Kurden und ihre Nachkommen wieder einzubürgern. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Die Rechtsverletzung, aus der der Asylbewerber seine Asylberechtigung herleitet, muss ihm gezielt, d.h. gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale zugefügt worden sein. Hieran fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsstaat zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen (BVerfG, Beschl. v.10.7.1989 - 2 BvR 502, 961, 1000/86 -, BVerfGE 80, 315, 335 m. w. N.; BVerwG, Urt. v. 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200, 204 f.). Die in diesem Sinne gezielt zugefügte Rechtsverletzung muss von einer Intensität sein, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt, so dass der davon Betroffene gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. Wird Staatenlosen die Staatsangehörigkeit des Landes, in dem sie sich aufhalten, nicht verliehen, so fehlt es grundsätzlich und auch im vorliegenden Fall an einer Rechtsverletzung von asylerheblicher Intensität. Denn das Asylrecht gewährt keinen Anspruch auf Rechtsvorteile, über deren Gewährung der jeweilige Staat frei entscheiden kann.

46

Soweit Art. 3 des Gesetzes Nr. 276 vom 24. November 1969 zur Regelung der (syrischen) Staatsangehörigkeit normiert, dass "von Amts wegen als syrischer Araber gilt, (a) wer innerhalb oder außerhalb der arabischen Provinz Syrien (Art. 1 lit. a) a. a. O.) als Kind eines arabisch-syrischen Vaters geboren ist; (b) wer innerhalb der arabischen Provinz Syrien als Kind einer arabisch-syrischen Mutter geboren und wessen väterliche Abstammung nicht gesetzlich festgestellt worden ist; (c) wer in der Provinz als Kind von Eltern geboren ist, die ... unbekannter Staatsangehörigkeit oder staatenlos sind ...", ist zunächst festzustellen, dass das geltende syrische Staatsangehörigkeitsrecht nicht ansatzweise einen Anhaltspunkt dafür liefert, welcher auf eine Benachteiligung bzw. Diskriminierung kurdischer Volkszugehöriger schließen lässt. Maßgeblich wird nach der Gesetzeslage vielmehr auf die syrische Staatsangehörigkeit des Vaters (bzw. der Mutter) abgestellt und darauf, dass - soweit der Betroffene in Syrien geboren ist - die Eltern nachweislich keine Ausländer sind, mithin keine andere Staatsangehörigkeit besitzen, sondern Staatenlose bzw. Personen mit unbekannter Staatsangehörigkeit sind. Eine Ausgrenzung kurdischer Volkszugehöriger lassen die gesetzlichen Regelungen nach allem nicht erkennen. Fraglich erscheint somit allenfalls, ob die in Syrien bestehende Rechtspraxis in Anwendung des syrischen Staatsangehörigkeitsrechts zu der Annahme berechtigt, dass sie aufgrund ihrer objektiven Gerichtetheit auf eine Ausgrenzung bzw. Aussperrung kurdischer Volkszugehöriger abzielt. Hierfür könnte zunächst der Umstand sprechen, dass viele kurdische Volkszugehörige, die Abkömmlinge der 1962 "ausgebürgerten" Kurden sind, nach wie vor staatenlos sind, obwohl bei ihnen nach dem syrischen Staatsangehörigkeitsgesetz die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Anerkennung oder einen Erwerb der syrischen Staatsangehörigkeit erfüllt sein mögen. Indessen kann nicht festgestellt werden, dass die vom syrischen Staat geübte (restriktive) Rechtspraxis in der Anwendung und Handhabung des syrischen Staatsangehörigkeitsrechts an die Ethnie der kurdischen Volkszugehörigen anknüpft. Es kann bereits nicht festgestellt werden, dass die Verwaltungspraxis syrischer Behörden bei der Anerkennung einer syrischen Staatsangehörigkeit Kurden ausnahmslos die staatsbürgerlichen Rechte verweigert. Vielen Kurden, die von der Ausbürgerung 1962 betroffen waren, ist es gelungen, ihre syrische Staatsbürgerschaft zurückzuerlangen, entweder indem sie die lokalen Amtswalter bestachen oder sich im Hinblick auf ihre beweisbaren Geburtsdaten oder Hausurkunden oder sonstige Dokumente (z. B. Steuererklärung) auf das Gesetz beriefen. So soll es zwischen 15.000 und 40.000 Kurden der 1962 Ausgebürgerten in der Zeit von Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre gelungen sein, die syrische Staatsbürgerschaft, wenngleich vorwiegend durch gute Beziehungen und Bestechung, zurückzuerlangen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.8.2007 - 15 A 1450/04.A -, juris Langtext Rdnr. 71 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.3.2006 - 3 L 327/03 -, juris Langtext Rdnr. 59 ff.). Dies lässt nicht darauf schließen, dass das Handeln der zuständigen Stellen und der für sie handelnden Amtswalter von dem Willen getragen ist, Kurden wegen ihrer Ethnie (generell) die syrische Staatsangehörigkeit zu verweigern.

47

Ferner ist, soweit es die Rechtspraxis syrischer Behörden bei der Anwendung des syrischen Staatsangehörigkeitsrechts betrifft, in Rechnung zu stellen, dass die aufgrund der Volkszählung von 1962 staatenlosen und nicht registrierten Kurden sowie ihre Abkömmlinge oftmals nicht über die erforderlichen Personaldokumente und Beweismittel verfügen, um den Nachweis zu führen, dass sie im Zeitpunkt ihrer Ausbürgerung die syrische Staatsangehörigkeit besaßen oder in Syrien geborene Abkömmlinge von Kurden sind, die staatenlos sind oder deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist. Dies gilt insbesondere für die unregistriert gebliebenen Kurden, die in keinem Personenstandsregister erfasst sind und auch keine Personaldokumente besitzen. Bei dieser Sachlage erscheint es nahe liegend, dass viele Kurden nicht den erforderlichen Beweis zu erbringen vermögen, dass sie die gesetzlichen Voraussetzungen nach dem syrischen Staatsangehörigkeitsgesetz erfüllen. Dass es hingegen eines solchen Beweises bedarf, folgt bereits unmittelbar aus dem syrischen Staatsangehörigkeitsgesetz, wonach derjenige, der die syrische Staatsangehörigkeit für sich reklamiert, den erforderlichen Nachweis hierfür führen muss. Art. 29 des syrischen Staatsangehörigkeitsgesetzes schreibt insoweit ausdrücklich vor, das die Beweislast auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsgesetzes bei demjenigen liegt, der den Besitz der Staatsangehörigkeit behauptet. Dabei dürfte es auch keinen Unterschied machen, ob bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für eine syrische Staatsangehörigkeit die Staatsbürgerschaft "automatisch" erworben wird oder ob es insoweit eines zusätzlichen Verfahrens zwecks Erwerbs des begehrten Status bedarf. Denn jedenfalls kann bei dem betroffenen Personenkreis keineswegs ausnahmslos vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen gemäß Art. 3 des syrischen Staatsangehörigkeitsgesetzes ausgegangen werden, da zur Gruppe der vom Zensus im Jahre 1962 betroffenen Kurden eben auch Personen gehörten, die - zumal aus der Sicht des syrischen Stellen - (im Einzelfall) auch eine andere (türkische oder irakische) Staatsangehörigkeit besaßen (vgl. zu dem Vorstehenden OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.8.2007 - 15 A 1450/04.A -, juris Langtext Rdnr. 75 ff.).

48

Es kann weiter nicht davon ausgegangen werden, dass die (restriktive) Rechtspraxis syrischer Behörden bei der Anwendung des syrischen Staatsangehörigkeitsrechts als Fortsetzung der vormals vom syrischen Staat betriebenen so genannten Arabisierungspolitik zu begreifen ist, soweit diese einer asylerheblichen programmatischen politischen Verfolgung gleichgesetzt wird. Die gegenwärtige Rechtspraxis bei der Anwendung des syrischen Staatsangehörigkeitsrechts lässt sich nicht als Fortsetzung einer Arabisierungspolitik in dem Sinne verstehen, dass sie etwa unverändert auf eine systematische bzw. programmatische Ausgrenzung der Kurden abzielen würde. Hierfür fehlt es an hinreichenden Anhaltspunkten, zumal wenn man berücksichtigt, dass viele staatenlose bzw. nicht registrierte Kurden zwischenzeitlich die syrische Staatsangehörigkeit (wieder) erworben haben und in Syrien über die Frage einer (Wieder- )Einbürgerung jener Kurden diskutiert wird, die im Jahre 1962 vom Zensus betroffen waren. So soll auch die syrische Regierung eingestanden haben, dass es bei der Volkszählung zu Fehlern gekommen sei; es habe deshalb in der Folgezeit die Möglichkeit bestanden, geeignete Unterlagen nachzureichen, um den Aufenthalt in Syrien vor 1945 zu beweisen und so die Staatsangehörigkeit wieder zu erlangen. Dies alles lässt darauf schließen, dass - selbst wenn man verbliebene Vorbehalte gegenüber den 1962 ausgebürgerten bzw. unregistrierten Kurden in Rechnung stellt und das Verwaltungshandeln nicht selten von Willkür und Korruption gekennzeichnet ist - eine programmatische Politik der Vertreibung, Ausbürgerung oder Ausgrenzung von Kurden aufgrund ihrer Ethnie von Amts wegen nicht (mehr) betrieben wird (vgl. zum Vorstehenden OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.8.2007 - 15 A 1450/04.A -, juris Langtext Rdnr. 76; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.3.2006 - 3 L 327/03 -, juris Langtext Rdnr. 64 f.).

49

Durch die Neufassung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist eine Veränderung dieser Rechtslage nicht eingetreten. Denn schon § 51 Abs. 1 AusIG bezog sich auf die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention und umfasste die flüchtlingsrechtliche Anerkennung bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A Nr. 2 GFK (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.5.2006 - 1 B 9.06 -, juris Langtext Rdnr. 5 f.). Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verlangte insofern schon bisher eine Anknüpfung der Einreiseverweigerung an eines der unverfügbaren, in Art. 1 A Nr. 2 GFK benannten Ausgrenzungsmerkmale (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.10.1985 - 9 C 30.85 -, NVwZ 1986, 759).

50

bb) Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bezüglich Syriens sind aber auch unabhängig von der beschriebenen Wiedereinreiseverweigerung seitens des syrischen Staates für unerlaubt ausgereiste staatenlose Kurden und den sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen nicht gegeben.

51

Die beschriebene Sach- und Rechtslage hat sich durch das Rückführungsabkommen dergestalt geändert, dass nunmehr nicht mehr ohne weiteres von der Unmöglichkeit einer Rückkehr der Beigeladenen nach Syrien ausgegangen werden kann. Nach Art. 2 Abs. 2 des Rückführungsabkommens übernimmt jede Vertragspartei jeden Drittstaatsangehörigen (hier: ggf. Türkei) oder jede staatenlose Person, wenn nachgewiesen oder glaubhaft gemacht wird, dass diese Personen nach einer Einreise in das Hoheitsgebiet oder einem Aufenthalt im Hoheitsgebiet der ersuchten Vertragspartei (hier: Syrien) unmittelbar in das Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei (hier: Deutschland) eingereist ist. Nach Aussage des Bundesinnenministers wird es auf der Grundlage dieses Rückführungsabkommens daher zukünftig möglich sein, nicht nur ausreisepflichtige syrische Staatsangehörige, sondern auch Drittstaatsangehörige und Staatenlose, wenn diese über einen Aufenthaltstitel oder ein Visum des syrischen Staates verfügen oder unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei (hier: Syrien) rechtswidrig eingereist sind, dorthin zurückzuführen. Von dem Rückführungsabkommen kann daher insbesondere auch die Gruppe der ohne Erlaubnis aus Syrien ausgereisten und sich in Deutschland ohne Aufenthaltstitel aufhältigen Kurden mit yezidischer Religionszugehörigkeit, aber ohne syrische Staatsangehörigkeit - zu der die Beigeladene gehört - betroffen sein (vgl. Pressemitteilung BMI vom 14.7.2008, zitiert nach http://www.bmi.bund.de; Antwort des Innenministers des Landes Niedersachsen auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Filiz Polat <Grüne>, Sitzung des Nds. Landtages am 14.11.2008 -, zitiert nach http://www.niedersachsen.de).

52

Auch wenn bisher naturgemäß Erfahrungen zu der Frage fehlen, ob das Rückführungsabkommen in absehbarer Zeit auch in Bezug auf bisher als staatenlose Kurden angesehene Personen in der Praxis in tatsächlicher Hinsicht zur Anwendung gelangt (zu beachten wird hierbei Art. 5 des Protokolls zur Durchführung des Rückführungsabkommens sein, der an den Nachweis des Aufenthalts und der Einreise bestimmte Anforderungen stellt) und der genannte Personenkreis daher nicht mehr von dem bisherigen Wiedereinreiseverbot belegt ist mit der Folge, dass er nunmehr wieder ungehindert nach Syrien einreisen kann, prüft der erkennende Senat auch, ob die Beigeladene die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Sache erfüllt. Diese Prüfung fällt für die Beigeladene negativ aus.

53

(1) Die Beigeladene war in Syrien als dem Land ihres bisherigen Aufenthalts nicht einer individuellen Vorverfolgung ausgesetzt. Gleiches gilt für eine abschiebungsschutzrelevante Verfolgung aus individuellen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt.

54

Ungeachtet dessen, ob nach der Neuregelung des § 60 Abs. 1 AufenthG durch die Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie Blutrache als Maßnahme eines Akteurs i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG überhaupt die Flüchtlingseigenschaft begründen kann, stellt sich diese Frage angesichts der Schutzbereitschaft des syrischen Staates vorliegend nicht. Während es gegen familiäre Gewalt in Syrien einen effektiven staatlichen Schutz nicht gibt und Täter so genannter "Ehrverbrechen", d. h. von Gewaltverbrechen an Frauen durch männliche Verwandte zur Unterbindung einer von diesen oder der Familie nicht akzeptierten tatsächlichen oder unterstellten Beziehung oder Ehe, weiterhin strafrechtlich privilegiert werden (vgl. hierzu Lagebericht Syrien des Auswärtiges Amtes vom 5.5.2008), sind Blutrachetaten in Syrien äußerst selten und werden als Verletzung des staatlichen Gewaltmonopols strafrechtlich geahndet. Bei Gefahr von Blutrache kann daher dagegen staatlicher Schutz erlangt werden. Die Täter haben bei Missachtung diesbezüglicher richterlicher Verwarnungen mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen, auch wenn es sich um arabische Familien handelt. Vollzogene Blutrachedelikte sind daher in Syrien äußerst selten (vgl. hierzu Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschl. v. 2.7.2003 - 3 Q 36/02 -, juris). Daher ist der syrische Staat in der Lage und willens, Schutz vor der behaupteten Verfolgung durch die Angehörigen des bei dem Unfall getöteten muslimischen Mädchens zu gewähren.

55

Hinzu kommt des Weiteren, dass das Vorbringen der Beigeladenen und das ihres Bruders zu den angeblichen Verfolgungshandlungen der Angehörigen des bei dem Verkehrsunfall um das Leben gekommenen muslimischen Mädchens nicht glaubhaft ist. Der Senat verweist insoweit auf die überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Urteil vom 20. September 2001 (S. 8 f. UA), denen er folgt und denen die Beigeladene in ihrer Berufung nichts entgegen gesetzt hat.

56

Da die Beigeladene weitere, auf ihre Person bezogene Umstände nicht vorgetragen hat, kann sie sich im Ergebnis nicht erfolgreich auf eine individuelle Verfolgung berufen.

57

(2) Die Beigeladene kann auch nicht mit Erfolg auf eine unmittelbare oder mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden und/oder Kurden in Syrien verweisen.

58

(a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa Urt. v. 22.10.2002 - 2 L 5141/98 -; Urt. v. 22.6.2004 - 2 LB 86/03 - und Urt. v. 30.9.2004 - 2 L 986/99 -) ist die ethnische Minderheit der Kurden in Syrien in der Vergangenheit und auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer gruppengerichteten Verfolgung nicht ausgesetzt (gewesen), und zwar auch nicht in Form einer so genannten mittelbaren, d. h. dem syrischen Staat ggf. zuzurechnenden, Gruppenverfolgung. Hiergegen wendet sich die Beigeladene in ihrer Berufung auch nicht.

59

(b) Seit dem Urteil vom 14. Juli 1999 - 2 L 4943/97 - geht der Senat des weiteren in Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (vgl. etwa Urt. v. 5.2.1997 - 2 L 3670/96 -) in nunmehr ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft aus dem Nordosten Syriens (Distrikt F.) jedenfalls im Zeitpunkt der Ausreise der Beigeladenen im Jahre 1999 und auch gegenwärtig einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung nicht ausgesetzt sind (vgl. zuletzt etwa Senat, Beschl. v. 4.12.2008 - 2 LA 566/08 - und Beschl. v. 7.6.2007 - 2 LA 416/07 -, juris). Hieran hält der Senat nach Überprüfung fest, zumal die Beigeladene mit ihrer Berufung keine Ausführungen verbindet, die eine andere Einschätzung rechtfertigen.

60

In der Rechtsprechung des Senats ist des Weiteren geklärt, dass Abschiebungsschutzsuchenden aus Syrien allein wegen ihrer illegalen Ausreise aus Syrien, der Stellung eines Asylantrages und des ggf. mehrjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Maßnahmen drohen, die (bisher) nach § 51 Abs. 1 AuslG und jetzt nach § 60 Abs. 1 AufenthG relevant sind. Nur wenn besondere Umstände hinzutreten, die geeignet sind, bei den syrischen Sicherheitskräften den Verdacht zu begründen, das sich die Betreffenden in Syrien oder im Ausland gegen das syrische Regime politisch betätigt haben, besteht für Rückkehrer die Gefahr, politisch verfolgt zu werden (vgl. nur Senat, Urt. v. 30.9.2004 - 2 L 986/99 -). Derartige Gründe sind bei der Beigeladenen nicht ersichtlich; solche hat sie auch nicht vorgetragen.

61

Ungeachtet dessen scheidet die Gewährung von Abschiebungsschutz auf der Grundlage von § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Syriens auch deshalb aus, weil die Beigeladene nach ihrem eigenen Vortrag türkische Staatsangehörige ist und sie sich deshalb nach dem auch dem Flüchtlingsrecht nach der Genfer Flüchtlingskonvention und mithin auch im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG geltenden Prinzips der Subsidiarität (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. v. 14.6.2005 - 1 B 142.04 -, juris Langtext Rdnr. 4 m. w. N.) darauf verweisen lassen muss, dass sie in der Türkei in hinreichendem Maß Schutz vor einer etwaigen Verfolgung in Syrien finden kann. Bei Personen, welche die Staatsangehörigkeit zumindest eines Nichtverfolgerstaates besitzen, kommt eine Anerkennung als Flüchtling nicht in Betracht, wenn sie den Schutz dieses Staates in Anspruch nehmen können. In der Türkei droht ihr - wie sogleich auszuführen ist - eine abschiebungsschutzrelevante Verfolgung jedenfalls nicht. Da nach dem oben Gesagten Derartiges aber auch in Syrien nicht droht, bedarf es keiner abschließenden Klärung der Fragen, ob die Beigeladene tatsächlich türkische Staatsangehörige ist und ob sie diese gegebenenfalls de jure bestehende Staatsangehörigkeit durchsetzen kann, sodass die Türkei als Staat ihrer Staatsangehörigkeit in tatsächlicher Hinsicht bereit und willens ist, sie in ihr Staatsgebiet einreisen und dort leben zu lassen.

62

b) Der Senat hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG auch hinsichtlich möglicher Verfolgung in der Türkei zu prüfen.

63

Dieses Land wird in den Blick genommen, weil Einiges dafür spricht, dass die Beigeladene über ihre Eltern tatsächlich türkische Staatsangehörige ist. Deshalb sind die Verhältnisse in der Türkei als Land der Staatsangehörigkeit ebenfalls maßgeblich. Aber auch die Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person der Beigeladenen hinsichtlich der Türkei erfüllt sind, fällt für diese nachteilig aus.

64

aa) Auf eine asyl- und abschiebungsschutzrechtlich relevante individuelle Vorverfolgung in der Türkei kann sich die Beigeladene naturgemäß nicht mit Erfolg berufen, da sie - abgesehen von ihrer behaupteten höchstens rund zweiwöchigen Durchreise im März und April 1999 auf dem Weg von Syrien nach Deutschland - nie in der Türkei gewesen ist und dort nie gelebt hat. Ein individuelles Verfolgungsschicksal in der Türkei hat die Beigeladene auch selbst nicht vorgetragen. Gleiches gilt für individuelle Nachfluchtgründe hinsichtlich der Türkei.

65

bb) Die Beigeladene kann sich auch nicht erfolgreich auf eine unmittelbare oder mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden und/oder Kurden in der Türkei berufen.

66

(1) Der 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat mit rechtskräftigem Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - (bestätigt durch BVerwG, Beschl. v. 23.4.2008 - 10 B 156/07 -) - gleich lautende Ausführungen finden sich in dem ebenfalls rechtskräftigen Urteil vom selben Tag in der Sache 11 LB 324/03 - zu der Frage der Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei Folgendes ausgeführt:

67

"… Der Senat geht … aufgrund der aktuellen Erkenntnislage in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung davon aus, dass eine asylerhebliche Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei seit etwa dem Jahr 2003 nicht mehr gegeben ist.

68

Das Bundesverwaltungsgericht hat die rechtlichen Maßstäbe für die Annahme einer Gruppenverfolgung wie folgt zusammengefasst (vgl. Urt. v. 1.2.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590 = InfAuslR 2007, 211 = AuAS 2007, 68 unter Hinweis auf das Urt. v. 18.7.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420):

69

Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung des Flüchtlings nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichtete Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Volkszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d,h, wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternativ besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss. Diese Grundsätze gelten prinzipiell auch für die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (§ 60 Abs. 1 Buchst. c AufenthG).

70

Ob die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung in einem bestimmten Herkunftsstaat vorliegen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (Urteil vom 18. Juli 2006, a.a.O. Rn. 24).

71

Dass diese Anforderungen auch für die Fälle besonders kleiner Gruppen gelten, hat das Bundesverwaltungsgericht im Beschluss vom 5. Januar 2007 - 1 B 59.06 - zu der hier interessierenden Gruppe der Yeziden in der Türkei ausdrücklich noch einmal betont. Dabei ist es von der vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 14. Februar 2006 (15 A 2119/02.A, juris) zugrunde gelegten Zahl von 363 Yeziden ausgegangen, die auf Angaben des Yezidischen Forum e.V. (M.) im Schreiben vom 3. Februar 2006 an Rechtsanwalt Z. (AA.) beruhten. Dies gelte - so das Bundesverwaltungsgericht weiter - selbst dann, wenn im Rahmen der wertenden Betrachtung im konkreten Einzelfall gegebenenfalls von „einer weiteren Quantifizierung der Verfolgungsschläge“ abgesehen werden könne.

72

Die genaue Zahl der gegenwärtig dauerhaft in der Türkei lebenden Yeziden ist schwierig festzustellen. Das Auswärtige Amt geht seit dem Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S. 26) davon aus, dass im Südosten der Türkei noch ca. 2.000 Yeziden leben (so auch Lagebericht vom 11.1.2007, S. 26 sowie Auskünfte v. 26.1.2007 an Nds. OVG, v. 20.1.2006 an OVG Sachsen-Anhalt u. v. 3.2.2004 an VG Braunschweig). Eine Zahl von 524 ständig in der Türkei lebenden Yeziden zum Stand 30. März 2006 ermittelte das Yezidische Forum e.V. (M.) in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2006. Allerdings war es noch im Jahr 2004 (Schreiben v. 8.8.2004 an Rechtsanwalt AB., AC.) von maximal 150 und im Jahr 2005 (Schreiben v. 3.2.2006 an Rechtsanwalt Z.) von 363 Personen ausgegangen. Diese Unterschiede hat das Yezidische Forum damit erklärt, dass es sich bei der Zahl von 150 lediglich um eine Schätzung gehandelt habe und die Zahl 363 deshalb zu niedrig gewesen sei, weil ein Additionsfehler vorgekommen und darüber hinaus versehentlich das Dorf AD. (kurdisch: AE.) im Kreis AF. (Provinz AG.) mit 103 Yeziden unberücksichtigt geblieben sei. Auch die in AH. lebende Europaabgeordnete AI., die yezidische Kurdin ist, gibt die Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden mit ca. 500 an; sie stützt sich dabei auf eine Auskunft der Europäischen Kommission (Die Situation der Yeziden in der Türkei v. 23.6.2006, in: Schriften des Europaparlaments). Der Sachverständige AJ., der Yezide ist und aus dem Dorf AK. (kurdisch: AL.), Kreis AF., stammt, ist im Gutachten vom 17. April 2006 an das OVG Sachsen-Anhalt aufgrund einer privaten Zählung von Anfang 2006 zu einer Zahl von 375 Yeziden gelangt; an anderer Stelle des Gutachtens spricht er von annähernd 400 Yeziden. In seiner Aufstellung fehlen aber einige yezidisch besiedelte Orte, wie etwa das Dorf AM. (Kreis AF.), in dem 40 yezidische Familien (so das Auswärtige Amt) bzw. 93 Yeziden (so das Yezidische Forum) ansässig sein sollen.

73

Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine genaue zahlenmäßige Erfassung der yezidischen Bevölkerung in der Türkei dadurch erschwert wird, dass es Yeziden gibt, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, sich aber zeitweilig auch für mehrere Monate in ihrer Heimat aufhalten (vgl. etwa AA, Auskunft v. 26.1.2007 an Nds. OVG). Allein in Deutschland sollen 25.000 bis 50.000 Yeziden leben, vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen; die größte Gruppe mit ungefähr 5.000 Personen soll sich im Landkreis AH. angesiedelt haben (vgl. Informationszentrum Asyl und Migration: Situation der Yeziden in Syrien und in Deutschland, März 2006, S. 24). Allerdings befinden sich darunter nicht nur Yeziden aus der Türkei, sondern auch aus Irak, Iran, Syrien und Ländern der ehemaligen Sowjetunion wie Georgien und Armenien. Es ist aber unstreitig, dass die meisten der in Deutschland lebenden Yeziden türkischer Herkunft sind. So hat etwa der Zeuge AN., der 1. Vorsitzender des Yezidischen Kulturzentrums in AH. und Umgebung ist, bei seiner Vernehmung vor dem Senat angegeben, dass von den ca. 600 Mitgliedsfamilien etwa 80 % aus der Türkei stammten.

74

Wie der Senat im Grundsatzurteil vom 28. Januar 1993 - 11 L 513/89 - (S. 16 f.) dargelegt hat, befinden sich die traditionellen Siedlungsgebiete der Yeziden in der Türkei vor allem in den südöstlichen Provinzen AO. (insbesondere in den Kreisen AP.), AQ. (insbesondere in den Kreisen AQ. und AR.) und AG. (Stadt und Kreis AF.). Dort sollen noch in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ca. 100.000 Yeziden gelebt haben (vgl. Sternberg-Spohr, Gutachten zur Situation der Yezidi-Kurden in der Türkei, Mai 1988). Diese Zahl war bereits aber Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts auf 10.000 bzw. 20.000 zurückgegangen (vgl. Sternberg-Spohr, a.a.O.; Deniz/Wießner vor VG Braunschweig am 11.10.1988). In den Folgejahren nahm die yezidische Bevölkerung in der Türkei weiter ab. Nach Schätzung von Sternberg-Spohr (Bestandsaufnahme der Restbevölkerung der Volksgruppe der kurdischen AS. in der Süd-Osttürkei, März/Oktober 1993) lebten 1993 eher unter als über 1.000 Yeziden noch in ihren angestammten Siedlungsgebieten. Nach den Feststellungen von AT. (Auskunft v. 15.7.1996 an Hess.VGH) waren die ehemals yezidisch besiedelten Dörfer in der Osttürkei bis auf wenige Restgruppen, in der Regel ältere Leute, deren Familienangehörige schon in Europa lebten, verlassen. Kizilhan (Die Yeziden, 1997, S. 56) spricht davon, dass bis auf ganz wenige Ausnahmen (einige hundert) alle Yeziden im Exil lebten. Diese Beobachtungen deckten sich mit den Ermittlungen des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 18. September 1998, wonach im Südosten der Türkei nur noch wenige, vor allem alte Yeziden lebten. Auch im Lagebericht vom 9. Oktober 2002 ist die Rede davon, dass im Südosten der Türkei nur noch wenige Yeziden lebten. Zugleich wird aber erstmals erwähnt, dass Presseberichten zufolge die Zahl der yezidischen Rückkehrer in letzter Zeit zunehme (S. 29 f.). Die genaue Zahl der Rückkehrer ist allerdings nicht bekannt. Während etwa die Europaabgeordnete AU. (a.a.O.) von lediglich 50 Personen spricht, geht das Auswärtige Amt von einem höheren Anteil aus, räumt aber gleichzeitig ein, dass die Betreffenden sich zeitweise (vor allem im Winter) in Deutschland aufhielten (Auskunft v. 26.1.2007 an Nds. OVG). Das Yezidische Forum hält die Rückkehrerzahlen des Auswärtigen Amtes für überhöht und weist darauf hin, dass die Versuche von vorwiegend älteren und männlichen Yeziden, sich in ihrer Heimat wieder anzusiedeln, inzwischen aufgrund der von ihnen erlittenen Gewalterfahrungen und anderer Schwierigkeiten überwiegend gescheitert seien (Anmerkungen v. 20.3.2007 zu der Auskunft des Auswärtigen Amtes v. 26.1.2007, a.a.O.). Einigkeit besteht aber darin, dass die meisten der in der Türkei ansässigen Yeziden, nämlich etwa drei Viertel, im Kreis und in der Stadt AF. sowie im Kreis AR. leben (vgl. AA, Auskünfte v. 26.1.2007 an Nds. OVG u. v. 20.1.2006 an OVG Sachsen-Anhalt; Yezidisches Forum, Schreiben v. 3.2.2006 an Rechtsanwalt Z. u. Stellungnahme v. 4.7.2006; AJ., Gutachten v. 17.4.2006 an OVG Sachsen-Anhalt). Allein in der Stadt AF. sollen nach der Zählung von AJ. (a.a.O.) 74 Yeziden in dem Stadtteil „AV.“ leben, der auch „Yezidenviertel“ genannt werde (Anhörung am 30.4.2003 im Verfahren 1 A 389/02 des VG Hannover). In dem Dorf AW. (Kreis AR.), aus dem der Kläger stammt, leben nach Angaben des Yezidischen Forums und des vom Senat angehörten Zeugen AX. vier yezidische Familien mit 18 Personen; das Auswärtige Amt geht sogar von sechs yezidischen Familien aus. Eine gewisse Anzahl von Yeziden lebt zudem in Dörfern der Kreise AY. und AZ., wobei die berichteten Zahlen zwischen ca. 70 (Yezidisches Forum) und 200 (Auswärtiges Amt) liegen.

75

Letztlich kann die genaue Zahl der im Südosten der Türkei dauerhaft lebenden Yeziden dahinstehen. Selbst wenn man lediglich von 500 bis 600 Personen ausgeht, sind nach Auffassung des Senats die Voraussetzungen für die Annahme einer an die Religion anknüpfenden Gruppenverfolgung nicht (mehr) erfüllt. Nach Auswertung der dazu vorliegenden Erkenntnismittel ist jedenfalls davon auszugehen, dass etwa seit dem Jahr 2003 keine so dicht und eng gestreuten Verfolgungsschläge vorliegen, dass jedes Gruppenmitglied damit rechnen müsste, alsbald in eigener Person getroffen zu werden. Im Übrigen lässt sich nicht feststellen, dass der türkische Staat bei Übergriffen von muslimischen Nachbarn gegen Yeziden grundsätzlich keinen Schutz gewährt.

76

Religiöse oder religiös motivierte Verfolgung ist allgemeiner Ansicht nach politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn sie nach Art und Schwere geeignet ist, die Menschenwürde zu verletzen und über das hinausgeht, was die Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341, 357; Urt. v. 1.7.1987 - 2 BvR 478/96 u.a. -, BVerfGE 76, 143, 158; BVerwG, Urt. v. 18.2.1986 - 9 C 16.85 -, BVerwGE 74, 31; Marx, Kommentar zum AsylVfG, 6. Aufl., § 1 Rn. 48). Es muss sich um Maßnahmen handeln, die den Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeit ähnlich schwer treffen wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit, etwa wenn sie ihn seiner religiösen Identität berauben, indem ihm etwa unter Androhung von Strafen für Leib, Leben oder persönlicher Freiheit eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Inhalte seiner Glaubensüberzeugung zugemutet wird oder er daran gehindert wird, seinen eigenen Glauben, so wie er ihn versteht, im privaten Bereich und zusammen mit anderen Gläubigen zu bekennen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1.7.1987, a.a.O., S. 158 ff.). Art. 16 a GG (und auch § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) schützen daher vor Verfolgung im privaten Bereich und damit zumindest das „religiöse Existenzminimum“. Allerdings ist der Schutzbereich der Religionsfreiheit durch Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie 2004/83/EG des Rats vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie) auf die öffentliche Glaubensbetätigung erweitert worden (vgl. OVG des Saarlandes, Beschl. v. 26.3.2007 - 3 A 30/07 -, juris; Nds. OVG, Urt. v. 19.3.2007 - 9 LB 373/06 -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.11.2006 - A 2 S 1150/04 -, juris; Marx, a.a.O., § 1 Rn. 206). Die Vorgaben dieser Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 abgelaufen ist, sind solange unmittelbar anzuwenden, bis die noch ausstehende Transformierung in das deutsche Recht erfolgt ist (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.11.2006, a.a.O.).

77

Religiös oder religiös motivierte Verfolgung kann verschiedene Formen annehmen. Neben der Verletzung der Religionsfreiheit als solcher können zu den asylerheblichen Verfolgungshandlungen auch Angriffe auf Leib, Leben, Freiheit oder Eigentum von religiösen Minderheiten gehören, die nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit auf die (andersartige) Glaubenszugehörigkeit zurückzuführen sind (sog. interreligiöse Verfolgung). In diesen Fällen sind die Verfolger zumeist nichtstaatliche Akteure (vgl. Marx, a.a.O., § 1 Rn. 209), deren Verfolgungshandlungen aber dem Staat zuzurechnen sind, wenn er den Betroffenen den ihm an sich möglichen Schutz nicht gewährt. Der erkennende Senat hat für das hier maßgebliche Verhältnis von (strenggläubigen bzw. fundamentalistischen) Moslems zu Yeziden im Grundsatzurteil vom 28. Januar 1993 (a.a.O., S. 18) Folgendes ausgeführt:

78

Das Verhalten der Moslems gegenüber den Yeziden wird dadurch bestimmt, dass die Religion der Yeziden nicht zu den sog. Buchreligionen gehört, denen der Islam „Duldung“ gewährt, was religiösen Schutz bis zur Bekehrung garantiert. Maßgebend ist zudem, dass die Yeziden in den Augen der Moslems vor allem durch ihren Glauben an den neben Gott existierenden und zur Herrschaft über die Welt berufenen Melek Taus die Einzigartigkeit Gottes leugnen, was nach islamischem Gesetz als Sünde gilt, die mit dem Tod bestraft werden muss; wegen der Verehrung des Melek Taus gelten die Yeziden bei den Moslems als Teufelsanbeter. Die gläubigen Moslems nehmen an der Religion der Yeziden aber auch deshalb Anstoß, weil diese nicht - wie der Islam - öffentlich, sondern grundsätzlich geheim ausgeübt wird, weil Melek Taus im Bilde verehrt wird, was im Widerspruch zum Bilderverbot des Koran steht, und weil sie den Verdacht hegen, dass während der geheimen Kulthandlungen der Yeziden sexuelle Orgien stattfinden.

79

Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats seit dem oben genannten Grundsatzurteil (a.a.O.) waren glaubensgebundene Yeziden in ihren traditionellen Siedlungsgebieten im Südosten der Türkei zumindest seit 1988/89 wegen ihrer Religionszugehörigkeit einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung durch die muslimische Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt, der sie sich auch nicht durch Ausweichen in andere Landesteile entziehen konnten. Diese Einschätzung stand in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte. Für den Senat waren dafür folgende Erwägungen maßgeblich: Yeziden seien einer Vielzahl von Übergriffen wie Tötungen, Folterungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Entführungen, Raub, Ernte- und Viehdiebstahl sowie Aneignung von Land ausgesetzt. Dabei handele es sich größtenteils um politische Verfolgungsmaßnahmen, weil sie nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit an die Zugehörigkeit der Opfer zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden und der für Moslems daraus resultierenden religiösen Minderwertigkeit und Rechtlosigkeit anknüpften. Die Verfolgungsmaßnahmen seien auch dem türkischen Staat zuzurechnen, weil er nicht bereit sei oder - obwohl er dazu imstande wäre - sich nicht in der Lage sehe, die ihm an sich verfügbaren Mittel einzusetzen, um Yeziden vor Übergriffen zu schützen bzw. Übergriffe gegen Yeziden in gleicher Weise wie solche gegen Moslems zu ahnden. An dieser Rechtsprechung hat das erkennende Gericht bis ins Jahr 2003 hinein festgehalten (vgl. etwa Senatsurt. v. 23.11.2000 - 11 L 1730/00 -; Senatsbeschl. v. 20.5.2003 - 11 LA 51/03 -; Urt. d. 2. Sen. v. 8.5.2002 - 2 L 7534/95 -). Allerdings begann das Verwaltungsgericht Hannover - 1. Kammer - etwa ab dem Jahr 2000 damit, immer mehr Ausnahmen von der Regelvermutung einer Gruppenverfolgung anzunehmen. Dies ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 5.7.1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200) dann zulässig, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass ein einzelner Gruppenzugehöriger (oder eine Familie) von der Gruppenverfolgung aufgrund besonderer Umstände ausgenommen ist. Dies hat das Verwaltungsgericht Hannover für bestimmte yezidisch besiedelte Dörfer in der Türkei zunehmend angenommen, da dort noch zahlreiche Yeziden wohnten, ohne einem asylerheblichen Verfolgungsdruck ausgesetzt zu sein. Spätestens mit Urteil vom 30. April 2003 - 1 A 389/02 - hat es dann eine (vollständige) Abkehr von der Rechtsprechung des Senats vollzogen und ausgeführt, dass im Hinblick auf die inzwischen eingetretene Entwicklung eine flächendeckende Verfolgung der Yeziden in der Türkei nicht mehr angenommen werden könne. Daraufhin hat der Senat auf den Antrag der dortigen Kläger mit Beschluss vom 9. Oktober 2003 die Berufung zugelassen, weil es grundsätzlich klärungsbedürftig sei, ob nicht mehr von einer landesweiten mittelbaren Verfolgung yezidischer Glaubenszugehöriger in der Türkei ausgegangen werden könne. Über jenes Berufungsverfahren (11 LB 324/03) hat der Senat heute ebenfalls entschieden.

80

Das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht (Urt. v. 29.9.2005 - 1 LB 39/04 -) und das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 14.2.2006 - 15 A 2119/02.A -) haben unter Änderung ihrer bisherigen Rechtsprechung mittlerweile eine Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei verneint. Während das Bundesverwaltungsgericht der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das genannte Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts wegen Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht stattgegeben und die Sache zurückverwiesen hat, weil dieses einem Antrag auf Erhebung von Sachverständigenbeweis zu Unrecht nicht nachgegangen sei (Beschl. v. 24.5.2006 - 1 B 128.05 -), hat es die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das genannte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen (Beschl. v. 5.1.2007 - 1 B 59.06 -), so dass jenes rechtskräftig geworden ist.

81

Auf den Kläger des vorliegenden Verfahrens ist nicht der normale Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, sondern der für ihn günstigere Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit anzuwenden. Dieser sog. herabgestufte Prognosemaßstab kommt dem Kläger deshalb zugute, weil jedenfalls im Zeitpunkt seiner Ausreise im Juli 2001 nach der damaligen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (ebenso OVG NRW, Urt. v. 23.7.2003 - 8 A 3920/02.A -) eine mittelbare staatliche Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei bestand. Da der Kläger seinerzeit in dem Yezidendorf AW. lebte, ist zu unterstellen, dass er als Angehöriger der yezidischen Glaubensgemeinschaft eine Vorverfolgung erlitten hat (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.5.2006, a.a.O.; Urt. v. 30.4.1996, a.a.O.; Urt. v. 23.2.1988 - 9 C 85.87 -, BVerwGE 79, 79). In Anwendung dieses Maßstabs und unter Auswertung des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials geht der Senat in Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (a.a.O.) und des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts (a.a.O.) davon aus, dass die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei entfallen sind.

82

Die Sicherheitslage der Yeziden in der Türkei hat sich nach Auffassung des Senats in den letzten Jahren entscheidungserheblich verbessert. Auch das Yezidische Forum (Schreiben v. 3.2.2006 an Rechtsanwalt Walliczek) räumt ein, dass sich die Situation der Yeziden in ihrer Herkunftsregion im Vergleich zu den Jahren zwischen 1980 und 2000 beruhigt habe. Es weist allerdings einschränkend darauf hin, dass es noch genügend - im Einzelnen bezeichnete - Fälle gebe, die belegten, dass Yeziden in der Türkei nach wie vor nicht verfolgungsfrei leben könnten (Stellungnahme v. 4.7.2006). Dagegen sind nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 11.1.2007, S. 26) seit mehreren Jahren keine religiös motivierten Übergriffe von Muslimen gegen Yeziden bekannt geworden. Der Senat wird später auf diese unterschiedliche Bewertung näher eingehen. Festzuhalten ist aber schon an dieser Stelle, dass es eine Reihe von Tatsachen und Indizien gibt, die dafür sprechen, dass Yeziden in der Türkei nunmehr vor politischer Verfolgung in ihrer Heimatregion hinreichend sicher sind.

83

Bereits für den Zeitraum ab dem Jahr 2000 hatte das Verwaltungsgericht Hannover nach Auswertung zahlreicher bei ihm anhängig gewesener Klageverfahren festgestellt, dass einerseits in Deutschland lebende Yeziden vorübergehend oder endgültig in die Türkei zurückgekehrt waren und dass andererseits in der Türkei lebende Yeziden nach einem Besuch von Verwandten in Deutschland wieder in die Türkei zurückgekehrt waren (vgl. dazu d. Urt. v. 30.4.2003 - 1 A 389/02 - nebst Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom selben Tag). Das Verwaltungsgericht hat aus diesem Verhalten den durchaus naheliegenden Schluss gezogen, dass die betreffenden Yeziden selbst ihre Situation in der Türkei nicht mehr als bedrohlich empfanden. Ferner hatte das Gericht erfahren, das in Deutschland verstorbene Yeziden in die Türkei überführt und dort teilweise in Begleitung des Peshimams Kani Cengil nach religiösem Ritus beigesetzt worden waren (a.a.O.). Diese Entwicklung hat sich in der Folgezeit bis heute noch verstärkt. Allein die in der mündlichen Verhandlung des Senats vernommenen drei Zeugen, die in Deutschland lebende Yeziden aus der Türkei sind, haben ihre Heimat im Zeitraum von 2004 bis 2006 viermal (Günay) bzw. je einmal (AX. und AN.) besucht. Die Reisen von in Deutschland lebenden Yeziden in die Türkei dienen u. a. auch dem Zweck der Klärung von eigentumsrechtlichen Fragen. Denn die ihnen gehörenden Ländereien waren teilweise von muslimischen Nachbarn in Besitz genommen und bewirtschaftet worden (vgl. etwa AA, Lagebericht v. 19.5.2004, S. 26). Außerdem halten sich im Bundesgebiet lebende Yeziden, die in der Türkei Grundeigentum haben, zeitweise in ihren Heimatdörfern auf, um ihre Felder zu bestellen und die Ernte einzubringen (vgl. Baris, Gutachten v. 17.4.2006 an OVG Sachsen-Anhalt). Darüber hinaus sind auch Yeziden in ihre Heimat zumindest vorübergehend zurückgekehrt, um ihre zurückgelassenen Häuser instand zu setzen oder neue zu errichten (vgl. dazu etwa die in der Stellungnahme des Yezidischen Forums v. 4.7.2006 unter Nr. 1 und 6 genannten Fälle). Ferner ist auf die im Reisebericht einer yezidischen Delegation aus Deutschland beschriebenen Bemühungen zur Wiederbesiedlung des Dorfs BA. (kurdisch: BB.), Kreis BC., Provinz BD., in den Jahren 2005 und 2006 zu verweisen. An diesen Reisen haben 10 (2005) bzw. 11 Personen (2006) teilgenommen.

84

Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (Auskunft v. 26.1.2007, a.a.O.) ist der „Grundbesitzerwerb“ durch Yeziden gestiegen. Einem Zeitungsbericht zufolge, der sich u.a. auf die Angaben von türkischen Grundbuch- und Katasterämtern stütze, hätten im Zeitraum von 2001 bis 2006 rund 7.000 Yeziden in der Türkei Immobilien erworben und bereits vorhandene restauriert. Auch hätten sie erfolgreich rechtliche Schritte eingeleitet, um die früher von ihnen bewohnten Häuser und bewirtschafteten Felder zurück zu erhalten. Ob die vom Auswärtigen Amt wiedergegebene Größenordnung stimmt, was das Yezidische Forum in seinen Anmerkungen vom 20. März 2007 zu dieser Auskunft bezweifelt, kann dahinstehen. Jedenfalls ist es unstreitig, dass es Yeziden seit Ende 2001 vermehrt gelungen ist, mit Hilfe von türkischen Behörden und Gerichten ihre Eigentumsrechte durchzusetzen. Beispielhaft seien in diesem Zusammenhang genannt: Das Urteil des erstinstanzlichen Zivilgerichts AQ. vom 24. Dezember 2001, mit dem Yeziden die Rückgabe ihrer Häuser in BE. (kurdisch: BF.) im Kreis AQ., die zwischenzeitlich von Moslems in Besitz genommen worden waren, erreichten (vgl. AA, Auskunft an VG Braunschweig v. 3.2.2004), und die gerichtlich erstrittene Rückgabe des von muslimischen Dorfschützern besetzten yezidischen Dorfes BA. an die yezidischen Eigentümer im Oktober 2004 durch die türkische Armee (vgl. NZZ v. 20.11.2004; Özgür Politika v. 15. u. 18.10.2004; Reisebericht der yezidischen Delegation aus Kiwex; Yezidisches Forum, Stellungnahme v. 4.7.2006). Allerdings räumt auch das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 11.1.2007, S. 26) ein, dass noch Probleme bei der (Wieder- )Eintragung von Eigentumsrechten an Grundstücken bestünden, zumal in Teilen dieser Gebiete ein Grundbuchwesen erst im Aufbau begriffen sei.

85

Die wachsende Zahl von Reisen in die Türkei ist des Weiteren darauf zurückzuführen, dass Yeziden den Wunsch ihrer in Deutschland verstorbenen Angehörigen respektieren, in ihrer Heimat bestattet zu werden. Der Zeuge AN. hat bei seiner Vernehmung ausgesagt, dass sich etwa die Hälfte der verstorbenen Mitglieder des Yezidischen Kulturzentrums in AH. und Umgebung in der Türkei habe beerdigen lassen. Zur Unterbringung von Trauergästen aus dem Ausland wurde in AW. sogar ein sog. „Yezidisches Haus“ gebaut, in dem sich auch ein Raum für Trauerfeiern befindet (vgl. Yezidisches Forum, Stellungnahme v. 4.7.2006; AA, Auskunft v. 26.1.2007, a.a.O.; Özgür Politika v. 8.5.2004). Außer in AW. gibt es mindestens noch an zwei weiteren Orten im Südosten der Türkei yezidische Friedhöfe, nämlich in BA. und BG. (kurdisch: BH.) im Kreis AY.. Der Zeuge BI., der aus dem Dorf BG. stammt und seit 1988 in Deutschland lebt, hat vor dem Senat erklärt, dass im Jahr 2004 auf dem yezidischen Friedhof in BG. seine Tochter und im Jahr 2005 sein Onkel, der ebenfalls in Deutschland gelebt habe, beerdigt worden seien. Einen weiteren Friedhof scheint es in BJ. (kurdisch: BK.) zu geben, da dort der am 23. Juli 2005 in Deutschland verstorbene BL. beerdigt worden ist (Auskunft der Botschaft Ankara v. 26.10.2005 an das Bundesamt). An dieser Beerdigung sollen auch mehrere yezidische Besucher aus Deutschland teilgenommen haben. Die Botschaft Ankara teilte ferner mit, dass BM. sich zuletzt vom 5. bis zum 28. Oktober 2004 in der Türkei aufgehalten habe. Während jenes Besuches hatte er an der Veranstaltung zur Rückgabe des Dorfes BA. an die früheren yezidischen Bewohner teilgenommen, auf der auch offizielle Vertreter des türkischen Staates zugegen waren (vgl. Özgür Politika v. 16.10.2004).

86

Zudem lässt sich weiterhin feststellen, dass in der Türkei lebende Yeziden, die zu Besuchszwecken in Deutschland waren, wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Dies hat auch der Zeuge AN. bei seiner Vernehmung bestätigt. Er hat in diesem Zusammenhang die Brüder BN. erwähnt, die in AR. den „Verein für soziale Unterstützung und Kultur für Yeziden aus AQ.“ mitgegründet hatten (vgl. AA, Auskunft v. 26.1.2007, a.a.O.). Nach Angaben von AN. haben sich die Brüder BN. eine Zeit lang in Deutschland aufgehalten, bevor sie vor kurzem wieder in die Türkei zurückgekehrt seien. Auch dies deutet darauf hin, dass die Verhältnisse in ihrer Heimatregion ein verfolgungsfreies Leben zulassen.

87

Dagegen haben sich die Erwartungen an eine dauerhafte Rückkehr von in Deutschland lebenden Yeziden nur in einem geringen Umfang erfüllt. Während noch im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. August 2003 (S. 31) davon gesprochen worden war, dass Presseberichten zufolge die Zahl der yezidischen Rückkehrer in letzter Zeit zunehme, findet sich bereits im folgenden Lagebericht vom 19. Mai 2004 die Einschränkung, dass dies „auf sehr bescheidenem Niveau“ geschehe (S. 26). Im Juli 2003 suchten Mitarbeiter der Deutschen Botschaft Ankara im Rahmen einer Dienstreise, an der offenbar auch Vertreter des Bundesamtes teilnahmen, Orte in den Kreisen AR. und AF. auf (vgl. Türkei-Reisebericht aus dem Südosten, in: Schriften des Bundesamtes - Informationszentrum Asyl und Migration -, September 2003; AA, Auskunft v. 3.2.2004 an VG Braunschweig). Bei Gesprächen mit dortigen Yezidenvertretern wurde ihnen mitgeteilt, dass in die Dörfer BE. (kurdisch: BF.), BO. (kurdisch: BP.) und BQ. (kurdisch: BR.), alle in der Provinz AQ. gelegen, insgesamt 15 Familien zurückgekehrt seien. Eine Ortsbesichtigung in BE. habe gezeigt, dass die vier aus Deutschland zurückgekehrten Familien offensichtlich in einem vergleichsweise bescheidenen Wohlstand lebten. Anlässlich des Besuchs im BS. (Kreis AF.), das ebenfalls einen für diese Region vergleichsweise wohlhabenden Eindruck gemacht habe, habe der Dorfvorsteher den Wunsch nach Rückkehr der nach Europa ausgewanderten Yeziden geäußert, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, ihm sei nicht bekannt, dass Yeziden aus Deutschland bisher dauerhaft in die Region AF. zurückgekehrt seien. Das Auswärtige Amt hat in der Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) aufgrund von Nachforschungen durch einen Vertrauensanwalt im Herbst 2006 bestätigt, dass in den genannten Dörfern BE., BQ. und BO. Yezidenfamilien, die aus Deutschland zurückgekehrt seien, weiterhin lebten. Wie in anderen Yezidendörfern auch lebten zudem weitere Familien abwechselnd in Deutschland (vor allem im Winter) und im Südosten der Türkei. Einige andere Familien bereiteten die Rückkehr in ihre Heimatorte vor. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der Provinzgouverneur von AQ. einem Bericht von CNN Türk vom 16. August 2005 zufolge das Dorf BT. (kurdisch: BU. im Kreis AR. besucht und den nach elf Jahren zurückgekehrten Yezidenfamilien Hilfe zugesagt habe (Auskunft der Botschaft Ankara v. 26.10.2005 an das Bundesamt). Andererseits sollen einzelne Yeziden aus Deutschland, die ursprünglich beabsichtigt hatten, in der Türkei dauerhaft zu bleiben, wieder zurückgekehrt sein (vgl. dazu etwa die Fälle Nr. 1, 6 u. 9 in der Stellungnahme des Yezidischen Forums v. 4.7.2006 sowie die Aussage des Zeugen AN., dass ein Onkel von ihm nach einigen Jahren wieder nach Deutschland zurückgekehrt sei).

88

Dass bisher nur relativ wenige im Ausland lebende Yeziden dauerhaft in ihre Heimat zurückgekehrt sind, ist aber kein Beleg für das Fortbestehen einer Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei. Denn nach Auffassung des Senats sind dafür keine asylerheblichen Gründe ausschlaggebend.

89

Auch die Yeziden hatten im Südosten der Türkei unter den dortigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und der PKK zu leiden, insbesondere begünstigten diese die Landnahme durch kurdische Moslems (vgl. AA, Lagebericht v. 19.5.2004, S. 26). Aufgrund des seit Anfang 2000 bestehenden Waffenstillstandes beruhigte sich aber die Lage. Allerdings kam es im Juni 2004 zu einem Wiederaufleben der bewaffneten Auseinandersetzungen, die seitdem - mit Unterbrechungen - anhalten (vgl. AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 20 f.). Die Kampfhandlungen erreichen jedoch nicht die Intensität, mit der sie früher geführt worden waren. Das Wiederaufflammen der Kämpfe hat aber zur Folge, dass in den davon betroffenen Gebieten das Leben unsicherer geworden ist. Dazu gehört beispielsweise auch das Dorf BA.. So heißt es in dem „Reisebericht der yezidischen Delegation aus Kiwex“, dass es auch in unmittelbarer Nähe des Ortes zu Auseinandersetzungen zwischen der PKK-Guerilla und der türkischen Armee komme. Die politische Lage in der Gegend sei sehr instabil und es bestehe Lebensgefahr. Wie jüngeren Zeitungsmeldungen zu entnehmen ist, fand noch im Mai 2007 eine Offensive des türkischen Militärs gegen die PKK in der dortigen Region BD. statt (Die Welt v. 9.5.2007). Dass die Yeziden angesichts dessen derzeit nicht bereit sind, sich auf Dauer in dieser Gegend anzusiedeln, erscheint nur zu verständlich.

90

Erschwerend kommt hinzu, dass Rückkehrer auch auf erhebliche soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten stoßen. Die Lebensverhältnisse in der Türkei sind weiterhin durch ein starkes West-Ost-Gefälle geprägt (vgl. AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 43). Die wirtschaftlichen Bedingungen im Südosten und damit auch in den traditionellen yezidischen Siedlungsgebieten, die noch semifeudal strukturiert und wenig entwickelt sind, sind wesentlich schlechter als im Westen der Türkei; dies gilt auch für die medizinische Versorgung (vgl. AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 18 f. u. 46).

91

Dass das Interesse an einer Rückkehr der in Westeuropa lebenden Yeziden in die Türkei offensichtlich gering ist, erklärt sich auch damit, dass die meisten von ihnen schon vor langer Zeit ausgewandert sind und inzwischen in die Gesellschaft ihrer Aufnahmeländer integriert sind. Sie sind in der Regel als Asylberechtigte anerkannt oder verfügen zumindest über ein Bleiberecht. Nach Angaben des Yezidischen Forums (Stellungnahme v. 4.7.2006) ist sogar etwa ein Viertel der in Deutschland lebenden Yeziden eingebürgert. Auch die in der mündlichen Verhandlung des Senats vernommenen drei Zeugen sind im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Dass besonders die jüngeren Familienmitglieder, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind, keine große Bereitschaft zeigen, im Herkunftsland ihrer Eltern zu leben, ist ebenfalls nachvollziehbar. Darauf weist auch das Yezidische Forum in seinem Schreiben vom 3. Februar 2006 an Rechtsanwalt Z. hin.

92

Ein weiteres Hindernis für eine Wiederansiedlung von Yeziden im Südosten der Türkei stellt der Widerstand von Teilen der dort ansässigen muslimischen Bevölkerung dar. Die Rückkehrer haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich in Schikanen, Einschüchterungsversuchen und gewalttätigen Angriffen äußern. Dabei handelt es sich aber nach Auffassung des Senats jedenfalls nicht vorrangig um Übergriffe, die an die yezidische Religionszugehörigkeit anknüpfen. Vielmehr sind dafür andere Ursachen maßgebend. Im Vordergrund stehen Auseinandersetzungen zwischen Yeziden und benachbarten Moslems über Eigentums- und Besitzfragen. Insbesondere die kurdischen Großgrundbesitzer und Stammesfürsten (sog. Agas) und die mit ihnen verbündeten Dorfschützer, die yezidische Dörfer besetzt und die dazu gehörenden Ländereien bewirtschaftet hatten, stehen der Rückkehr von Yeziden ablehnend gegenüber. Es wird in diesem Zusammenhang berichtet, dass seitens dieser Kräfte auch versucht wird, Rückkehrer durch Androhung von Gewalt zu vertreiben. Ferner darf der soziale Neid nicht unterschätzt werden, der den zum Teil finanziell besser gestellten Rückkehrern entgegenschlägt. Mit ähnlichen Schwierigkeiten haben aber auch andere Rückkehrer, wie etwa die syrisch-orthodoxen Christen im BV. oder sogar muslimische Kurden, zu kämpfen (vgl. AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 26; Senatsurt. v. 21.6.2005 - 11 LB 256/02 -).

93

Im Übrigen ist festzustellen, dass Yeziden in der Türkei mittlerweile verstärkt mit effektivem staatlichen Schutz rechnen können. So haben beispielsweise - wie bereits dargestellt - yezidische Grundeigentümer in BE. Ende 2001 ihre Eigentumsrechte mit gerichtlicher Hilfe durchgesetzt und haben türkische Behörden im Oktober 2004 die widerrechtliche Inbesitznahme des Dorfes BA. durch Dorfschützer beendet. Darüber hinaus machen aber selbst einige der von dem Kläger und dem Yezidischen Forum angeführten Fälle deutlich, dass staatliche Stellen im Unterschied zu früher Anzeigen und Strafanträge von Yeziden entgegennehmen und Ermittlungen aufnehmen und dass auch ein wirksamer Rechtsschutz durch Gerichte grundsätzlich gewährleistet ist. Dass gegen muslimische Beschuldigte eingeleitete strafrechtliche Verfahren mitunter mangels Beweises eingestellt werden oder auch zivilgerichtliche Urteile manchmal wegen Beweisschwierigkeiten zu Ungunsten von Yeziden ausfallen, ist kein Grund, an der staatlichen Schutzbereitschaft zu zweifeln. Abgesehen davon ist es keiner staatlichen Ordnungsmacht - auch in Westeuropa - möglich, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.1.1991, a.a.O.).

94

Zur Verbesserung der Lage der Yeziden haben auch die in den letzten Jahren in der Türkei allgemein festzustellenden politischen und rechtlichen Veränderungen wesentlich beigetragen. Bei den Parlamentswahlen vom 3. November 2002 errang die konservative, gemäßigt islamische AKP (Gerechtigkeits- und Aufbaupartei) unter ihrem Vorsitzenden Erdogan, der später Ministerpräsident wurde, die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Der schon von der Vorgängerregierung eingeleitete Reformkurs wurde mit einer Vielzahl von Verfassungs- und Gesetzesänderungen fortgeführt mit dem Ziel, die Voraussetzungen für eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union zu erfüllen. Dazu gehören auch die Wahrung der Menschenrechte und der Schutz von religiösen und ethnischen Minderheiten. Die eingeleiteten Justizreformen haben die Rechtsstaatlichkeit gestärkt. Allerdings wird seit Anfang 2005 eine stagnierende Entwicklung in manchen Bereichen beklagt. Insbesondere werden bei der Umsetzung der Reformen nur mäßige Fortschritte erzielt. Der erforderliche Mentalitätswechsel hat noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst. Die türkische Regierung setzt sich aber durch Erlasse und personelle Maßnahmen nachdrücklich dafür ein, die sachgerechte Anwendung der Gesetze auch in entlegenen Teilen des Staatsgebietes sicherzustellen. Im Rahmen dieses Bestrebens sind die türkischen Staatsorgane zunehmend bereit und in der Lage, verfolgte Minderheiten und auch die Yeziden gegen Übergriffe Dritter zu schützen (vgl. zum Vorstehenden AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 5, 7 u. 10). Dass derartige Maßnahmen auch deshalb ergriffen werden, um das Ansehen der Türkei im Ausland und die Chancen auf einen EU-Beitritt nicht zu gefährden, vermag die Ernsthaftigkeit dieser Politik nicht in Frage zu stellen. Soweit der Kläger und das Yezidische Forum demgegenüber bezweifeln, dass rechtsstaatliche Verfahrensweisen in der Türkei die Regel seien und insbesondere Yeziden ausreichenden Schutz bei Behörden und Gerichten fänden, vermag der Senat diesem pauschalen Vorwurf nicht zu folgen.

95

Ebenso wenig gibt es tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die auch in der Türkei in Teilbereichen zu beobachtende Reislamisierung zu einer Zunahme von asylerheblichen Übergriffen auf Yeziden geführt hat. Zwar versteht sich die Regierungspartei AKP als konservativ-islamisch, doch liegen über staatliche Repressionsmaßnahmen gegen Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften keine Erkenntnisse vor; ebenso ist die individuelle Religionsausübung im Allgemeinen gewährleistet (vgl. AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 5, 14 u. 23 ff.). Seit April 2006 ist auch die Angabe der Religionszugehörigkeit in personenbezogenen Papieren wie dem Personalausweis nicht mehr vorgeschrieben (AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 25). Dagegen fehlt einigen nicht-muslimischen Minderheiten - wie syrisch-orthodoxen Christen und Yeziden - noch immer die rechtliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft (vgl. NZZ v. 20.11.2006). Auch sind in letzter Zeit religiös motivierte Anschläge gegen christliche Glaubensangehörige in der Türkei verübt worden. Die Täter gehörten der extremen rechten Szene an, in der sich nationalistische und islamistische Ideen miteinander verbinden. Es lässt sich aber nicht feststellen, dass die türkische Regierung diesen Tendenzen Vorschub leistet oder sie toleriert. Nach den Morden an drei Angestellten eines christlichen Bibelverlags in BW. Mitte April 2007 erklärte Ministerpräsident Erdogan: „Wir haben 36 verschiedene Völker und andere Religionen und Identitäten, die respektiert werden müssen“. Auch Vertreter von ethnischen und religiösen Minderheiten sowie liberale Intellektuelle bestätigen, dass die AKP die Türkei nicht islamisiere, sondern modernisiere und sie mit weitreichenden Reformen an die EU heranführe; die Islamisten seien an den äußersten Rand gedrängt worden (vgl. zum Vorstehenden Die Zeit v. 10.5.2007). Nach alledem erscheint die Befürchtung, dass ein erstarkender Islamismus zu einer Verschlechterung der Situation der Yeziden in der Türkei beitragen könne, nicht berechtigt zu sein.

96

Die Annahme einer asylerheblichen Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei lässt sich auch nicht auf die Vorfälle aus den Jahren 2002 bis 2006 stützen, wie sie von dem Yezidischen Forum (Stellungnahme v. 4.7.2006), dem Sachverständigen AJ. (Gutachten v. 17.4.2006 an OVG Sachsen-Anhalt) und dem Kläger des vorliegenden Verfahrens im Einzelnen geschildert worden sind.

97

Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen befasste sich in seinem Urteil vom 14. Februar 2006 (a.a.O.) mit dem Schreiben des Yezidischen Forums vom 3. Februar 2006 an Rechtsanwalt Z. und führte dazu aus, dass von den dort angegebenen Übergriffen auf Yeziden lediglich vier nach Ort, Zeit und den betroffenen Personen näher konkretisiert würden; im Übrigen werde pauschal - ohne irgendwelche weiteren Einzelheiten - auf weitere Fälle vergleichbarer Art Bezug genommen, denen nachgegangen werde. Das Yezidische Forum hat daraufhin die Stellungnahme vom Juli 2006 verfasst, mit der neben den bereits geschilderten und vom OVG NRW (a.a.O.) behandelten vier Fällen die behaupteten fünf weiteren Übergriffe gegen Yeziden präzisiert und darüber hinaus zwei zusätzliche Vorfälle benannt wurden. Diese Stellungnahme des Yezidischen Forums nahm der Senat im Berufungsverfahren 11 LB 14/06 zum Anlass, das Auswärtige Amt mit Beweisbeschluss vom 17. Juli 2006 um Erteilung einer Auskunft zu ersuchen. Zu der hierauf erteilten Auskunft vom 26. Januar 2007 haben sich das Yezidische Forum (Anmerkungen v. 20.3.2007) und der Kläger des vorliegenden Verfahrens (u.a. im Schriftsatz v. 16.3.2007) eingehend geäußert. In beiden Stellungnahmen werden der Auskunft des Auswärtigen Amtes verschiedene Mängel und Fehleinschätzungen vorgeworfen. Das Auswärtige Amt hat sich dazu auf Ersuchen des Senats am 3. Mai 2007 wie folgt geäußert: Die Auskunft vom 26. Januar 2007 beruhe auf umfangreichen und intensiven Ermittlungen eines Vertrauensanwalts zu den behaupteten Geschehnissen vor Ort. Aufgrund einer Vielzahl der in der Vergangenheit von diesem Vertrauensanwalt durchgeführten Ermittlungen zu Stellungnahmen für deutsche Verwaltungsgerichte und Behörden auch zu anderen asylrelevanten Sachverhalten bestünden keine Zweifel an der Richtigkeit und Objektivität der auch in diesem Fall recherchierten Angaben. Von einer nochmaligen Äußerung bzw. inhaltlichen Bewertung werde daher abgesehen. Bevor der Senat sich im Einzelnen mit dem vom Yezidischen Forum mitgeteilten Vorfällen auseinandersetzt, soll zu dem Beweiswert von Erkenntnismitteln allgemein und im konkreten Fall Stellung genommen werden.

98

Auskünfte des Auswärtigen Amtes haben nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urt. v. 22.1.1985 - 9 C 52.83 -, InfAuslR 1985, 147 = DVBl. 1985, 577; Beschl. v. 31.7.1985 - 9 B 71.85 -, InfAuslR 1986, 74 = NJW 1986, 3221) allgemein einen hohen Beweiswert. Auch nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts kommen sie den tatsächlichen Verhältnissen wohl am nächsten, zumal sie vom Bemühen um Objektivität gekennzeichnet seien (Beschl. v. 23.2.1993 - 1 BvR 990/82 -, BVerfGE 63, 197, 213 f. [BVerfG 23.02.1983 - 1 BvR 990/82]). Lageberichte und Auskünfte des Auswärtigen Amtes stellen daher eine wesentliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage im Asylprozess dar. Welche Schlüsse aus den Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes zu ziehen sind, ist dagegen eine Frage der gerichtlichen Sachverhalts- und Beweiswürdigung, im Rahmen derer die zu dem jeweiligen Herkunftsland vorliegenden, gegebenenfalls auch einander (teilweise) widersprechenden Erkenntnismittel der verschiedenen Institutionen, Organisationen und Personen zu gewichten und rechtlich zu bewerten sind. Allerdings sind die Tatsachengerichte ausnahmsweise zu näherer Prüfung einer Auskunft des Auswärtigen Amtes verpflichtet, wenn durch ganz bestimmte Anhaltspunkte belegte Zweifel an der Zuverlässigkeit der in der Auskunft verwerteten Informationen erkennbar sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.8.2006 - 1 B 24.06 -; Beschl. v. 31.7.1985, a.a.O.). Die Aussagekraft von Gutachten und Stellungnahmen anderer Stellen kann dadurch geschmälert sein, dass sie bestimmte Interessen vertreten oder in Gegnerschaft zur Regierung des betreffenden Herkunftslandes stehen und deshalb die erforderliche Objektivität und Distanz ganz oder teilweise vermissen lassen (vgl. etwa Schenk, in: Hailbronner, AuslR, vor § 74 AsylVfG Rn. 102 u. 110; Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 7). So ist bei den vorliegenden Stellungnahmen des Yezidischen Forums zu bedenken, dass es sich um einen Zusammenschluss von Yeziden aus M. und Umgebung in Gestalt eines eingetragenen Vereins handelt, dessen Ziel „die Aufrechterhaltung und Weitervermittlung der religiösen und kulturellen Inhalte sowie Werte und Bräuche unter yezidischen Gesellschaftsformen in der Diaspora“ ist (vgl. die Internetveröffentlichung unter www.yezidi.org/28.98.html). Von daher ist die Gefahr einer interessenorientierten Betrachtungsweise nicht auszuschließen. Die außerdem zur Beurteilung einer Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei herangezogenen gutachterlichen Stellungnahmen des Sachverständigen AJ., der - wie bereits erwähnt - der yezidischen Glaubensgemeinschaft angehört, sind ebenfalls unter diesem Aspekt kritisch zu überprüfen. Zweifel an der Unparteilichkeit des Gutachters lassen sich aber auch aus anderen Umständen herleiten. Das Verwaltungsgericht Hannover hat AJ. im Verfahren 1 A 389/02 (Berufungsverfahren 11 LB 324/03) in der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2003 ausführlich aufgrund eines Fragenkatalogs angehört (vgl. die Niederschrift v. 30.4.2003 mit Anhang). Die Befragung hat ergeben, dass die Feststellungen von AJ. regelmäßig ohne ausreichende Kontrollrecherche auf den Angaben von Zeugen beruhen, die er für vertrauenswürdig hält, im erheblichen Umfang sogar auf Berichten von Zeugen vom Hörensagen. Das Verwaltungsgericht hat anhand mehrerer - und dem Sachverständigen vorgehaltener - Beispiele nachvollziehbar belegt, dass dieser in der Vergangenheit zu krassen Fehldarstellungen und - beurteilungen gekommen ist. Zum anderen fehlt AJ. zumindest teilweise die gebotene sachliche Distanz zu den ihm gestellten Beweisthemen. So spricht er etwa im Gutachten vom 17. April 2006 an das OVG Sachsen-Anhalt davon, dass Yeziden „gegenwärtig kontinuierlich mit Billigung und tendenzieller Zustimmung des türkischen Staates seitens der moslemischen Mehrheitsbevölkerung sowohl ethnisch als auch wegen ihrer religiösen Sonderstellung verfolgt werden“ (S. 10) und führt dies außer auf kurdischen Fundamentalismus auch auf „türkischen Rassismus“ zurück, wobei dieser Verfolgung und Verachtung ein „eindeutiges Spezifikum des Erscheinungsbildes“ inne wohne, „das auch in anderen rassistischen und faschistischen Gesellschaften zu beobachten“ sei (S. 11). Dass es sich dabei nicht um einen einmaligen verbalen Ausrutscher handelt, wird dadurch bestätigt, dass er an einer anderen Stelle des Gutachtens (S. 12) die „verheerende Verfolgungsdichte der yezidischen Glaubensgemeinschaft durch die fanatisch-muslimische Majorität mit Duldung der türkischen Sicherheits- und Verwaltungsbehörden“ beklagt. In diesen Ausführungen kommt seine prinzipielle Gegnerschaft zum türkischen Staat und seine schon vom Verwaltungsgericht Hannover festgestellte Neigung, Umstände, die nicht in sein Weltbild passen, zu ignorieren oder einseitig zu interpretieren, zum Ausdruck. Diese Voreingenommenheit verstärken die Zweifel an seiner Fähigkeit zu einer objektiven und differenzierten Betrachtungsweise. Ähnlich verhält es sich mit seiner Kritik an kurdischen Organisationen. So schreibt er zu deren Aufrufen zur Rückkehr in die Türkei, dies geschehe seines Erachtens „aus parteipolitischen Erwägungen, um die Yeziden für sich zu gewinnen“; dieses Motiv habe „allerdings mit der Realität des Landes nichts zu tun, vielmehr wohne diesem Umgang ausschließlich ein propagandistischer Charakter inne“ (Anhang 2 zum Gutachten v. 17.4.2006 an OVG Sachsen-Anhalt, S. 6). Diese fragwürdige Vermischung von Fakten und subjektiven Mutmaßungen lässt sich nur schwerlich mit der Stellung eines zur Unparteilichkeit verpflichteten Sachverständigen vereinbaren. Gleichwohl bedeuten die vom Senat aufgezeigten Bedenken nicht zwangsläufig, dass die gutachtlichen Stellungnahmen von AJ. in Gänze unbrauchbar sind. Vielmehr muss auch insoweit im Vergleich mit anderen Erkenntnisquellen ermittelt werden, welche Darstellung des jeweiligen Einzelfalls am ehesten den realen Verhältnissen entsprechen könnte. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass den Gutachten von AJ. aus den dargelegten Gründen nur ein begrenzter Beweiswert beizumessen ist.

99

Hiervon ausgehend kann nicht festgestellt werden, dass die in den Lageberichten und Auskünften des Auswärtigen Amtes zur Situation der Yeziden in der Türkei mitgeteilten Informationen durch anders lautende Erkenntnisse des Yezidischen Forums, von AJ. und des Klägers ernsthaft erschüttert worden sind. Auch wenn die Aussagen des Auswärtigen Amtes in einigen Punkten unklar, widersprüchlich, beschönigend oder übertrieben sein sollten, würde dies den Beweiswert seiner Stellungnahmen insgesamt nicht in entscheidungserheblicher Weise beeinträchtigen.

100

Insbesondere vermag der Senat die vom Yezidischen Forum und dem Kläger generell geäußerte Kritik an der Aussagekraft der Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes zu der Lage der Yeziden in der Türkei nicht zu teilen. Ihr Vorwurf, die Auskünfte des Auswärtigen Amtes beruhten weitgehend auf einseitigen Angaben türkischer Behörden sowie auf unzutreffenden Informationen durch nicht glaubwürdige Gewährsleute bzw. falsch wiedergegebener Äußerungen von Yeziden, greift nicht durch.

101

Der vom Auswärtigen Amt beauftragte Vertrauensanwalt hat - wie aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) hervorgeht - bei seinen Recherchen vor Ort nicht nur Vertreter von türkischen Staatsorganen (wie Polizei, Gendarmerie, Landräte, Bürgermeister, Dorfvorsteher, Richter und Staatsanwälte), sondern auch Privatpersonen (etwa kurdische Politiker, Religionsführer, Gewerkschafter, Rechtsanwälte, Menschenrechtler, Yeziden, Freunde von Yeziden, muslimische Bewohner von Nachbardörfern, Geschäftsleute) befragt und zudem auch Verwaltungsund Gerichtsakten eingesehen. Der Senat sieht keinen berechtigten Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln, zumal das Auswärtige Amt mitgeteilt hat, dass es sich bei dem von ihm eingeschalteten Vertrauensanwalt um eine unabhängige, zuverlässige und erfahrene Person handele, die in seinem Auftrag auch bereits in der Vergangenheit in einer Vielzahl von Fällen Ermittlungen zu asylrelevanten Sachverhalten durchgeführt habe. Zudem beruhen die Recherchen des Vertrauensanwalts auf einer viel breiteren Grundlage als die Stellungnahmen des Yezidischen Forums und des Sachverständigen AJ., die selbst angeben, dass ihre Informationen von den betroffenen Yeziden persönlich oder deren Verwandten bzw. Zeugen vom Hörensagen stammten. Dass deren Berichte über die jeweiligen Geschehnisse eher interessenorientiert sind, liegt auf der Hand. Das gilt natürlich auf der anderen Seite auch für Auskünfte von türkischen Behörden, wenn diese nicht gegenrecherchiert werden. Für die Richtigkeit der betreffenden Ermittlungen des vom Auswärtigen Amt eingeschalteten Vertrauensanwalts spricht grundsätzlich eine höhere Gewähr, weil sie sich auf unterschiedliche Erkenntnisquellen stützen und weder die Aussagen von Yeziden noch die Angaben offizieller türkischer Stellen zum alleinigen Maßstab machen. Aber auch hier ist - wie bereits erwähnt - ein Gegenbeweis zulässig, wenn etwa gewichtige und fallbezogene Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der der Auskunft des Auswärtigen Amtes zugrunde liegenden Informationen geäußert werden.

102

In diesem Zusammenhang können sich der Kläger und das Yezidische Forum nicht mit Erfolg darauf berufen, dass zumindest ein Teil der betreffenden Auskünfte des Auswärtigen Amtes auf nicht seriösen Gewährsleuten bzw. Fehlinformationen beruhe. Sie beziehen sich dabei vor allem auf die seit dem Lagebericht vom 19. Mai 2004 durchgängige Feststellung des Auswärtigen Amtes, dass - wie die Befragung einzelner Yeziden ergeben habe - seit mehreren Jahren keine religiös motivierten Übergriffe von Moslems gegen Yeziden bekannt geworden seien. Sie bestreiten in diesem Zusammenhang den Wahrheitsgehalt der in der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 3. Februar 2004 wiedergegebenen Aussage eines „maßgeblichen Yezidenführers“ in BX., in den letzten Jahren habe sich in dieser Region das Verhältnis zwischen den Religionsgruppen erheblich verbessert, und der ebenfalls in dieser Auskunft zitierten Aussage des Dorfvorstehers des Yezidendorfs AM., weder seien die in dieser Region lebenden Yeziden vertrieben worden noch gebe es Schwierigkeiten mit muslimischen Nachbarn. Auch im Lagebericht vom 11. Januar 2007 weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass nach Angaben von Vertretern der Yeziden seit mehreren Jahren keine religiös motivierten Übergriffe von Muslimen gegen Yeziden mehr bekannt geworden seien. Allerdings werden in diesen Stellungnahmen die Namen der betreffenden Auskunftspersonen nicht genannt. Dies ist indes nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts u. a. mit Rücksicht auf den Informantenschutz grundsätzlich zulässig (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.1.1985, a.a.O.; Schenk, a.a.O., vor § 74 Rn. 96 ff.). Die vom Auswärtigen Amt in den Auskünften vom 3. Februar 2004 an das Verwaltungsgericht Braunschweig, vom 20. Januar 2006 an das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt und vom 26. Januar 2007 an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht erwähnten Vertreter von Yeziden dürften gleichwohl aufgrund der in ihnen enthaltenen Zusatzinformationen zumindest teilweise zu identifizieren sein. Darauf weist das Yezidische Forum in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2006 zutreffend hin. Bei dem im „Reisebericht aus dem Südosten“ des Bundesamtes vom September 2003 und in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. Februar 2004 genannten maßgeblichen bzw. führenden Yezidenvertreter aus dem Raum AR. dürfte es sich um BY. handeln. Ein weiterer Informant des Auswärtigen Amtes dürfte dessen Bruder BZ. sein, der gemeinsam mit seinem Bruder und weiteren Yeziden den in AR. ansässigen „Verein für Soziale Unterstützung und Kultur der Yeziden aus AQ.“ gegründet hat (vgl. Auskunft der Botschaft Ankara v. 26.10.2005 an das Bundesamt; AA, Auskunft v. 26.1.2007, a.a.O.). Der Verein - so die Botschaft Ankara - leiste u. a. Unterstützung bei der Organisation von Beerdigungen von im Ausland verstorbenen Yeziden und sei auch rückkehrwilligen Yeziden behilflich. Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) ferner mitgeteilt, BY. werde in der Zeitschrift CA. von April 2006 als bekannter Yezide aus AR. bezeichnet, der erklärt habe, dass es keine Probleme gebe und alle Einwohner einträchtig zusammenlebten. Das Yezidische Forum hat dazu in seinen Anmerkungen vom 20. März 2007 (und in seiner Stellungnahme v. 4.7.2006) erklärt, dass der Verein lediglich zehn Mitglieder habe und tatsächlich bedeutungslos sei. Eine ähnliche Aussage hat auch der Zeuge AN. in der mündlichen Verhandlung des Senats gemacht. Die Brüder BN., die bekannte Persönlichkeiten in der yezidischen Gesellschaft seien, hätten ihm während ihres Aufenthalts in Deutschland mitgeteilt, dass der Verein heute nur noch auf dem Papier existiere und keine Aktivitäten mehr stattfänden. Der Verein habe ursprünglich u. a. das Ziel verfolgt, die Rückkehr von im Ausland lebenden Yeziden in die Türkei vorzubereiten. Dazu habe es Projekte der Europäischen Union gegeben, mit denen die Rückkehrbereitschaft gefördert werden sollte. An diesen finanziellen Möglichkeiten hätten sie teilhaben wollen. Der Zeuge AN. hat bei seiner Vernehmung ferner angegeben, dass er das Haus in AR., in dem der Sitz des Yezidenvereins sein solle, bei seiner Reise im Jahr 2004 von außen besichtigt habe. Es habe wie eine Bar oder ein Lokal ausgesehen; nach seinem Eindruck sei dort käuflicher Sex angeboten worden. Später habe er erfahren, dass das Gebäude Ende 2005 zu einem Restaurant umgebaut worden sei. BY. habe ihm bei seinem Besuch erzählt, dass er mit dem Verein nichts mehr zu tun haben wolle. Der Zeuge AN. hat weiter bekundet dass BZ. seit Jahren mit einer Nichtyezidin verheiratet sei. Nach den yezidischen Glaubensregeln hätte er deshalb nicht Vorsitzender eines yezidischen Vereins sein dürfen. Der Senat lässt offen, ob diese Aussagen des Zeugen AN. der Wahrheit entsprechen. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, wäre dadurch die Richtigkeit der auf die Brüder BN. zurückgehenden Informationen des Auswärtigen Amtes in der Sache nicht zwangsläufig in Frage gestellt, zumal die Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes zur Situation der Yeziden in der Türkei noch auf weiteren davon unabhängigen Fakten und Befragungen beruhen.

103

Das Gleiche gilt für das Vorbringen des Yezidischen Forums zu einem weiteren Gewährsmann des Auswärtigen Amtes namens CB.. Dieser wurde ausweislich des vom Bundesamt erstellten „Reiseberichtes aus dem Südosten“ von September 2003 und der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. Februar 2004 an das Verwaltungsgericht Braunschweig anlässlich eines Besuchs des Yezidendorfes AM. am 22. Juli 2003 befragt. Dabei habe dieser geäußert, dass es eine Vertreibung der in dieser Region lebenden Yeziden bzw. Übergriffe seitens muslimischer Dorfbewohner nicht gegeben habe. Das Yezidische Forum hat demgegenüber eine ins Deutsche übersetzte Erklärung des CB. - Gemeindevorsteher des Dorfes AM. - vom 17. April 2006 vorgelegt, in der er sich von den ihm zugeschriebenen Erklärungen distanziert. Darin heißt es, dass die yezidische Bevölkerung als eine religiöse Minderheit jetzt wie zuvor von hier lebenden Angehörigen muslimischer Stämme (Clans) verschiedenen Verfolgungen ausgesetzt sei. Die Verfolgungen und die Ungerechtigkeit gegenüber Yeziden durch Moslems hätten nicht aufgehört. Als Fallbeispiele nennt er die Schläge gegen CC. und CD.. Diese Vorfälle sind aber nicht geeignet, eine anhaltende Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei zu belegen (vgl. dazu die späteren Ausführungen des Senats). Darüber hinaus fehlt es an einer plausiblen Erklärung dafür, weshalb das Auswärtige Amt und das Bundesamt Aussagen von CB., die er am 22. Juli 2003 gegenüber Vertretern dieser zur Objektivität verpflichteten Behörden gemacht hat, falsch wiedergegeben haben sollen. Es ist eher zu vermuten, dass CB. - aus welchen Gründen auch immer - später von seinen ursprünglichen Äußerungen abgerückt ist.

104

Schließlich kommt es auch nicht darauf an, ob es zutrifft, dass der Dorfvorsteher von CE. - wie das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) mitgeteilt hat - in einer Presseerklärung zur Eröffnung des Yezidenhauses im Juli 2004 erklärt hat, dass insgesamt 25 yezidische Familien in die Dörfer BE., BQ. und CE. zurückgekehrt seien. Der Zeuge AX. bestreitet dies unter Berufung auf ein kürzlich geführtes Telefongespräch mit seinem Onkel CF., der Dorfvorsteher von CE. ist. Es sei kein Yezidenhaus in CG. sondern lediglich eine Unterbringungsmöglichkeit für Trauergäste gebaut worden. Es habe weder eine Einweihungszeremonie stattgefunden noch gebe es eine Presseerklärung von ihm. Der Bürgermeister von AR. habe sie in diesem Zusammenhang auch nicht unterstützt. Die Unterbringungsmöglichkeit sei mit Hilfe von Verwandten aus Deutschland geschaffen worden. Abgesehen davon, dass in der Zeitung „Özgür Politika“ vom 8. Mai 2004 berichtet wird, dass der Bürgermeister von AR. das Projekt eines „yezidischen Hauses“ unterstütze, jedoch zugleich erklärt habe, der Haushalt der Stadt AR. lasse eine Finanzierung des Projekts nicht zu, so dass die yezidischen Organisationen im Ausland dies übernehmen müssten, was auch das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) bestätigt hat, ist es letztlich nicht entscheidungserheblich, ob es eine offizielle Einweihungsveranstaltung und eine amtliche Presseerklärung des Dorfvorstehers von CE. tatsächlich gegeben hat oder nicht. Dass im Ausland lebende Yeziden in die genannten Dörfer im Kreis AR. zurückgekehrt sind, war schon in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. Februar 2003 an das Verwaltungsgericht Braunschweig unter Bezugnahme auf Gespräche mit Yeziden berichtet worden. Dass über die Zahl der Rückkehrer (sei es dauerhaft, sei es vorübergehend) Streit besteht, hat der Senat bereits näher dargelegt. Darauf wird verwiesen.

105

Dies vorausgeschickt, wird im Folgenden zu den Vorfällen, über die in den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln berichtet wird, näher Stellung genommen. Dabei orientiert sich der Senat an der Reihenfolge der in der Stellungnahme des Yezidischen Forums vom 4. Juli 2006 wiedergegebenen Fälle:

106

1. Der in Deutschland lebende Yezide CH., der aus dem Dorf CI. (kurdisch: CJ., Kreis AZ. (Provinz AO.) stammte, war nach übereinstimmenden Berichten im September 2005 in die Türkei eingereist, um sich in seiner Heimat eine Existenz aufzubauen. Er wurde am 2. April 2006 am Rande eines Feldes, das zu CI. gehört, tot aufgefunden. Die Darstellungen über die Todesursache gehen allerdings auseinander. Während das Yezidische Forum unter Berufung auf Christen aus CI. behauptet, dass CK. von Muslimen aus dem Nachbardorf erschlagen worden sei, die verhindern wollten, dass sich in der Gegend wieder Yeziden ansiedelten, ist er nach Angaben des Auswärtigen Amtes in der Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.), die auf dem Bericht eines von der Staatsanwaltschaft AZ. beauftragen gerichtsmedizinischen Instituts beruht, einem Herzversagen erlegen. Der vom Kläger benannte Zeuge BI., der im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit wegen des Todes von CK. in der Türkei Recherchen angestellt hat, will von einem jungen Christen, der im Nachbardorf von CI. wohne, ebenfalls erfahren haben, dass CK. von Muslimen umgebracht worden sei. Sie hätten offensichtlich etwas dagegen gehabt, dass CK. in CI. ein Haus bauen wollte. Der Zeuge BI. hat ferner ausgesagt, dass sein Gesprächspartner ihm die Telefonnummer des Arztes gegeben habe, der die Autopsie erstellt habe. Er - der Zeuge - habe ihn aus Deutschland angerufen und erfahren, dass CK. nicht an einem Herzinfarkt gestorben, sondern ermordet worden sei. Nach den Informationen, die er - der Zeuge von dem jungen Christen erhalten habe, sei sein telefonischer Gesprächspartner auch tatsächlich als Arzt bei dem vom Auswärtigen Amt genannten gerichtsmedizinischen Institut beschäftigt. Der Zeuge BI. hat dem Senat ferner Fotos der Leiche von CK. vorgelegt, auf denen Gesichtsverletzungen und Blutspuren am Kopf zu sehen sind. Er hat weiter ausgesagt, die entsprechenden Fotos bei einem Besuch in der Türkei einem türkischen Herzspezialisten gezeigt zu haben. Dieser habe ihm erklärt, dass die auf den Fotos sichtbaren Gesichtsverletzungen nicht von einem Schlaganfall bzw. Herzinfarkt herrühren könnten, sondern von Misshandlungen stammten. Der Senat hat aber Zweifel, dass CK. wirklich erschlagen worden ist. Zum einen ist es nicht recht verständlich, weshalb ein Arzt, der angeblich die offizielle Autopsie der Leiche von CK. gemacht hat, von seinem eigenen Untersuchungsergebnis später in einem privaten Telefongespräch abgerückt sein soll. Zum anderen hält es der Senat aufgrund der vorgelegten Fotos durchaus für möglich, dass sich CK. die Kopfverletzungen aufgrund eines durch den Herzinfarkt hervorgerufenen Sturzes zugezogen hat, da neben seiner Leiche ein Felsen zu erkennen ist. Nimmt man alles zusammen, spricht mehr dafür, dass CK. eines natürlichen Todes gestorben ist.

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2. Soweit es um die Situation in dem bereits mehrfach erwähnten Dorf BA. geht, stimmen die Erkenntnisquellen zumindest teilweise überein. Anders als das Auswärtige Amt ist das Yezidische Forum aber der Ansicht, dass das Rückkehrprojekt nach einer Auseinandersetzung mit dem CL., dessen Clan das Dorf von 1994 bis Oktober 2004 besetzt hatte, als gescheitert anzusehen sei. Auch der in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) beschriebene Versuch von in Deutschland lebenden Yeziden, bezahlte Wachen einzusetzen, sei gescheitert. Für diese Behauptung hat das Yezidische Forum jedoch keinen Nachweis erbracht. Allerdings räumt auch das Auswärtige Amt ein, dass das Dorf gegenwärtig unbewohnt sei. In den Jahren 2005 und 2006 sind jedoch - wie aus dem „Reisebericht der yezidischen Delegation aus CM.“ hervorgeht - ehemalige Einwohner wiederholt nach BA. gefahren, um beispielsweise verlassene Häuser zu renovieren. Diesem Reisebericht ist ferner zu entnehmen, dass der neue Landrat des Kreises BC. sich für die Interessen der Yeziden etwa bei der Regelung von Grundstücksfragen eingesetzt hat, während sein Vorgänger aufgrund des Einflusses des Großgrundbesitzers CN. und dessen Dorfschützern die Bearbeitung der bürokratischen Angelegenheiten der Yeziden bewusst blockiert habe. Außerdem ist es unstreitig, dass in BA. weiterhin in Deutschland verstorbene Yeziden beigesetzt werden und an den Trauerfeiern neben den Angehörigen auch muslimische Nachbarn teilnehmen. Über die Zahl der Trauergäste besteht jedoch Uneinigkeit. Während das Auswärtige Amt davon spricht, dass zu den traditionellen Begräbnissen Hunderte, manchmal sogar Tausende von Trauergästen eingeladen würden, hält das Yezidische Forum diese Zahl für weit überhöht. Wie aber aus den weiter vom Auswärtigen Amt in diesem Zusammenhang gemachten Ausführungen hervorgeht, nehmen nicht alle eingeladenen Trauergäste auch an der Beisetzung teil. So sei es die Regel, dass Angehörige von in Europa verstorbenen Yeziden oftmals muslimische Bekannte mit den Bestattungen beauftragten und für Leichenwagen bzw. Krankenwagen und insbesondere für die Bestattungsfeier ca. 2.000 bis 3.000,--EURO überwiesen. Dieses Geld werde für die Beisetzung und insbesondere für das traditionelle Essen im Rahmen der Trauerfeier verwendet. Demgegenüber weist das Yezidische Forum darauf hin, dass bestenfalls einige Moslems aus der Nachbarschaft eingeladen würden, zu denen früher ausnahmsweise eine Art nachbarschaftliches Verhältnis bestanden habe. „Tausende“ zu bewirten wäre schon rein logistisch gesehen nicht möglich. Welche dieser Darstellungen letztlich zutrifft, kann offen bleiben. Denn maßgeblich ist darauf abzustellen, dass Bestattungen von Yeziden in BA. möglich sind, ohne dass muslimische Kurden dem Widerstand entgegensetzten. Dagegen stocken offensichtlich die Bemühungen, in BA. wieder Yeziden dauerhaft anzusiedeln. Dass sich ca. 40 bis 50 Familien - wie das Auswärtige Amt behauptet - auf eine Rückkehr vorbereiten sollen, ist nicht näher belegt. Dem steht gegenwärtig auch entgegen, dass - wie der Senat bereits ausgeführt hat - in der Provinz BD. und auch in der Umgebung von BA. wieder Kämpfe zwischen der PKK und der türkischen Armee ausgebrochen sind. Möglicherweise haben die im März 2006 in BA. stattgefundenen Explosionen von Sprengkörpern und der Beschuss der Trinkwasseranlage im Mai 2006 mit diesen bewaffneten Auseinandersetzungen zu tun. Für die Behauptung des Yezidischen Forums, die Dorfschützer des Großgrundbesitzers CN. stünden wahrscheinlich dahinter, fehlen konkrete Anhaltspunkte. Soweit das Yezidische Forum weiter angibt, dass es Streit mit dem türkischen Militärkommandanten gebe, der angesichts der Kampfhandlungen mit der PKK verlangt habe, dass Yeziden aus ihrem Grundbesitz Flächen für den Bau neuer Häuser für Dorfschützer abgäben, ist ebenfalls ein asylrechtlicher Hintergrund nicht erkennbar. Denn dies dürfte im Zusammenhang mit den militärischen Auseinandersetzungen im Südosten der Türkei stehen. Außerdem scheint eine Enteignung bisher auch nicht erfolgt zu sein, zumal die yezidischen Grundstückseigentümer dagegen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen könnten.

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3. Nach Angaben des Yezidischen Forums reiste die in Deutschland lebende yezidische Familie CO. mit vier Personen im Oktober 2005 in das Dorf CP. (kurdisch: CQ.), Kreis AZ., um besitzrechtliche Fragen zu klären. Diese Familie habe im Jahr 1994 das früher nur von Yeziden bewohnte Dorf verlassen. In der Zwischenzeit bis zu ihrer Rückkehr habe die im Nachbardorf ansässige muslimische Großgrundbesitzerfamilie CR. die Ländereien der Familie CO. bewirtschaftet. Diese habe beim Gericht in AZ. ein Verfahren auf Herausgabe des Grundstücks eingeleitet. Am 5. Oktober 2005 habe ein Ortstermin stattfinden sollen. Anstelle eines Vertreters des Gerichts und der Gendarmerie seien aber etwa zehn Personen der CR. -Sippe erschienen und hätten auf die Angehörigen der Familie CO. und drei sie begleitende Yeziden eingeschlagen und sie zum Teil schwer verletzt. Überliefert seien Sätze wie „Ihr Ungläubige wollt Land? Wir zeigen es euch“ und „Wenn ihr hier nicht freiwillig verschwindet, dann werdet ihr Deutschland nur noch als Leichen betreten“. Nach dem Vorfall hätten die Yeziden die Gendarmerie informiert, die jedoch nichts gegen die CR. -Sippe unternommen habe. Daraufhin seien die vier Yeziden am 10. Oktober 2005 nach Deutschland zurückgekehrt. Das Auswärtige Amt bestätigt in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.), dass es am 5. Oktober 2005 zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Angehörigen der Familien CO. und CR. gekommen sei, bei der auf beiden Seiten Personen verletzt worden seien. Die Gendarmerie habe den Vorfall protokolliert und die Staatsanwaltschaft AZ. eingeschaltet, die Anklage wegen Körperverletzung gegen die Beteiligten an der Schlägerei erhoben habe. Das Verfahren sei beim Amtsgericht für Strafsachen in AZ. anhängig; letzter Verhandlungstermin sei am 6. Dezember 2006 gewesen. Kurz vor der Ortsbesichtigung vom 5. Oktober 2005 hätten die vier Yeziden über eine Rechtsanwältin Anzeige wegen Bedrohung gegen Mitglieder der Familie CR. erstattet; die Strafverfolgung sei aber später mangels Beweises rechtskräftig eingestellt worden. Das Auswärtige Amt hat ferner darauf hingewiesen, dass im Grundbuch die Felder des Dorfes CP. anteilig registriert seien. Unklarheiten wegen zahlreicher Parzellen müssten noch gerichtlich geklärt werden; die Verfahren seien insoweit noch anhängig. Die Familien CO. und CR. hätten sich bisher nicht über die Aufteilung der Grundstücke einigen können. Die Ursache der Zwistigkeiten sei darauf zurückzuführen, dass die Yeziden wegen Grundstücksforderungen gerichtlich gegen den CR. -Clan vorgegangen seien, zu dessen Einflussbereich das Dorf CP. gehöre. Das Yezidische Forum hat diese Darstellung des Auswärtigen Amtes in den Anmerkungen vom 20. März 2007 nicht grundlegend in Zweifel gezogen, sondern als Bestätigung für seine Behauptung gesehen, dass Yeziden bei dem Versuch, Grundbesitzansprüche zu realisieren, massive Gewalt von Moslems erführen und letztlich scheiterten. Die muslimischen Großgrundbesitzer betrachteten Yeziden nach wie vor als eine Art Leibeigene. Bei den Reaktionen der Familie CR. handelt es sich aber um Schwierigkeiten, auf die Rückkehrer im Südosten der Türkei allgemein treffen können. Selbst wenn die Gewaltanwendung am 5. Oktober 2005 von Angehörigen der Familie CR. ausgegangen sein sollte, was bisher gerichtlich nicht abschließend geklärt ist, ist nicht erkennbar, dass diese Übergriffe vorrangig religiös motiviert waren. Vielmehr dürfte das Bestreben des CR. -Clans im Vordergrund stehen, den Anspruch der Familie CO. auf Rückgabe ihrer Ländereien zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Diese Bewertung gilt auch dann, wenn Angehörige der Familie CR. bei diesen Auseinandersetzungen auf die Glaubenszugehörigkeit der Yeziden angespielt haben sollten. Auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in seinem Urteil vom 14. Februar 2006 (a.a.O., S. 20 f. UA) diesen Vorfall als nicht asylrelevant angesehen.

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4. Was die Vorgänge im Dorf CS. (kurdisch: CT.), Kreis AF. angeht, steht Aussage gegen Aussage. Das Yezidische Forum berichtet, dass Moslems im November 2005 die Häuser von zwei yezidischen Familien mit Maschinengewehren beschossen hätten. Nach Informationen des Auswärtigen Amtes kommt es in CS. aus familiären Gründen hin und wieder zu Fehden zwischen den drei dort lebenden yezidischen Familien; manchmal sei auch ein benachbartes muslimisches Dorf involviert. Diese Handlungen seien aber nicht darauf gerichtet, die Yeziden zu vertreiben. Dem hält das Yezidische Forum entgegen, dass dort nur zwei yezidische Familien lebten, die keine Konflikte untereinander hätten. Wäre dies der Fall gewesen, hätte eine Familie das Dorf verlassen müssen. Auch sei dem Yezidischen Forum kein Fall bekannt, in dem sich Yeziden mit Moslems verbunden hätten, um Yeziden zu vertreiben. Vielmehr versuchten dies die sieben muslimischen Familien, die inzwischen in das Dorf gezogen seien. Diese Behauptung stellt wiederum das Auswärtige Amt in Abrede, da es keine Zeugen oder Indizien gebe, die etwas Derartiges bestätigt hätten. Die Darstellung des Auswärtigen Amtes erscheint nicht von vornherein unrealistisch. Dem Senat ist aus mehreren ausländerrechtlichen Verfahren bekannt, dass zwischen Yeziden durchaus Familienfehden bestehen können, die teilweise sogar mit Gewalt ausgetragen werden. Ebenfalls ist dem Senat bekannt, dass im Kreis AF. die Beziehungen zwischen Muslimen und Yeziden enger sind als in anderen yezidischen Siedlungsgebieten (vgl. etwa Urt. v. 24.9.1998 - 11 L 6819/96 -; siehe auch AJ. vor VG Hannover, Protokoll v. 30.4.2003 im Verfahren 1 A 389/02). Dort leben viele muslimische Familien, die früher dem religiösen Yezidentum angehört hatten und zwangsislamisiert worden sind. Sollte es zutreffen, dass die nach CS. zugezogenen muslimischen Familien die dort lebenden Yeziden schikanieren, müssten diese gegebenenfalls staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Zudem kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die behaupteten Übergriffe religiös motiviert waren.

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5. Das Yezidische Forum behauptet, dass nach der Fertigstellung der Unterbringungsmöglichkeiten für yezidische Trauergäste aus Deutschland in CE. verstärkt Übergriffe auf die noch im Dorf lebenden Yeziden erfolgt seien. Moslems aus dem Nachbardorf CU. hätten die Yeziden in CE. unter Druck gesetzt, damit diese in einem Gerichtsverfahren um Landbesitz zu ihren Gunsten Aussagen machten. Nachdem die Yeziden das verweigert hätten, sei ihnen das Wasser abgedreht worden. Mehrmals seien auch Äcker umgepflügt und im Jahr 2005 sei ein Teil der Ernte der von Yeziden bestellten Felder von Moslems eingefahren worden. Diese Angaben werden vom Auswärtigen Amt bestritten. Zwar habe es mit den Bewohnern des Nachbardorfes CU. Streitigkeiten wegen der Felder gegeben, jedoch nicht in Form von Drohungen, Angriffen oder Ähnlichem. Dies hätten umfangreiche Befragungen von Bewohnern yezidischer Dörfer im Kreis AR. sowie von Bewohnern der Nachbardörfer ergeben. Auslöser des Konflikts zwischen den beiden Dörfern sei der Streit um ein 50 ha großes Grundstück gewesen. Die streitenden Parteien hätten sich aber mittlerweile geeinigt. Demgegenüber beharrt das Yezidische Forum auf seiner Darstellung, die auf einer persönlichen Befragung der Betroffenen beruhe. Eine „Einigung“ habe es erst nach den Vorfällen gegeben. Der Senat hat zu diesen Vorfällen den vom Kläger benannten Zeugen AX. vernommen, der bei den Schlichtungsgesprächen über die genannte Grundstücksangelegenheit zugegen war, als er sich über Silvester 2004/2005 in seiner Heimat aufhielt. Er hat bestätigt, dass mit Hilfe der der DTP (ehemals DEHAP) angehörenden Bürgermeister von Städten wie AQ. und AR. eine Einigung erzielt worden sei. Danach hätten die Moslems kein Recht, Yeziden zur Aussage zu zwingen. Außerdem habe für das streitige Grundstück das Vermessungsamt bestellt werden sollen, um herauszufinden, welcher Anteil jeweils den Yeziden und den Moslems zustehe. Leider sei es bisher nicht zu einer Durchführung dieses Auftrags gekommen. Das bedeute im Ergebnis, dass das große Grundstück, das zur Hälfte aus Ackerland und zur Hälfte aus Wiesen bestehe, heute von den Moslems bewirtschaftet werde. Der Zeuge hat aber auch angegeben, dass es schon seit den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts Streitigkeiten zwischen Moslems aus den umliegenden Dörfern und Yeziden aus CE. über die Eigentumsverhältnisse an Grundstücken in dieser Gegend gebe. Die Yeziden hätten mittlerweile einen Teil ihres Landes an Moslems abgetreten, damit sie in Ruhe gelassen würden. Die verbleibenden Flächen seien aber ausreichend, um die in CE. lebenden yezidischen Familien zu ernähren. An diesen Ausführungen des Zeugen wird deutlich, dass - wie anderenorts auch - hier der Streit um Eigentumsrechte im Vordergrund der Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Yeziden steht. Auch hat er bestätigt, dass es zu Schlichtungsversuchen gekommen ist, auch wenn diese nur teilweise Erfolg hatten. Dass die Yeziden nicht auf ihren Ansprüchen bestehen und im Zweifel nachgeben, ist - auch nach Einschätzung des Senats - darauf zurückzuführen, dass sie in Frieden mit ihren muslimischen Nachbarn leben wollen. Diese Kompromissbereitschaft wird dadurch erleichtert, dass die dort lebenden Yeziden größere Ländereien als früher bewirtschaften, da - so der Zeuge weiter - die Felder der im Ausland lebenden Yeziden hinzugekommen seien. Auch hier vermag der Senat Verfolgungsmaßnahmen, die vorrangig an die Zugehörigkeit zur yezidischen Religionsgemeinschaft anknüpfen, nicht zu erkennen. Außerdem sind die dort lebenden Yeziden darauf zu verweisen, gegebenenfalls unter Einschaltung eines Anwalts gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.

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Soweit der Zeuge AX. darüber hinaus berichtet hat, dass sein Onkel beim Gericht 14.600 türkische Lira Kaution habe hinterlegen müssen, um zu erreichen, dass im Grundbuch eine Vormerkung zu seinen Gunsten eingetragen werde, handelt es sich um eine zivilrechtliche Streitigkeit, für die ebenfalls ein asylrechtlicher Hintergrund nicht festgestellt werden kann. Dass der Zeuge AX. außerdem vor etwa einem Jahr mit Hilfe von Verwandten in Deutschland 20.000,--EURO gesammelt haben will, um seinem Onkel in CE. zu ermöglichen, ein bereits erworbenes Grundstück gegenüber Machenschaften des Verkäufers zu sichern, lässt ebenso wenig einen religiösen Anknüpfungspunkt erkennen.

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6. Nach Angaben des Yezidischen Forum reiste der in Deutschland lebende Yezide CV., der aus dem Yezidendorf CW. (kurdisch: CX.) im Kreis AY. stammt, Anfang 2005 in seine Heimat mit der Absicht, sich an dem Wiederaufbau des leerstehenden Dorfes zu beteiligen. Er sei von Moslems massiv bedroht worden, die sinngemäß erklärt hätten, er solle von seinen Plänen Abstand nehmen, anderenfalls werde er den Ort nicht lebend verlassen. Daraufhin sei CY. wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Das Auswärtige Amt hat diese Angaben insofern bestätigt, als CY. ein zweistöckiges Haus habe errichten lassen, in dem er sich mehrere Monate aufgehalten habe. Nachdem in der Nähe seines Hauses Schüsse abgefeuert worden seien, habe er befürchtet, im Rahmen einer Blutracheangelegenheit, der schon sein Bruder in Deutschland zum Opfer gefallen sei, getötet zu werden. Mehrere Personen, z.B. Dorfvorsteher, Mitarbeiter des Landratsamtes und Händler, hätten angegeben, dass CY. wegen seiner Yezidenzugehörigkeit keinerlei Behelligungen ausgesetzt gewesen und von offiziellen Stellen geschützt worden sei. Diese Erklärung des Auswärtigen Amtes ziehen das Yezidische Forum und der Kläger mit der Begründung in Zweifel, es sei nicht nachvollziehbar, dass CY. wieder nach Deutschland zurückgekehrt sei, obwohl dort gerade sein Bruder aus Gründen der Blutrache getötet worden sei. Im Übrigen sei es widersprüchlich, wenn das Auswärtige Amt ausführe, CY. sei keinen Behelligungen ausgesetzt gewesen, gleichwohl aber zusätzlich erkläre, dass er von offiziellen Stellen hätte geschützt werden müssen. Das Yezidische Forum und der Kläger halten in diesem Zusammenhang die von dem Auswärtigen Amt eingeholten Erkundigungen auch deshalb nicht für zutreffend, weil man sich generell auf die Auskünfte von türkischen Behörden und hier auch von muslimischen Händlern nicht verlassen könne. Wie aber aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes hervorgeht, hat es zusätzlich auch Informationen von unabhängigen Personen zu diesem Vorgang eingeholt. Außerdem kann nicht von vornherein unterstellt werden, dass die Erklärungen von türkischen Behörden und von muslimischen Händlern nicht der Wahrheit entsprechen. Schließlich dürfte es auch nahe liegen, dass sich CY. in Deutschland vor einer Blutrache sicherer fühlt als im Südosten der Türkei. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in seinem Urteil vom 14. Februar 2006 (S. 20 f. UA) diesen Vorfall ebenfalls nicht für asylrelevant gehalten.

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Soweit es um die Schläge gegen CD. (Onkel des Sachverständigen CZ.) und vier weitere Yeziden bei einem Besuch im Oktober 2004 in der Stadt AF. geht, bei denen diese zum Teil schwerwiegende Verletzungen erlitten haben sollen, wird dies auch vom Auswärtigen Amt nicht bestritten. Die Erkenntnismittel stimmen ferner darin überein, dass Auslöser für diese Übergriffe die Weigerung des Sachverständigen AJ. war, in einem Gutachten die Yezideneigenschaft von Muslimen im Raum AF. zu bescheinigen. Eine asylerhebliche Verfolgung kann deshalb auch hier nicht angenommen werden.

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Im Hinblick auf den Fall des Yeziden CC. aus DA. ist die Auskunftslage dagegen teilweise nicht einheitlich. Während das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) erklärt, dass DB. (im Mai 2004) in AF. von einem Mieter tätlich angegriffen worden sei, weil er diesen aufgefordert habe, seine Wohnung zu räumen, behauptet das Yezidische Forum, DB. sei in AF. auf offener Straße von einer Gruppe von fünf oder sechs jungen Moslems angegriffen und misshandelt worden. Vorausgegangen sei ein Gespräch von DB. mit kurdischen Kommunalpolitikern im Parteibüro der DEHAP. DB. sei früher in der HEP in AF. aktiv gewesen, was auch vom Auswärtigen Amt bestätigt wird. Anlass für das Gespräch seien ständige Übergriffe auf Yeziden durch Angehörige eines muslimischen Dorfschützerclans gewesen. DB. habe die Verantwortlichen der DEHAP gebeten, sich dafür einzusetzen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholten. Nachdem DB. bei der Polizei Anzeige erstattet habe, sei er von dem Dorfschützerclan, zu dem die Angreifer gehört hätten, massiv unter Druck gesetzt worden. Er habe daraufhin seine Anzeige zurückgenommen und die Türkei verlassen. In seiner Erwiderung vom 20. März 2007 bleibt das Yezidische Forum bei seiner Darstellung und erklärt, dass DB. entgegen der Behauptung des Auswärtigen Amtes schon deswegen keinen Streit mit einem Mieter gehabt haben könne, weil er über kein Mietshaus verfüge. Das widerspricht aber auch den Angaben von AJ. im Gutachten vom 17. April 2006 an das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt, in dem ausgeführt wird, DB. sei von kurdischen Muslimen in der Stadt AF. angegriffen und zusammengeschlagen worden, nur weil er die Jahresmiete für sein Haus erhoben habe. Insofern bestehen Zweifel an der abweichenden Darstellung des Yezidischen Forums. Des Weiteren ist das Auswärtige Amt der Behauptung des Yezidischen Forums entgegengetreten, dass DB. bedroht worden sei und deshalb die Türkei verlassen habe. Darüber hätten keine Erkenntnisse gewonnen werden können. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass DB. wegen seiner yezidischen Glaubenszugehörigkeit von Moslems angegriffen und schwer verletzt worden ist.

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9. Das Yezidische Forum berichtet, dass der in Deutschland lebende Yezide DC. im Frühjahr 2004 eine große landwirtschaftliche Fläche bei DD. (kurdisch: DE.) im Kreis AZ. bewirtschaftet habe. Der in AY. lebende muslimische Großgrundbesitzer CN. und dessen Enkel hätten ihm Ende Mai 2004 zusammen mit weiteren Personen über die Hälfte (insgesamt 57 t) der Ernte mit Gewalt abgenommen. Anschließend hätten ihm zwei Anführer der Dorfschützer aus der Nachbarschaft über Dritte ausrichten lassen, wenn er nicht sofort die Türkei verlasse, „werde seine Mutter weinen“. Als er dann noch in seinem Hotel in AZ. bemerkt habe, dass ihm zwei Männer folgten und beobachteten, sei er sofort ausgereist. Das Auswärtige Amt teilt in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) mit, die Angaben des Yezidischen Forums hätten von keiner Seite bestätigt werden können. Ernteangelegenheiten in dieser Region würden häufig in der Weise geregelt, dass diejenigen, die ihre Felder nicht nutzten, diese verpachteten und dafür 50 % der Ernteerträge erhielten. Da DF. selbst nichts angebaut habe, könnte es sein, dass es sich um einen derartigen Fall gehandelt habe. Es erscheine nicht realistisch, dass bei einem Streit um eine Ernte von 105 t nichts weiter unternommen worden sei. Weder bei der Gendarmerie noch bei der Staatsanwaltschaft existiere eine Anzeige oder ein Vorgang dazu. Auch zu der Behauptung, dass Dorfschützer DF. über Dritte bedroht hätten, ergäben sich keine Anhaltspunkte. Dagegen hält das Yezidische Forum in seiner Erwiderung vom 20. März 2007 die Schilderung des Betroffenen für glaubwürdig. Auch habe DF. selbst auf dem Acker gearbeitet. Yeziden hätten - wie sich gerade in jüngster Zeit gezeigt habe - bei zivilrechtlichen Auseinandersetzungen keine Chance. Abgesehen davon, dass es sich bei der letzten Behauptung erneut um einen pauschalen Vorwurf handelt, hat DF. offenbar nicht einmal versucht, seine Forderung mit Hilfe eines Rechtsanwalts zu realisieren bzw. gegen die betreffenden Mitglieder der CN. -Familie eine Anzeige zu erstatten. Im Übrigen hält es der Senat für zweifelhaft, dass eine einzelne Person eine Ernte von insgesamt 105 t Getreide eingefahren haben soll. Dazu fehlen in den Stellungnahmen des Yezidischen Forums jegliche konkreten Angaben. Es ist durchaus vorstellbar, dass DF. die Hilfe von benachbarten Moslems bei der Bestellung der Felder und der Einbringung der Ernte in Anspruch genommen hatte und dafür eine finanzielle Gegenleistung erbringen musste. Es ist - wie der Sachverständige AJ. bei seiner Anhörung vor dem Verwaltungsgericht Hannover am 30. April 2003 angegeben hat - im Südosten der Türkei nicht unüblich, dass auch Yeziden Moslems beschäftigen. Letztlich kann dies aber dahinstehen, weil auch bei diesen Vorgängen eine vorrangige Anknüpfung an die yezidische Religionszugehörigkeit nicht zu erkennen ist. Allenfalls könnte ein Machtmissbrauch der Großgrundbesitzerfamilie CN. vorliegen. Auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen verneint in seinem Urteil vom 14. Februar 2006 (a.a.O., S. 20 f UA) eine Asylrelevanz.

116

Ähnlich verhält es sich mit dem Fall des in Deutschland lebenden Yeziden DG., der nach Angaben des Yezidischen Forums im Juli 2002 (ebenfalls) in das Dorf DD. gereist war, um sein Grundeigentum registrieren zu lassen sowie zu erproben, ob er in dem Ort leben und das Land bewirtschaften könne. Als ein Mitglied der Familie CN. ihm sinngemäß gesagt habe, wenn er sich noch einmal blicken lasse, werde er nicht lebend herauskommen, sei er sofort abgefahren und nicht wieder in die Türkei zurückgekehrt. Das Auswärtige Amt hat dazu entgegnet, die Behauptung, dass DH. von Angehörigen der CN. -Familie bedroht worden sei, treffe nicht zu. Allerdings sei DD. ein traditionelles Clan-Dorf und „gehöre“ dem CL.. Dazu führt das Yezidische Forum aus, diese Angabe des Auswärtigen Amtes zeige die an Leibeigenschaft grenzende soziale Situation der früheren Bewohner des Ortes und die Machtstellung des Großgrundbesitzers CN.. Dass in verschiedenen Gebieten im Südosten der Türkei noch semifeudale Strukturen herrschen, ist aber kein Indiz für das Fortbestehen einer mittelbaren Gruppenverfolgung der Yeziden. Denn dabei handelt es sich um tatsächliche Verhältnisse, denen die Bewohner dieser Region allgemein ausgesetzt sind. Im Übrigen vermag der Senat auch hier keinen religiösen Hintergrund zu erkennen. Das Dorf DD. war von Moslems in Besitz genommen worden. Da DH. den Angaben des Yezidischen Forums zufolge dort seinen Landbesitz registrieren lassen wollte und eine Bewirtschaftung beabsichtigte, kam es offenbar zu dem Konflikt mit der dort ansässigen Familie CN.. Im Übrigen soll sich dieser Fall bereits im Juli 2002 zugetragen haben, also noch vor der entscheidungserheblichen Änderung der Situation der Yeziden in der Türkei. Wie der Senat bereits dargelegt hat, sind die Voraussetzungen für die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 14.2.2006, a.a.O.) etwa ab dem Jahr 2003 entfallen.

117

Die verschiedenen Erkenntnisquellen stimmen darin überein, dass im März bzw. Mai 2002 der aus BJ. im Kreis AZ. stammende yezidische Scheich DI. und seine Ehefrau in der Nähe von AY. umgebracht worden sind. Während aber das Auswärtige Amt die Vermutung äußert, dass es sich bei der Tat um einen Raubmord handele und nach dem bisherigen Erkenntnissen keine Anhaltspunkte für einen politischen oder religiösen Hintergrund vorlägen, bleibt das yezidische Forum bei seiner Behauptung, die Tat sei von muslimischen Dorfschützern verübt worden, die verhindern wollten, dass DI. die Ländereien bewirtschaftete, die seiner Familie gehörten. Er sei schon kurz vor der Tat von diesen bedroht worden und fast von einem Lastwagen überfahren worden. Das habe er telefonisch seinem in Deutschland lebenden Onkel DJ. berichtet. Auch würden sich die religiöse Motivation einer solchen Tat und die Bereicherungsabsicht nicht ausschließen. Die Tötungshemmung gegenüber Yeziden, die als vogelfrei betrachtet würden, sei geringer als gegenüber Moslems. Der Kläger äußert die Befürchtung, dass die genannten Informationsquellen des Auswärtigen Amtes ein Interesse daran hätten, einen Mord mit politischem oder religiösem Hintergrund zu verneinen, um die Übergriffe auf die yezidische Minderheit zu leugnen bzw. zu verharmlosen. Ähnlich lässt sich auch AJ. im Gutachten vom 17. April 2006 an das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt ein, der zudem behauptet, zwar sei der Fall bis 2005 ungeklärt geblieben, jedoch wisse man seitdem über die genaue Identität der Täter und ihrer Komplizen Bescheid. Mit einer strafrechtlichen Verfolgung werde nicht mehr gerechnet, denn die zuständigen Behörden hätten daran keinerlei Interesse. Diese Informationen habe er vom Bruder des Ermordeten erhalten. Demgegenüber hat das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (a.a.O.) ausgeführt, dass Staatsanwaltschaft und Gendarmerie umfangreich ermittelt hätten, aber bislang ohne konkrete Ergebnisse. Die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen; einem Dorfschützer sei die Tat aber nicht zur Last gelegt worden. Angesichts dieser widerstreitenden Angaben ist jedenfalls nicht der Nachweis erbracht, dass DI. und seine Ehefrau aus religiösen Gründen umgebracht worden sind. Im Übrigen dürfte es auf diese Frage - wie zuvor auch in Fall 10 - nicht ankommen, weil der Vorfall sich bereits im Jahr 2002 ereignet hat. Dementsprechend hat auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 14. Februar 2006 (a.a.O., S. 20 UA) hingewiesen, dass dieser Fall für die Bewertung der derzeitigen Gefährdungssituation der yezidischen Gruppenangehörigen nur relativ geringe Bedeutung habe.

118

12. Über die vorstehend wiedergegebenen Fälle hinaus hat der Kläger des vorliegenden Verfahrens mit Schriftsatz vom 13. Juli 2007 zwei weitere, miteinander im Zusammenhang stehende Vorfälle benannt, die sich am 5. und 16. Oktober 2006 im Dorf AD., Kreis AF., zugetragen haben sollen. Er hat dazu auch Unterlagen der Staatsanwaltschaft AF. und des Amtsgerichts AF. vorgelegt, die der in der mündlichen Verhandlung vernommene Zeuge AN. von der betroffenen Familie DK. erhalten hat. Der Kläger trägt vor, am 5. Oktober 2006 habe der Moslem DL. den beiden Yeziden DM. und DN. aus AD. angedroht, er werde sie erschießen bzw. ermorden, wenn sie (vermeintliche) Schulden ihres verstorbenen Vaters DO. nicht bezahlen würden. Die Moslems aus dem Nachbardorf hätten behauptet, DO. einen Lkw mit Linsen im Wert von mehreren Millionen Euro geliefert zu haben. Die beiden Yeziden hätten sich aber geweigert zu zahlen, da sie von irgendwelchen Schulden des Verstorbenen nichts gewusst hätten. Daraufhin seien am 16. Oktober 2006 Angehörige der Familie DP. in AD. erschienen und hätten die drei DQ., DM. und DR. verprügelt, um ihrer vermeintlichen Forderung Nachdruck zu verleihen. Diese hätten wegen der ihnen zugefügten Körperverletzungen Strafanzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft erhob wegen der Bedrohung auch Anklage gegen DL., doch wurde dieses Verfahren mit Beschluss vom 21. November 2006 eingestellt, weil keine Beweise gegen ihn gefunden worden seien. Dagegen fand in dem Verfahren wegen der Körperverletzungen vom 16. Oktober 2006 eine mündliche Verhandlung vor dem Amtsgericht AF. am 22. Januar 2007 statt. Aus dem Verhandlungsprotokoll geht hervor, dass neben zwei Mitgliedern der Familie DP. die drei Yeziden DS., DT. und DU. angeklagt waren. Während diese an der mündlichen Verhandlung teilnahmen, waren die Mitangeklagten DP. nicht erschienen. Daraufhin beschloss das Amtsgericht, die beiden Mitglieder der Familie DP. mit Gewalt zum Gericht bringen zu lassen. Wie sich aus der Sitzungsniederschrift weiter ergibt, zogen die drei Mitglieder der Familie DK. ihre Strafanzeigen zurück, erklärten aber, dass sie ihre Aussagen, die sie bei der Staatsanwaltschaft gemacht hätten, aufrecht erhielten. Das Amtsgericht vertagte die mündliche Verhandlung auf den 5. März 2007.

119

Der Kläger weist darauf hin, dass die Strafanzeigen nur deshalb zurückgezogen worden seien, weil in der Zwischenzeit moslemische Großgrundbesitzer der Nachbardörfer zwischen den Familien DK. und DP. vermittelt hätten. Dafür habe die Familie DK. einen Betrag von 80.000,--EURO zahlen müssen, der nur mit Hilfe von verwandten Familien aus Deutschland zu beschaffen gewesen sei. Der Zeuge AN. ergänzte dies in der mündlichen Verhandlung dahingehend, dass diese Summe an die muslimischen Großgrundbesitzer für die „Schlichtungsverhandlungen“ gezahlt worden sei, aber praktisch ein Schutzgeld darstelle. Dies habe er von der Familie DK. erfahren.

120

Der Senat vermag eine Asylrelevanz dieses Vorgangs jedoch nicht zu erkennen. Es handelt sich vielmehr um private Streitigkeiten zwischen Moslems und Yeziden mit wirtschaftlichem Hintergrund. Dass der türkische Staat auch in diesem Fall grundsätzlich bereit ist, den Yeziden Schutz zu gewähren, wird am Ablauf der strafrechtlichen Verfahren deutlich. Dass ein Ermittlungsverfahren mangels Beweises eingestellt wird, ist auch in Westeuropa nicht unüblich. Die Anordnung der Vorführung gegenüber den zur mündlichen Verhandlung des Amtsgerichts nicht erschienenen Mitangeklagten DP. macht andererseits deutlich, dass Muslime keine Sonderbehandlung genießen. Wenn die drei mitangeklagten Angehörigen der Familie DK. sich dazu entschlossen haben, die Strafanzeige zurückzuziehen und sich mit der Familie DP. anderweitig zu arrangieren, liegt das in ihrem Verantwortungsbereich. Sie hätten stattdessen auch auf einer gerichtlichen Klärung bestehen können. Dies gilt auch insofern, als behauptet wird, dass die angebliche Zahlung von 80.000,--EURO an die muslimischen Großgrundbesitzer praktisch ein Schutzgeld darstelle.

121

Soweit es um die grundsätzliche Frage der Zahlung von Schutzgeldern geht, hat das Auswärtige Amt die vom Yezidischen Forum aufgestellte Behauptung, Yeziden müssten regelmäßig an Moslems Erpressungsgelder zahlen, nicht bestätigen können (Auskunft v. 26.1.2007, a.a.O.). Befragungen hierzu bei diversen Stellen bzw. Personen seien negativ verlaufen. Derartige Straftaten seien weder angezeigt worden noch existierten Ermittlungsverfahren. Das Yezidische Forum hat in seinen Anmerkungen vom 20. März 2007 dem Auswärtigen Amt in dieser Hinsicht eine unrealistische Betrachtungsweise vorgeworfen. Auch in westlichen Ländern sei es nicht üblich, dass Schutzgeldforderungen umgehend von den Betroffenen gegenüber Dritten publik gemacht würden. Ebenso wie der Kläger des vorliegenden Verfahrens geht das Yezidische Forum davon aus, dass derartige Erpressungen von den betroffenen Yeziden aus Angst nicht angezeigt würden. In der Türkei gebe es für Yeziden keine Instanz, die in der Lage oder bereit wäre, sie vor Racheakten zu schützen. Dieses allgemeine Misstrauen der Yeziden in die türkischen Behörden und Gerichte vermag der Senat aus den oben angeführten Gründen nicht zu teilen. Jedenfalls kann nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes nicht davon ausgegangen werden, dass im Südosten der Türkei lebende Yeziden generell an Moslems Gelder zahlen müssen, um dort unbehelligt leben zu können. Dass dies in Einzelfällen möglicherweise vorgekommen ist, mag zutreffen. Daraus kann aber nicht auf eine weiterhin bestehende Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei geschlossen werden. Den davon betroffenen Yeziden ist grundsätzlich zuzumuten, sich deswegen an die zuständigen Behörden und Gerichte zu wenden.

122

Eine andere asylrechtliche Bewertung der Situation der Yeziden in der Türkei ergibt sich auch nicht aus dem Gutachten von AJ. an das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt vom 17. April 2006. Der Senat hat bereits näher begründet, weshalb Anlass besteht, an der Sorgfalt der Recherchen und an der Objektivität des Gutachters zu zweifeln.

123

AJ. hat im Anhang dieses Gutachtens eine „Auflistung der mir bekannten Übergriffe und Vorfälle der jüngsten Zeit aus den yezidischen Ansiedlungsgebieten, die aufgrund von Recherchen über die yezidische Restgemeinde im genannten Areal erfasst wurden“, erstellt. Ein Teil dieser Fälle deckt sich mit den vom Yezidischen Forum genannten und vom Senat bereits behandelten Ereignissen. Einem anderen Teil seiner Ausführungen muss nicht nachgegangen werden, da er lediglich beschreibt, welche früheren Yezidendörfer heute nicht mehr von Yeziden bewohnt werden bzw. von Muslimen „besetzt“ worden sein sollen. Außerdem werden Vorfälle wie die Zerstörung und Schändung von yezidischen Grabstätten und Heiligtümern erwähnt, wozu der Senat später Stellung nehmen wird. Eine Reihe der von ihm wiedergegebenen Fälle betrifft gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Yeziden und Muslimen im Zusammenhang mit Eigentumsfragen und der Bewirtschaftung von Feldern, wobei es zweifelhaft ist, dass die yezidische Religionszugehörigkeit dabei eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Stattdessen spricht mehr dafür, dass es sich - wie in den vom Senat bereits behandelten Fällen auch - um wirtschaftliche Konflikte handelte. Als möglicherweise zu berücksichtigende und in den übrigen Erkenntnismitteln nicht aufgeführte Übergriffe verbleiben allenfalls fünf Fälle (so auch VG Minden, Urt. v. 27.4.2007 - 8 KL 2544/06.A -).

124

Nach Angaben von AJ. wurde der deutsche Staatsangehörige DV. im Sommer 2005 von türkischen Sicherheitskräften in AF. festgenommen und den ganzen Tag verhört. Ihm gegenüber habe er von Misshandlungen und Diskriminierungen wegen seiner Glaubenszugehörigkeit berichtet. AJ. stützt sich dabei aber lediglich auf die Aussage des Betroffenen, ohne diese gegenrecherchiert zu haben. Der Senat hat auch Zweifel, ob sich dieser Fall tatsächlich so zugetragen hat, wie es der Sachverständige darstellt. Da es sich um einen deutschen Staatsangehörigen handelt, wäre zu erwarten gewesen, dass er die ihm widerfahrene Behandlung deutschen Stellen mitteilt. Dies ist aber offensichtlich nicht geschehen, denn dazu gibt es - auch in anderen Erkenntnismitteln - keinerlei Hinweise.

125

AJ. berichtet weiter von einem deutschen Staatsangehörigen yezidischer Herkunft namens DW., der in der Stadt AF. von einigen ihm unbekannten muslimischen Männern geschlagen worden sei. Hier wird nicht einmal deutlich, woher AJ. die entsprechenden Informationen hat und wann sich dieser Vorfall ereignet haben soll. Ebenso wenig lässt sich feststellen, ob die angeblichen Schläge religiös motiviert waren.

126

Nach Angaben von AJ. wurden im Dezember 2005 DX. und sein Sohn DY. von konvertierten Yeziden und muslimisch-kurdischen Dorfschützern im Dorf DZ. (Provinz AG.) angeschossen und ihr Fahrzeug „enteignet“. Kurz nach diesem Vorfall habe er DX. im Krankenhaus besucht. Dieser habe ihm erklärt, dass ein Verfahren eingeleitet worden sei, die festgenommenen Täter seien aber nach wenigen Tagen wieder freigelassen worden. Auch hier fehlen tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die Religionszugehörigkeit von EA. und EB. das maßgebliche Motiv für die Täter war. Es sieht vielmehr nach einem Raubüberfall aus, da auch ihr Fahrzeug angeblich gestohlen worden ist.

127

AJ. berichtet ferner, dass EC. und seine Ehefrau im Januar 2005 im Dorf ED. (Provinz AO.) durch Unbekannte ermordet worden seien. Sie seien Mitglieder der Großfamilie EE. gewesen, der das Dorf ED. gehöre. In dieser Großfamilie gebe es sowohl muslimische als auch yezidische Kurden. Die Ermordeten zählten zu den Mitgliedern der Familie, die erst vor dem 2. Weltkrieg zum Islam konvertiert seien. Auch hier bleiben die Hintergründe der Tat im Dunkeln. Es ist für den Senat nicht nachvollziehbar, weshalb dieser Fall als Beleg für eine Gruppenverfolgung von Yeziden dienen soll, da die Ermordeten angeblich zum Islam konvertiert waren.

128

Schließlich weist AJ. auf die Verhältnisse im Dorf EF. (kurdisch: EG.), Kreis AY. hin, in dem ursprünglich über 300 yezidische Familien gelebt hätten. Gegenwärtig könne sich dort wegen der Stationierung der türkischen Armee und von Dorfschützern niemand niederlassen. Als einige ehemalige yezidische Bewohner das Dorf hätten besuchen wollen, um herauszufinden, ob eine Rückkehrmöglichkeit bestünde, seien sie „vehement bedrängt“ und verjagt worden. Dass dieses Verhalten von muslimischen Dorfschützern bzw. Angehörigen der türkischen Armee asylerhebliche Gründe haben könnte, ist der Darstellung von AJ. aber nicht zu entnehmen.

129

Aber selbst wenn einige der vom Yezidischen Forum, von dem Sachverständigen AJ. und dem Kläger genannten Fälle entgegen den vorstehenden Ausführungen des Senats asylrelevant sein sollten, zumal sich auch nicht immer eindeutig ermitteln lässt, inwieweit Übergriffe gegen Yeziden überwiegend religiös motiviert sind oder ob sie hauptsächlich einen wirtschaftlichen oder kriminellen Hintergrund haben, würden diese schon von ihrer Anzahl her nicht ausreichen, um die erforderliche Verfolgungsdichte für den hier maßgeblichen Zeitraum von 2003 bis Mitte 2007 zu belegen. Für eine Beruhigung der Lage spricht zudem, dass der letzte in diesem Zusammenhang berichtete Vorfall sich im Oktober 2006 ereignet hat. Wären seitdem weitere Übergriffe gegen Yeziden erfolgt, wäre dies wahrscheinlich auch bekannt geworden. Insbesondere die verschiedenen yezidischen Exilorganisationen haben - wie auch im vorliegenden Verfahren deutlich geworden ist - ein erhebliches Interesse an der Veröffentlichung derartiger Vorfälle, zumal im Ausland lebende Yeziden, die vermehrt in ihre Heimat reisen und auch im Übrigen in Kontakt mit den dort lebenden Verwandten stehen, davon bestimmt erfahren hätten. Ebenso wäre den Menschenrechtsorganisationen, die inzwischen in der Türkei weitgehend frei von staatlichen Einschränkungen arbeiten können (vgl. AA, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 5), und den nationalen und internationalen Medien dies vermutlich nicht verborgen geblieben. Außerdem steht die Türkei vor allem im Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte und den Schutz von religiösen Minderheiten während des laufenden Beitrittsprozesses unter ständiger Beobachtung der Europäischen Union. Aus diesen Gründen hält es der Senat auch für unwahrscheinlich, dass es in den Jahren 2003 bis 2006 eine nennenswerte Anzahl von nicht bekannt gewordenen Verfolgungshandlungen (sog. Dunkelziffer) gegeben haben könnte. Auch wenn es sich bei den Yeziden in der Türkei um eine nach den Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts besonders kleine Gruppe handelt, lässt sich nach alledem nicht feststellen, dass die Verfolgungsschläge so zahlreich sind, dass jeder bisher nicht betroffene Yezide konkret befürchten müsste, in absehbarer Zeit selbst betroffen zu werden.

130

Ebenso wenig kann davon ausgegangen werden, dass Yeziden in der Türkei bei ihrer Religionsausübung unzumutbar behindert werden. Dass das religiöse Existenzminimum im privaten Bereich durch radikale Muslime nachhaltig beeinträchtigt sei, behauptet auch der Kläger nicht. Allerdings sieht das Yezidische Forum (Stellungnahme v. 4.7.2006) eine Verfolgung wegen Religionszugehörigkeit im Sinne des Art. 10 Abs. 1 b der Qualifikationsrichtlinie darin, dass eine gemeinschaftliche und öffentlich sichtbare Ausübung der yezidischen Religion in der Türkei nicht möglich sei. Zwar dehnt diese Vorschrift - wie bereits dargelegt - den Schutz vor religiöser Verfolgung auf die öffentliche Glaubensbetätigung aus. Um die Glaubensausübung im öffentlichen Bereich geht es aber bei den Yeziden gerade nicht (vgl. Nds.OVG, Urt. v. 19.3.2007, a.a.O.). Denn die religiösen Rituale der Yeziden dürfen nicht vor den Augen Ungläubiger praktiziert werden. Der erkennende Senat hat dazu in seinem Grundsatzurteil vom 28. Januar 1993 (a.a.O., S. 17 UA) unter Auswertung der seinerzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel Folgendes ausgeführt:

131

Kulthandlungen üben die Yeziden mit Ausnahme des privaten Gebets zusammen mit der ihnen kraft Geburt zugeordneten Priester- (Scheich- )Familie aus, der die religiöse Unterweisung und Betreuung der Laien (Muriden) obliegt. Gottesdienste werden in den Wohnungen abgehalten, da Kultbauten mit Ausnahme der Bauten am Grabe des Scheichs Adi, der als Inkarnation des Melek Taus gilt, unbekannt sind. Öffentliche Gebete finden im Freien und nur in Anwesenheit anderer Yeziden statt; dies geschieht bei Sonnenaufgang, während bestimmter Festperioden aber auch zu anderen Tageszeiten. Glaubensinhalte, Kulthandlungen und Festriten halten Yeziden vor Andersgläubigen möglichst geheim. Sie schließen sich als Glaubensgemeinschaft bewusst gegen Andersgläubige ab.

132

Gotteshäuser gibt es also ebenso wenig wie eigenständige Gebetsräume in anderen Baulichkeiten. Mithin handelt es sich bei der yezidischen Religion von ihrem Wesen her um eine Art „Geheimreligion“ (vgl. auch Kizelhan, Die Yeziden, 1979, S. 48 ff. u. 119). Außerdem ist der yezidischen Religion das Bekehren Andersgläubiger und das damit einhergehende öffentliche Missionieren fremd, da die Zugehörigkeit zur yezidischen Glaubensgemeinschaft auf direkter Abstammung von yezidischen Eltern beruht, also nur durch Geburt erworben werden kann. Eine Konversion zum Yezidentum ist deshalb nicht möglich (vgl. hierzu neben Urteil des erkennenden Senats v. 28.1.1993, a.a.O., auch amnesty international, Gutachten v. 16.8.2005 an VG Köln). Es kommt somit aus asylrechtlicher Sicht auch nicht darauf an, dass Moslems im Südosten der Türkei Heiligtümer und Grabstätten der Yeziden beschädigt und zerstört haben sollen. Dass sich darunter keine jüngeren Gräber von Yeziden befunden haben dürften, zeigt sich daran, dass im Ausland verstorbene Yeziden in zunehmendem Maß im Südosten der Türkei beerdigt werden. Sollte eine Beschädigung von Gräbern oder die Störung von Bestattungsritualen ernsthaft drohen, wäre es zu dieser Entwicklung wahrscheinlich nicht gekommen. Auch der Zeuge AN., der im Jahr 2004 im Umkreis von 150 km jedes ihm bekannte Dorf im Südosten der Türkei, in dem Yeziden gelebt haben bzw. noch leben, besucht hat, hat Derartiges nicht erwähnt, sondern (lediglich) ausgesagt, dass ältere yezidische Gräber bis zu einer Tiefe von 3 m ausgehoben gewesen seien, wobei er vermute, dass nach Schmuckstücken gesucht worden sei. Heute würden jedenfalls yezidischen Gräbern keinerlei Wertgegenstände beigegeben.

133

Eine asylerhebliche Verletzung der Religionsausübung von Yeziden im Südosten der Türkei liegt auch nicht darin, dass dort nach Angaben des Yezidischen Forums (Stellungnahme v. 4.7.2006) nur noch wenige Sheiks bzw. Pirs leben. Dabei verkennt der Senat nicht die Bedeutung, die der religiösen Betreuung der Muriden durch Angehörige der yezidischen Priesterstände zukommt. Eine Verletzung des religiösen Existenzminimums liegt aber nur dann vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren Kern durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht wird. Der Heimatstaat ist nicht zur Gewährleistung einer bestimmten religiösen Infrastruktur verpflichtet. Die vom Yezidischen Forum insoweit geltend gemachten religiösen Beeinträchtigungen beruhen jedoch nicht auf staatlichen oder dem Staat zurechenbaren Eingriffen, sondern sind lediglich die tatsächliche Folge der vergleichsweise geringen Zahl von in der Türkei lebenden Yeziden (so zu Recht OVG NRW, Urt. v. 4.2.2006, a.a.O.; Schl.-Holst. OVG, Urt. v. 29.9.2005, a.a.O.). Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass in den letzten Jahren auch Peshimame aus Deutschland in die Türkei zur Betreuung der dort lebenden Yeziden gereist sind. Darüber hinaus dürfte auch Kontakt zu Angehörigen der yezidischen Priesterstände in den Nachbarländern Irak und Syrien bestehen. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass diesen die Einreise in die Türkei verwehrt wird."

134

An dieser Rechtsprechung hält der 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt fest (vgl. Beschl v. 28.8.2008 - 11 LA 178/08 - und v. 13.11.2008 - 11 LA 174/08 -).

135

Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung des 11. Senats des erkennenden Gerichts an. Die Beigeladene hat Gründe, die eine andere Einschätzung der Lage der Yeziden in der Türkei hinsichtlich der Frage einer Gruppenverfolgung rechtfertigen würden, nicht vorgetragen. Die von ihr in der Berufungsbegründung vorgetragenen gegenteiligen Argumente sind von dem 11. Senat in seiner Rechtsprechung erschöpfend dahingehend beantwortet worden, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei nicht (mehr) anzunehmen ist. Der Senat hat dafür, dass demgegenüber nunmehr das Gegenteil der Fall ist, auch ansonsten keine Anhaltspunkte.

136

Wie der 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts haben auch das OVG Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 31.8.2007 - 15 A 994/05.A -) und das OVG Sachsen-Anhalt (Urt. v. 24.10.2007 - 3 L 380/04 -) entschieden. Die Verwaltungsgerichte in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, also der Bundesländer, denen yezidische Asylbewerber maßgeblich zugewiesen worden sind, haben sich nahezu durchgängig der Auffassung der jeweiligen Obergerichte angeschlossen (vgl. VG Münster, Urt. v. 20.7.2006 - 3 K 1748/04.A -; VG Arnsberg, Urt. v. 6.2.2007 - 8 K 1940/05.A -; VG Osnabrück, Urt. v. 10.4.2007 - 5 A 35/07 -; VG Lüneburg, Urt. v. 12.8.2008 - 2 A 53/08 -; VG Minden, Urt. v. 19.8.2008 - 12 K 2188/07.A -; VG Hannover, Urt. v. 16.9.2008 - 1 A 1578/06 -; VG Stade, Urt. v. 14.10.2008 - 4 A 876/07 -). Insbesondere stimmen alle obergerichtlichen Judikate darin überein, dass sich die Sicherheitslage für die Yeziden in der Türkei verbessert hat und sie verstärkt staatliche Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen können (OVG Nordrhein-Westfalen, Rdnrn. 91, 93, 97; OVG Sachsen-Anhalt, Rdnrn. 54, 77, 78, 85; Nds. OVG, Rdnrn. 46, 57 -59, 93, <die Randnummern beziehen sich auf die Veröffentlichungen der jeweiligen obergerichtlichen Entscheidung in juris>), dass keine religiös motivierten Übergriffe auf Yeziden in den letzten Jahren festzustellen waren (OVG Nordrhein-Westfalen, Rdnrn. 84 - 86, 117; OVG Sachsen-Anhalt, Rdnr. 52; Nds. OVG, Rdnr. 66), dass Verletzungen des religiösen Existenzminimums nicht festzustellen sind (OVG Nordrhein-Westfalen, Rdnrn. 109, 111; OVG Sachsen-Anhalt, Rdnr. 90; Nds. OVG, Rdnrn. 94 - 97), dass die für die Annahme der Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte im Hinblick auf gegen Yeziden gerichtete Anschläge nicht festzustellen ist (OVG Nordrhein-Westfalen, Rdnr. 75; OVG Sachsen-Anhalt, Rdnrn 51, 60, 62, 74; Nds. OVG, Rdnr. 93), dass in Deutschland lebende Yeziden besuchsweise in die Türkei reisen und ihre Verstorbenen zunehmend zu ihren Wurzeln in die Siedlungsgebiete der Yeziden in der Südosttürkei überführen (Nds. OVG, Rdnrn. 47, 49), dass viele Yeziden aus Deutschland in die Türkei reisen, um dort Immobiliengeschäfte zu tätigen oder vorhandene Grundstücke und Immobilien zu bewirtschaften (OVG Nordrhein-Westfalen, Rdnr. 126; OVG Sachsen-Anhalt, Rdnr. 76; Nds. OVG, Rdnrn. 38, 47, 48), dass sich die Yeziden in ihren Siedlungsgebieten vereinzelt vereinsmäßig organisiert haben (OVG Sachsen-Anhalt, Rdnr. 76) und dass die von dem yezidischen Forum e. V. aufgelisteten elf Referenzfälle sowie die Auflistung des Sachverständigen AJ. sich im Wesentlichen nicht als asylrelevant erwiesen haben und dem Gutachten des Sachverständigen AJ. lediglich ein eingeschränkter Beweiswert beigemessen werden kann (OVG NRW, Rdnrn. 127, 129, 133; OVG Sachsen-Anhalt, Rdnrn. 56, 65 ff, 71 ff; Nds. OVG, Rdnrn. 62, 70 ff, 87 ff).

137

Soweit unter Hinweis auf Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Qualifikationsrichtlinie darauf verwiesen werden sollte, dass Yeziden in der Türkei in ihrer öffentlichen Glaubensbetätigung beeinträchtigt würden und es sich bei ihrer Religion entgegen der bisherigen Annahme nicht um eine so genannte Geheimreligion handelt, hat der 11. Senat des erkennenden Gerichts, dessen Ausführungen der erkennende Senat sich anschließt, diesen Einwand ausreichend entkräftet. In seinem Beschluss vom 28. August 2008 - 11 LA 178/08 - heißt es unter anderem: "Im Einzelnen hat der Senat die Auffassung vertreten, dass das (etwaige) Fehlen einer zureichenden geistlichen Betreuung von Yeziden in der Türkei dem türkischen Staat nicht zuzurechnen ist, da der Heimatstaat nicht zur Gewährleistung einer bestimmten religiösen Infrastruktur verpflichtet ist (vgl. jeweils UA S. 47). Dieses gilt auch, wenn die religiöse Infrastruktur die bei den Yeziden wegen vorausgegangener, in der Vergangenheit liegender Verfolgungsmaßnahmen entfallen ist, hingegen gegenwärtig (seit 2003) zielgerichtete Eingriffe betreffend die Gewährleistung der religiösen Betreuung nicht mehr feststellbar sind (vgl. OVG Magdeburg, Urt. v. 24.10.2007 - 3 L 380/04 -, juris Rdnr. 89). Das (etwaige) Fehlen einer zureichenden geistlichen Betreuung von Yeziden ist nicht (mehr) Folge einer religiösen Verfolgung, sondern Konsequenz der weiterhin vergleichsweise geringen Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden (ebenso OVG NRW, Urt. v. 14.2.2006 - 15 A 2119/02 - ZAR 2006, 215) sowie der Entscheidung der in das Ausland abgewanderten/geflüchteten yezidischen Würdenträger, weiterhin im Ausland zu verbleiben und nicht in die Türkei zurückzukehren.

138

Darüber hinaus besteht eine Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen nach Art. 10 Abs. 1 b der Qualifikationsrichtlinie nur, wenn eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte droht, wie sich aus dem Zusammenspiel von Art. 9 mit Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie ergibt. Eine derart schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte ist aber bezogen auf die geistliche Betreuung auch deswegen nicht zu bejahen, weil, wie in den o. a. Urteilen ausgeführt, in den letzten Jahren Peshimame aus Deutschland zumindest teilweise in die Türkei zur Betreuung der dort lebenden Yeziden gereist sind. Darüber hinaus dürften auch Kontakte zu Angehörigen der yezidischen Priesterstände in den Nachbarländern Irak und Syrien bestehen, ohne dass es - wie sich aus dem Vorstehenden ergibt auf diese zusätzlichen Kontaktmöglichkeiten entscheidend ankommt. Erkenntnisquellen, die eine andere Bewertung nahe legen, werden im Zulassungsantrag nicht genannt.

139

Soweit die Kläger sinngemäß geltend machen, politische Verfolgung wegen der Religionszugehörigkeit könne nicht nur vom Staat, sondern nach Art. 6 der Qualifikationsrichtlinie auch von sog. nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, hat der Senat in den o. a. Urteilen diesen Gesichtspunkt berücksichtigt (vgl. jeweils UA Bl. 12), ist jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass der türkische Staat in zureichendem Maße bereit ist, Schutz zu gewähren (11 LB 332/03, UA S. 21, u. 11 LB 324/03, UA S. 20). Dem Zulassungsantrag sind keine Erkenntnisquellen zu entnehmen, die zu einer anderen Einschätzung Anlass geben könnten.

140

Nach der Rechtsprechung des Senats liegen weiter keine schwerwiegenden Eingriffe in die nach Art. 10 Abs. 1 b Qualifikationsrichtlinie vom Schutzbereich der Religionsfreiheit nunmehr auch erfasste öffentliche Glaubensbetätigung vor. Davon ist schon deswegen nicht auszugehen, weil sich die wesentliche Glaubensbetätigung der Yeziden nur im häuslich-privaten Bereich abspielt. Die Yeziden haben - abgesehen vom zentralen Heiligtum am Grabe des Scheichs Adi in Lalish (Nordirak) - keine Gotteshäuser. Nach weitgehend übereinstimmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich bei der Religion der Yeziden wenigstens überwiegend um eine sog. Geheimreligion, da viele Riten unter Ausschluss anderer Glaubenszugehöriger nicht öffentlich praktiziert werden. So finden zwar öffentliche Gebete im Freien statt, aber nicht im Beisein von Angehörigen anderer Religionen (vgl. etwa Wießner, Stellungnahme vom 8.6.1998 an VG Gießen; Berner/Wießner, Stellungnahme vom 22.2.1982 an VG Stade; Sternberg-Spohr, Gutachten von Mai 1998 für die Gesellschaft für bedrohte Völker; Kizilhan, Die Yeziden, 1997, S. 119; amnesty international, Stellungnahme vom 16.8.2005 an VG Köln; a. A. Düchting, Die Kinder des Engel V, September 2004, S. 606 ff). Der geheime Charakter der Religion äußert sich auch in dem Gebot der "taqiye", dem Verstellen aus Frömmigkeit (vgl. dazu näher EKD-Informationen: Die Yeziden, März 1992, S. 10 f; VG Hannover, Urt. v. 19.12.2007, 1 A 3097/06 u. a. -). Zudem wird die yezidische Religion ausschließlich über die Geburt vermittelt. Eine Konversion zum Yezidentum ist nicht möglich. Missionierungen finden nicht statt. Die öffentliche Darstellung der eigenen religiösen Identität ist somit kein wesentliches hergebrachtes Element des yezidischen Glaubens (so auch Nds. OVG, Beschl. v. 7.6.2007 - 2 LA 416/07 -, juris; Urt. v. 19.3.2007 - 9 LB 373/06 -, erk. Sen., Beschl. v. 29.1.2008 - 11 LB 401/03 -; OVG NRW, Urt. v. 29.8.2007 - 15 A 4600/03. A -; OVG Saarland, Beschl. v. 5.3.2007 - 3 A 12/07 -, juris). Dass die verbleibende, nur noch einen sehr eingeschränkten Bereich umfassende Religionsausübung der Yeziden außerhalb des privaten Bereichs der Türkei schwerwiegend beeinträchtigt sein könnte, ist dem Zulassungsantrag nicht zu entnehmen. Vielmehr zeigt die Tatsache, dass die Yeziden im Südosten der Türkei Friedhöfe unterhalten und im Ausland verstorbene Yeziden in zunehmenden Maße in ihrer Heimat beerdigt werden wollen (woraus zu folgern ist, dass die Bestattungsrituale im Wesentlichen ungestört durchgeführt werden können), dass religiöse Riten der Yeziden, auch wenn sie teilweise in der Öffentlichkeit stattfinden, von muslimischen Nachbarn zumindest toleriert werden."

141

In seinem Beschluss vom 13. November 2008 - 11 LA 174/08 - hat der 11. Senat des erkennenden Gerichts des Weiteren ausgeführt:

142

"Zwar mag es sein, dass die Geheimhaltung von wesentlichen Ritualen und Bräuchen der yezidischen Religion auf die jahrhundertelange Verfolgung dieser Glaubensgemeinschaft in den Herkunftsländern zurückzuführen ist. Auch erscheint es plausibel, dass sich die in Deutschland lebenden Yeziden unter den Bedingungen eines freiheitlichen Rechtsstaates bis zu einem gewissen Grad an die hiesigen Verhältnisse anpassen und ihren Glauben zumindest teilweise anpassen und ihren Glauben zumindest teilweise öffentlich leben. Allerdings ist dem Vorbringen der Beigeladenen zu 2) - 4) und den von ihnen zitierten Erkenntnismitteln in dieser Hinsicht lediglich zu entnehmen, dass die Yeziden in Deutschland Kulturvereine gegründet haben, die sich nicht nur in der Öffentlichkeit artikulieren, sondern auch über Räume verfügen, in denen Versammlungen, religiöse Unterweisungen und Feiern stattfinden. Zu bestimmten Veranstaltungen würden auch Deutsche eingeladen. Aus diesen Ausführungen der Beigeladenen zu 2) - 4) ist aber nicht hinreichend deutlich, welche religiösen Riten in Deutschland nach wie vor unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden und an welchen auch Andersgläubige teilnehmen dürfen. Es hat den Anschein, als ob nichtyezidische Besucher lediglich an bestimmten religiösen Festen und Feiern teilnehmen dürfen, nicht aber an Ritualen, die der eigentlichen religiösen Lebensführung dienen, wie gemeinsames Beten und/oder Fasten, religiöse Unterweisung u. ä.. Dies könnte dafür sprechen, dass sich die wesentliche Glaubensbetätigung der Yeziden auch in Deutschland nicht vorwiegend in der Öffentlichkeit abspielt. Dies kann aber letztlich dahinstehen. Denn die Beigeladenen zu 2) - 4) haben nicht substantiiert dargelegt, dass ihnen - soweit die sich im Wandel begriffenen yezidischen Glaubensregelungen dies überhaupt zulassen - eine Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Türkei verwehrt wird. Dass sie dort möglicherweise gewisse Einschränkungen hinnehmen müssen, reicht nicht aus, da nicht jede Beeinträchtigung der öffentlichen Glaubensbetätigung die Qualität einer politischen Verfolgungshandlung erlangt, sondern nur eine solche schwerwiegender Art (vgl. Art. 9 Abs. 1 a und b der Qualifikationsrichtlinie).

143

Der Senat hat bereits im Urteil vom 17. Juli 2007 (a.a.O., UA S. 15, 17 u. 31) unter Auswertung der dazu vorliegenden Erkenntnismittel im Einzelnen ausgeführt, dass in den letzten Jahren vermehrt in Deutschland verstorbene Yeziden in die Türkei überführt und dort nach religiösem Ritus beigesetzt worden sind. Nach Angaben des 1. Vorsitzenden des yezidischen Kulturzentrums in AH. und Umgebung habe sich etwa die Hälfte der verstorbenen Mitglieder seines Vereins in der Türkei beerdigen lassen. Zur Unterbringung von Trauergästen aus dem Ausland wurde im AW. sogar ein sog. "yezidisches Haus" gebaut, in dem sich auch ein Raum für Trauerfeiern befindet. Außer in AW. gibt es mindestens auch an zwei weiteren Orten im Südosten der Türkei yezidische Friedhöfe, nämlich in BA. und BG.. Einen weiteren Friedhof scheint es in BJ. zu geben. Es ist ebenfalls bekannt, dass an den Trauerfeiern neben Angehörigen auch muslimische Nachbarn teilnehmen. Diese Entwicklung zeigt exemplarisch, dass religiöse Riten der Yeziden, soweit sie in der Öffentlichkeit stattfinden, von muslimischen Nachbarn zumindest toleriert werden. Diese Einschätzung wird auch nicht durch das Vorbringen der Beigeladenen zu 2) in Frage gestellt, dass die Überführung und Beerdigung von in Deutschland verstorbenen Yeziden in der Regel nur gegen Geld- und Sachgeschenke an Großgrundbesitzer, einflussreiche Moslems und gegebenenfalls das örtliche Militär möglich seien. Der Senat hat sich mit dieser Behauptung, die auf einer Stellungnahme des Yezidischen Forums e. V. vom 4. Juli 2006 beruht, bereits im Urteil vom 17. Juli 2007 (a.a.O., UA S. 31 u. 42) auseinander gesetzt. Das dazu befragte Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 an den Senat mitgeteilt, es sei die Regel, dass Angehörige von in Europa verstorbenen Yeziden oftmals muslimische Bekannte in der Türkei mit den Bestattungen beauftragten und für Leichenwagen bzw. Krankenwagen und insbesondere für Bestattungsfeiern ca. 2.000,--EUR bis 3.000,--EUR überwiesen. Dieses Geld werde für die Beisetzung und insbesondere für das traditionelle Essen im Rahmen der Trauerfeier verwendet. Dagegen hat es die vom Yezidischen Forum e. V. aufgestellte Behauptung, Yeziden müssten regelmäßig an Moslems Erpressungsgelder zahlen, nicht bestätigen können. Befragungen hierzu bei diversen Stellen bzw. Personen seien negativ verlaufen. Derartige Straftaten seien weder angezeigt worden noch existierten Ermittlungsverfahren. Der Senat sieht weiterhin keinen durchgreifenden Anlass, an der Richtigkeit dieser Auskunft zu zweifeln. Da nach alledem die Beigeladenen zu 2) - 4) keine aussagekräftigen Referenzfälle für ihren Vortrag, den Yeziden sei es in der Türkei nicht möglich, ihre Religion in der Öffentlichkeit auszuüben, benannt haben, scheidet eine Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG aus.

144

Hiervon abgesehen hat der Kläger zu Recht darauf hingewiesen, dass eine pauschale Betrachtung aller Angehörigen einer Religionsgemeinschaft nicht sachgerecht sei. Welche öffentlich sichtbare Religionsausübung für den Einzelnen zu den unverzichtbaren Formen seiner Glaubenspraxis gehört, hängt von der Stärke seiner jeweiligen persönlichen religiösen Bindungen und damit von einer einzelfallbezogenen Prüfung ab (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 20.11.2007, a.a.O.). Die Beigeladenen zu 2) - 4) haben jedoch nicht dargelegt, welche essenziellen Formen öffentlicher Religionspraxis sie in der Türkei nicht ausüben können. Auch hieran scheitert die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung."

145

(2) Zur Frage einer etwaigen unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei hat der 11. Senat des erkennenden Gerichts in seinem Urteil vom 18. Juli 2006 - 11 LB 264/05 - (bestätigt durch Beschl. v. 18.7.2007 - 11 LA 285/07 -) Folgendes ausgeführt:

146

"… Als objektiver Nachfluchtgrund kommt die Entwicklung der Verhältnisse in den traditionellen Siedlungsgebieten der Kurden (22 türkische Provinzen, vgl. OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -, S. 24 f.), zu denen auch die Heimatregion EH. der Klägerin gehört, in der Zeit nach November 2001 in Betracht. Ob nicht assimilierte Kurden aus diesen Gebieten einer regionalen bzw. örtlich begrenzten Gruppenverfolgung oder einer Einzelverfolgung wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit ausgesetzt sind, hat der erkennende Senat bisher offen gelassen, weil für diese Personengruppe jedenfalls in den westlichen Landesteilen eine inländische Fluchtalternative bestehe (vgl. etwa Urt. v. 7.12.2005 - 11 LB 193/04 -, v. 21.9.2004 - 11 LB 22/04 -, v. 27.2.2003 - 11 LB 228/02 - u. v. 18.1.2000 - 11 L 3404/99 -). Eine Überprüfung der neueren Entwicklung in der Türkei und der dazu vorliegenden Erkenntnismittel hat jedoch keine konkreten Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Kurden gegenwärtig auch in ihren traditionellen Siedlungsgebieten allein oder vorrangig wegen ihrer Volkszugehörigkeit verfolgt werden (ebenso aus jüngster Zeit OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.5.2006 - 10 B 5.05 -; OVG Bremen, Urt. v. 22.3.2006 - 2 A 303/04.A -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 9.2.2006 - A 12 S 1505/04 -; OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -). Dazu im Einzelnen: Bei den Parlamentswahlen vom 3. November 2002 errang die konservative, gemäßigt islamische AKP (Gerechtigkeits- und Aufbaupartei) die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Ihr Vorsitzender Erdogan wurde Ministerpräsident. Der schon von der Vorgängerregierung eingeleitete Reformkurs wurde mit einer Vielzahl von Verfassungs- und Gesetzesänderungen fortgeführt mit dem Ziel, die Voraussetzungen für eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union gerade auch im Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen. Insgesamt wurden seit Ende 2002 acht sog. Reformpakete verabschiedet. Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als türkisch (de facto kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelung zur Erschwerung von Parteiverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter. Am 1. Juni 2005 traten in Anlehnung an westeuropäische Standards u. a. ein neues Strafgesetzbuch, eine neue Strafprozessordnung sowie ein neues Strafvollzugsgesetz in Kraft. Am 3. Oktober 2005 kam es zu der Einigung der Türkei und der Europäischen Union über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen (vgl. zum Vorstehenden im Einzelnen Lagebericht des AA zur Türkei v. 11.11.2005, S. 6 f.).

147

Auch von Menschenrechtsorganisationen werden die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit setzt, grundsätzlich anerkannt. Allerdings wird die seit Anfang 2005 offenbar stagnierende Entwicklung in manchen Bereichen beklagt (vgl. etwa ai v. 31.7.2005, Länderkurzinfo Türkei; SZ v. 9.6.2006; Berliner Zeitung v. 13.4.2006; NZZ v. 2. 3. 2006). Die Umsetzung einiger Reformen geht langsamer als erwartet voran. Die Implementierungsdefizite werden u. a. darauf zurückgeführt, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung, Justiz und bei den türkischen Sicherheitskräften Skepsis und Misstrauen gegenüber der AKP-Regierung hegen und deshalb dieser Politik Widerstand entgegensetzen. Zwar ist die dominierende Stellung des Militärs zurückgedrängt worden. Es ist jedoch eine der mächtigsten Institutionen geblieben und versteht sich ebenso wie Jandarma und Polizei als Hüter kemalistischer Traditionen und Grundsätze, besonders der Einheit der Nation (vor allem gegen kurdischen Separatismus) und des Laizismus (gegen islamistische Tendenzen). Der erforderliche Mentalitätswandel hat somit noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und Justiz vollständig erfasst (SZ v. 15.12.2005). Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlungen sowie ihre lückenlose Strafverfolgung ist noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Folter wird immer noch wenn auch seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden - praktiziert, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, diese wirksam zu unterbinden (vgl. AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 30 f.; ai, Stellungnahme v. 20. 9. 2005, Kaya, Gutachten v. 8.8.2005 und Oberdiek v. 2.8.2005, jew. an VG Sigmaringen; Taylan, Gutachten v. 17.3.2005 an VG Frankfurt/Oder; NZZ v. 9.9.2005; FAZ v. 20. 8. 2005; Die Welt v. 6.8.2005). Auch wenn sich insofern seit dem Jahre 2001 die Situation verbessert hat, meldeten für das Jahr 2004 der Türkische Menschenrechtsverein IHD 843 und die Türkische Menschenrechtsstiftung TIHV 922 angezeigte Fälle von Folter/Misshandlung. Nach einem Bericht des IHD sind im Jahr 2005 825 Fälle von Folter und Misshandlung gemeldet worden. In diesem Bericht wird ferner darauf hingewiesen, dass Folterer in der Türkei nur ausnahmsweise Strafen zu befürchten hätten; in 52 Verfahren wegen Folter und Misshandlung seien nur 6 Angeklagte verurteilt worden (vgl. NZZ v. 2.3.2006). Amnesty international (Jahresbericht 2006, Stichwort: Türkei, S. 465 f.) führt dies auf den fehlenden Willen von Justizorganen zurück, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen. Auch das Auswärtige Amt (Lagebericht v. 11.11.2005, S. 31) sieht eine der Hauptursachen für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung in der nicht effizienten Strafverfolgung. Für das laufende Jahr 2006 sind wieder zahlreiche Fälle von Folter und Misshandlung gemeldet worden (vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 7).

148

Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirkt sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Die PKK verkündete am 1. April 2004 die Beendigung des seit 2000 währenden Waffenstillstandes. Vorausgegangen waren interne Auseinandersetzungen innerhalb der PKK, die sich mehrfach umbenannt hat (KADEK/KHG/ Kongra-Gel), aber inzwischen zu ihrer ursprünglichen Bezeichnung zurückgekehrt ist, bei denen die gemäßigten Kräfte unterlagen. In der Zeit von 1984 bis 1999 hatten die Kämpfe fast 35.000 Menschenleben unter PKK-Kämpfern, türkischen Sicherheitskräften und der Zivilbevölkerung gefordert. Danach beruhigte sich die Lage, was dazu führte, dass der in einigen Provinzen im Südosten seit 15 Jahren geltende Ausnahmezustand zum 30. November 2002 vollständig aufgehoben wurde. Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind. Die PKK-Kämpfer unterhalten Stützpunkte im Nordirak, von denen sie immer wieder in den Südosten der Türkei eindringen. Dabei kommt es nahezu täglich zu Zusammenstößen mit türkischen Sicherheitskräften, die auf beiden Seiten Todesopfer fordern. Allerdings erreichen die Kampfhandlungen bisher nicht die Intensität, mit der sie früher geführt worden waren. Auch die dort lebende Zivilbevölkerung bleibt von den Auswirkungen der bewaffneten Auseinandersetzungen nicht verschont. Dabei ist ein Anstieg von Übergriffen der Sicherheitskräfte auf kurdische Dorfbewohner zu verzeichnen, denen vorgeworfen wird, PKK-Kämpfer zu unterstützen (vgl. ai, Länderkurzinfo Türkei v. 31.7.2005; Kaya, Gutachten v. 8.8.2005, Oberdiek, Gutachten v. 2.8.2005 und Aydin, Gutachten v. 25.6.2005, jeweils an VG Sigmaringen; FR v. 12.7.2005; Die Welt v. 29.6.2005; SZ v. 26.6.2005; NZZ v. 24.6.2005). Türkischen Angaben zufolge kamen allein von Mitte 2004 bis Oktober 2005 über 100 türkische Soldaten, 37 Zivilisten und mehrere PKK-Kämpfer um (AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 17). Nach einem Bericht der Zweigstelle EI. des IHD haben in den ersten vier Monaten des Jahres 2006 in den überwiegend kurdisch besiedelten Provinzen im Südosten der Türkei bei Gefechten und gewaltsamen Auseinandersetzungen 89 Personen, bei Angriffen unbekannter Täter und extralegalen Hinrichtungen 30 Personen und durch Minen und Sprengstoffexplosionen vier Personen ihr Leben verloren. Im gleichen Zeitraum seien 2015 Personen festgenommen und 884 Personen verhaftet worden (vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst, Nr. 1/2006, S. 7).

149

Im Jahr 2005 verübte die PKK erstmals seit langer Zeit wieder Anschläge auf touristische Ziele in der Türkei (SZ v. 20.9.2005), die auch im Jahr 2006 fortgesetzt wurden (FR v. 28.6.2006). Eine Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Kleinstadt EJ. am 9. November 2005 ausgelöst. Anfangs war die PKK in Verdacht geraten, dieses Attentat verübt zu haben. Kurz darauf stellte sich aber heraus, dass die Täter zwei Unteroffiziere des Geheimdienstes der türkischen Gendarmerie (JITEM) und ein PKK-Überläufer waren, die den Anschlag der PKK anlasten wollten, um den Kurdenkonflikt zu verschärfen. Es wird vermutet, dass dies auf Veranlassung einer der Armee nahestehenden Organisation, die als „tiefer Staat“ bezeichnet wird, erfolgt ist (NZZ und SZ v. 22.11.2005; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 7 f.). Die beiden Geheimdienst-Unteroffiziere wurden im Juni 2006 zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt (Die Welt v. 21.6.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 2/2006, S. 4). Im Anschluss an dieses Bombenattentat kam es zu zahlreichen gewaltsamen Protesten der kurdischen Bevölkerung in der Region (Die Welt v. 17.11.2005, SZ v. 22.11.2005; FR v. 6.12.2005). Dass der Geheimdienst der türkischen Gendarmerie in dieses Attentat verwickelt war, ermöglichte es der PKK, die sich untereinander zerstritten und an Zustimmung unter der kurdischen Bevölkerung verloren hatte, einen Teil ihres Einflusses zurück zu gewinnen (NZZ v. 6.5.2006 u. v. 15.2.2006; SZ v. 10.4.2006; FAZ v. 4.6.2006).

150

Ein vorläufiger Höhepunkt der jüngsten Spannungen wurde Ende März 2006 erreicht, als in EK. und anderen Orten im Südosten bei Zusammenstößen zwischen kurdischen Demonstranten aus dem Umfeld der PKK und staatlichen Sicherheitskräften mindestens 15 Todesopfer und mehrere hundert Verletzte zu beklagen waren (SZ v. 4.4.2006; FAZ v. 31.3.2006). Die Unruhen weiteten sich auf Städte im Westen der Türkei aus. In der Folgezeit nahm auch die Zahl der von der PKK bzw. ihres Ablegers „Freiheitsfalken Kurdistans“ verübten Anschläge zu. Es wird vermutet, dass für die Eskalation der Auseinandersetzungen der PKK-Vorsitzende Öcalan, der sich seit 1999 in Haft befindet, aber trotzdem weiterhin maßgeblichen Einfluss in der PKK ausübt, eine Mitverantwortung trägt (FAZ v. 5.4.2006). Die Armee hat ihre Verbände im Südosten verstärkt; nach offiziellen Angaben sollen dort inzwischen mehr als 250.000 Soldaten - ein Drittel der gesamten Streitkräfte - stationiert sein (NZZ v. 6.5.2006). Dies dürfte ein Zeichen dafür sein, dass der Kurdenkonflikt aus Sicht des Militärs vorrangig mit militärischen Mitteln gelöst werden soll.

151

Was den Minderheitenschutz und die Ausübung der kulturellen Rechte betrifft, hat sich die Situation der Kurden im Zuge der EU-Bewerbung der Türkei verbessert. Ihnen war es lange nicht erlaubt, ihre Muttersprache in der Öffentlichkeit zu benutzen. Seit April 2004 werden Kurdisch-Kurse an privaten Lehrinstituten angeboten; mittlerweile finden diese Kurse in vielen Großstädten statt. Kurdisch ist indes weder als zweite offizielle Sprache der Republik anerkannt noch darf kurdisch in den öffentlichen Schulen unterrichtet werden (NZZ v. 24.3.2006). Allmählich wurde auch das Verbot, Radio- und Fernsehprogramme in kurdischer Sprache auszustrahlen, gelockert. So dürfen zwei in EI. stationierte Fernsehsender ihre Programme an 5 Wochentagen maximal 45 Minuten lang auf kurdisch senden; es besteht jedoch eine Verpflichtung zur Einblendung von türkischsprachigen Untertiteln (NZZ v. 24.3.2006; SZ v. 22.3.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 10). Ein kurdischer Radiosender darf Programme bis insgesamt 5 Stunden in der Woche ausstrahlen.

152

Allerdings haben sich die Hoffnungen der kurdischen Minderheit im Südosten der Türkei auf Verbesserung ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage weitgehend nicht erfüllt. Zwar sprach Ministerpräsident Erdogan bei einem Besuch in EI. im August 2005 als erster türkischer Regierungschef überhaupt von einem Kurdenproblem in der Türkei und dass der Staat in dieser Frage Fehler gemacht habe; seine Regierung werde die Defizite der Vergangenheit mit „mehr Demokratie, mehr Freiheiten und Wohlstand, mehr Rechte und Gerechtigkeit kompensieren“ (NZZ v. 20.8.2005; FAZ v. 25.8.2005; Die Welt v. 6.9.2005; SZ v. 22.11.2005). Diese Versprechungen sind aber nicht annähernd in die Tat umgesetzt worden. Die wirtschaftliche Lage in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten im Südosten der Türkei, die Jahrzehnte lang von den jeweiligen Regierungen vernachlässigt worden sind, ist weiterhin desolat. Das Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich gerade einmal auf ein Fünftel des türkischen Durchschnitts, die Arbeitslosigkeit beträgt vielerorts 60 % bis 70 % (NZZ v. 6.5. und v. 15.2.2006; SZ v. 4.4. und v. 22.3.2006). Die türkische Regierung verweigert Gespräche mit der im August 2004 gegründeten prokurdischen „Partei für eine demokratische Gesellschaft“ (DTP), die einen Großteil der Bürgermeister im Südosten stellt. Ihr wird vorgeworfen, dass sie sich nicht genügend von der PKK distanziere (SZ v. 10.4.2006). Gegen 56 kurdische Bürgermeister wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil sie sich im Dezember 2005 schriftlich an die dänische Regierung mit der Bitte gewandt hatten, dem Drängen der türkischen Regierung zu widerstehen, den in Dänemark ansässigen Fernsehsender ROJ-TV zu schließen, der während mehrerer Stunden am Tag Sendungen in kurdischer Sprache ausstrahlt (NZZ v. 4.1.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 2/2006, S. 1 f.). Die Türkei beschuldigt ROJ-TV, das Sprachrohr der PKK zu sein. Die Bürgermeister wurden wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (Art. 220 tStGB) angeklagt. Ende März/Anfang April 2006 wurden ca. 50 Mitglieder der DTP wegen mutmaßlicher Verbindungen zu PKK festgenommen (Die Welt v. 21.4.2006; SZ v. 4.4.2006).

153

Es hat insgesamt den Anschein, als ob sich die türkische Regierung in der Defensive gegenüber nationalistischen Kräften und Teilen des Militärs befindet. Diesen Gruppen ist die Annäherung der AKP-Regierung an die Europäische Union, die forcierte Privatisierung von Staatsbetrieben, die Einschränkung der Macht der Streitkräfte und die auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts zielende Politik suspekt (SZ v. 3.6.2006 und v. 22.11.2005; NZZ v. 20.8.2005; FAZ v. 25. 8. 2005). Mit der Zuspitzung der Lage im Südosten der Türkei wurde der Ruf insbesondere von Seiten der Militärführung nach schärferen Gesetzen und härterem Vorgehen gegen die PKK-Guerilla und deren Sympathisanten immer lauter. Die türkische Regierung geriet zunehmend unter Druck, der durch einen Vorfall am 17. Mai 2006 in EL. noch verstärkt wurde. An diesem Tag wurden durch Schüsse eines Rechtsanwalts im Obersten türkischen Verwaltungsgericht ein Richter getötet und 4 weitere verletzt. Der Täter gab als Motiv die Weigerung des Verwaltungsgerichts an, das Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen aufzuheben (NZZ v. 19.5.2006). Er soll der rechtsgerichteten Szene in der Türkei angehören, in der sich nationalistische und religiöse Ideen miteinander verbinden (IMK-Menschenrechtsinformationsdienst 1/2006, S. 5 f.). Mehr als 10.000 Bürger nahmen die Beisetzung des ermordeten Richters in EL. zum Anlass, um gegen die islamistische Gefahr zu demonstrieren (NZZ v. 19.5.2006). Teile des Militärs, der Justiz und der Bürokratie machen die AKP-Regierung für das Attentat moralisch mit verantwortlich. Sie werfen dem Ministerpräsidenten Ergodan vor, er habe seine Wandlung vom radikalen Islamisten zum bürgerlichen Demokraten nur vorgetäuscht; in Wirklichkeit strebe er einen islamischen Gottesstaat an. Dadurch, dass die AKP seit ihrem Wahlsieg die Lockerung des Kopftuchverbots verspreche, habe sie den Attentäter ermuntert. Demgegenüber nehmen Vertreter der Regierung und Teile der Medien an, dass Gegner Erdogans hinter dem Attentat stehen, um die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen. In der Presse wird von der schärfsten Konfrontation zwischen Militärs und Politikern seit dem von der Armee erzwungenen Ende der islamistischen Regierung unter Erbakan im Jahr 1997 gesprochen (vgl. zum Vorstehenden IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 1/2006, S. 5 f.).

154

Als Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei und als Konzession an die Armeeführung verschärfte das türkische Parlament am 29. Juni 2006 das Anti-Terror-Gesetz (NZZ v. 1.7., v. 6.5. und v. 20.4.2006; SZ v. 28.6.2006; IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 2/2006, S. 7). Die Änderungen sehen u. a. eine Wiedereinführung des früheren Art. 8 ATG („Strafbarkeit von separatistischer Propaganda“), eine weit formulierte Terror-Definition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und eine Erweiterung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Das Anti-Terror-Gesetz in seiner novellierten Form wird von Kritikern als „Rücknahme demokratischer“ Reformen bezeichnet; auch bei der Europäischen Union werden diese Änderungen mit Sorge betrachtet (NZZ v. 1.7.2006; SZ v. 28.6.2006; Die Welt v. 21.4.2006).

155

Trotz dieser in Teilbereichen ungünstigen Entwicklung der letzten Zeit lässt sich eine asylrelevante Verschlechterung der Sicherheitslage für Kurden in der Türkei aber nicht feststellen. Dies gilt auch für die traditionellen kurdischen Siedlungsgebiete im Südosten. Zum einen haben die Kampfhandlungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften bisher nicht den Umfang und die Intensität früherer Jahre erreicht. Zum anderen knüpfen die im Zuge der bewaffneten Auseinandersetzungen vorkommenden Übergriffe der Sicherheitskräfte auf kurdische Zivilisten weder allein bzw. überwiegend an die kurdische Volkszugehörigkeit an noch weisen diese die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte auf (vgl. dazu im Einzelnen: OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -, S. 22-76; AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 14-17).

156

Dass kurdische Dorfbewohner bei Razzien und Zwangsräumungen sowie im Polizeigewahrsam häufiger als sonstige türkische Staatsangehörige Opfer von Misshandlungen und Folter werden, ist nicht in erster Linie auf ihre Abstammung zurückzuführen. Vielmehr liegt dies daran, dass die türkischen Sicherheitskräfte sie der Beteiligung an strafbaren separatistischen Aktivitäten verdächtigen, zumal sich die Unterstützung der PKK nahezu ausschließlich aus kurdischstämmigen Kreisen rekrutiert. Es ist somit vorrangig die politische Überzeugung, an die die Verfolgungsmaßnahmen anknüpfen. Auch erfasst die Gefahr einer Misshandlung durch Sicherheitskräfte weder pauschal alle Kurden noch schließt sie Angehörige anderer Volksgruppen aus. Ein beachtlicher Teil der Kurden - auch im Südosten der Türkei lehnt den bewaffneten Kampf der PKK ab und tritt für ein friedliches Miteinander ein. Das Risiko, wegen eines Einsatzes für kurdische Interessen politisch verfolgt zu werden, besteht vor allem dann, wenn damit aus der Sicht der türkischen Sicherheitskräfte separatistische Ziele verfolgt werden. Wer die Türkei als Einheitsstaat akzeptiert, kann dagegen ungeachtet einer kurdischen Volkszugehörigkeit unbehelligt leben und sogar bis in höchste Funktionen aufsteigen. So ist z. B. der Innenminister kurdischer Abstammung (AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 14).

157

Unabhängig hiervon unterliegen Kurden in ihren traditionellen Siedlungsgebieten auch deshalb keiner regionalen Gruppenverfolgung, weil es an der erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt. Von ca. 14 Millionen kurdischstämmigen türkischen Staatsangehörigen (etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung) leben etwa 6 Millionen im Osten und Südosten der Türkei (AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 14). Auch wenn seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe - wie bereits dargelegt - ein Anstieg von asylerheblichen Übergriffen türkischer Sicherheitskräfte auf kurdische Dorfbewohner zu verzeichnen ist, rechtfertigt die sich daraus ergebende Anzahl im Verhältnis zur Gesamtheit der dort lebenden kurdischen Bevölkerung die Annahme einer regionalen Gruppenverfolgung nicht. Die Verfolgungsschläge sind nicht so zahlreich, dass jeder bisher nicht betroffene Kurde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkret befürchten müsste, in absehbarer Zeit selbst betroffen zu sein.

158

Im Übrigen - eine regionale Gruppenverfolgung unterstellt - steht kurdischen Volkszugehörigen auch eine inländische Fluchtalternative in den westlichen Landesteilen der Türkei zur Verfügung (ebenso OVG Bremen, Urt. v. 22.3.2006 - 2 A 303/04.A -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 9.2.2006 - A 12 S 1505/04 -; Hess. VGH, Urt. v. 18.1.2006 - 6 UE 489/04 -; OVG des Saarlandes, Urt. v. 28.9.2005 - 2 R 2/05 -; OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -). Dort fehlt es erst recht an tragfähigen Hinweisen darauf, dass eine an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpfende politische Verfolgung in der erforderlichen Dichte bestehen könnte. Für kurdische Volkszugehörige liegen bei einer Ansiedlung im Westen bzw. in den Tourismusregionen der Türkei regelmäßig auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative vor. Der erkennende Senat geht nach wie vor in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte davon aus, dass kurdische Zuwanderer bzw. Rückkehrer in der Westtürkei trotz der schwierigen Lebensbedingungen eine wenn auch bescheidene wirtschaftliche Existenz finden können, und zwar selbst dann, wenn sie über keine Schul- oder Berufsausbildung verfügen und die türkische Sprache nicht oder nur schlecht beherrschen. Auch sind Zuwanderer aus der Südosttürkei keinen wirtschaftlichen Nachteilen ausgesetzt, die in ihrer Heimatregion so nicht bestünden (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfG, Beschl. v. 29.7.2003 - 2 BvR 32/03 -, DVBl. 2004, 111; BVerwG, Urt. v. 5.7.1994 - 9 C 158.94 , BVerwGE 96, 200). Die Lebensverhältnisse in der Türkei sind - wie bereits erwähnt - durch ein starkes Ost-West-Gefälle geprägt (vgl. AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 37 f.). Die wirtschaftlichen Bedingungen in den traditionellen kurdischen Siedlungsgebieten sind wesentlich schlechter als im Westen der Türkei. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, dass die Zuwanderer am Ort der Fluchtalternative ein Leben erwartet, das zu Hunger und Verelendung führt. Gegenteilige Meldungen finden sich auch nicht in der Medienberichterstattung, die der Senat laufend und aufmerksam verfolgt.

159

Es liegen auch keine besonderen Umstände vor, die Anlass geben könnten, die jetzt 24-jährige Klägerin von der hier anzulegenden generalisierenden Betrachtungsweise auszunehmen…Angesichts des traditionellen Zusammenhalts innerhalb kurdischer Großfamilien ist davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach … Schutz und Hilfe bei den genannten Verwandten finden wird. Ebenso wird sie mit einer finanziellen Unterstützung durch in Deutschland lebende Angehörige, insbesondere ihres Vaters, rechnen können. Darüber hinaus besteht für mittellose türkische Staatsangehörige die Möglichkeit, jedenfalls vorübergehend Leistungen aus dem Förderungsfonds für Sozialhilfe und Solidarität zu beziehen (vgl. AA, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 38). Gegebenenfalls müsste sie sich darauf verweisen lassen, ihren Lebensunterhalt (ergänzend) durch Aushilfstätigkeiten wie Reinigungskraft oder Küchenhilfe bzw. im landwirtschaftlichen Bereich zu bestreiten (vgl. Kaya, Gutachten v. 20.2.2005 an VG Schleswig). Jedenfalls lässt sich nicht feststellen, dass ihr bei einer Rückkehr in die Türkei das lebensnotwendige Existenzminimum nicht zur Verfügung stehen würde.

160

Auch wenn derzeit eine landesweite Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei nicht besteht, können Personen, die einer Zusammenarbeit mit der PKK oder sonstiger herausgehobener separatistischer bzw. terroristischer Aktivitäten konkret verdächtigt werden, trotz des Reformprozesses nach wie vor politischer Verfolgung ausgesetzt sein. Diese Einschätzung steht in Übereinstimmung mit der aktuellen Rechtsprechung anderer Obergerichte (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.5.2006 - 10 B 5.05 -; OVG Bremen, Urt. v. 22.3.2006 - 2 A 303/04.A -; OVG Rh.Pf., Urt. v. 10.3.2006 - 10 A 10665/05.OVG -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 9.2.2006 - A 12 S 1504/05 -; OVG des Saarlandes, Urt. v. 28.9.2005 - 2 R 2/05 -; OVG NRW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -). Zu diesem gefährdeten Personenkreis gehörte die Klägerin - wie bereits dargelegt wurde - vor ihrer Ausreise aber nicht. Ebenso wenig droht ihr bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Individualverfolgung aus nach der Einreise in das Bundesgebiet eingetretenen Gründen…"

161

Der erkennende Senat schließt sich auch dieser Rechtsprechung vollinhaltlich an. Anhaltspunkte dafür, dass die Einschätzung hinsichtlich der fehlenden Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei oder einer inländischen Fluchtalternative im Westen der Türkei im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr zutreffen würden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

162

Ungeachtet dessen scheidet die Gewährung von Abschiebungsschutz auf der Grundlage von § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei auch deshalb aus, weil die Beigeladene nach dem oben Gesagten bereits in Syrien, wo sie sich von ihrer Geburt an bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland aufgehalten hat, ausreichende Sicherheit vor etwaiger politischer Verfolgung in der Türkei wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit zu der yezidischen Religionsgemeinschaft und der kurdischen Volkszugehörigkeit als dem Land ihrer Staatsangehörigkeit gefunden hat und auch - auf der Grundlage, dass das Rückführungsabkommen mit Syrien auch in tatsächlicher Hinsicht greift - weiterhin finden kann (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 8.2.2005 - 1 C 29.03 -, BVerwGE 122, 376 = juris Langtext Rdnr. 20 m. w. N.). Der letztere Gesichtspunkt bedarf indes keiner vollständigen Aufklärung, weil die Beigeladene - wie ausgeführt - in der Türkei eine abschiebungsschutzrelevante Verfolgung nicht zu vergegenwärtigen hat.

163

2. Die Frage, ob die Beigeladene einen Anspruch auf subsidiären Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG (bisher § 53 AuslG) hat, ist im vorliegenden Beanstandungsklageverfahren des Klägers gegen die Gewährung von vorrangigem Abschiebungsschutz bisher nach § 51 Abs. 1 AuslG und jetzt nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht Streitgegenstand. Eine Entscheidung des Senats hierüber erübrigt sich mithin (a). Unabhängig davon wären die Voraussetzungen für die Gewährung eines derartigen subsidiären Abschiebungsschutzes auf der Grundlage des § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG aber auch nicht gegeben (dazu b).

164

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 19.12.2001 - 1 B 217.01 -, InfAuslR 2002, 70 = juris Langtext Rdnr. 5) darf das Verwaltungsgericht, wenn - wie hier - die Beanstandungsklage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen die Gewährung von vorrangigem Abschiebungsschutz - hier: bisher nach § 51 Abs. 1 AuslG und nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG - über die Gewährung von nachrangigem Abschiebungsschutz - hier: bisher § 53 AuslG und jetzt § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG -, der nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheides ist, nicht entscheiden. Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.

165

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten als Kläger und Berufungsbeklagter hebt zu Recht hervor, dass sich an dieser Rechtslage durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes und insbesondere durch die Umsetzung der Vorgaben aus der Qualifikationsrichtlinie nichts geändert hat. Streitgegenstand der vorliegenden Beanstandungsklage des Klägers ist allein der von dem Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid vom 17. Mai 1999 zuerkannte vorrangige Flüchtlingsstatus nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG). Ein nachrangiger Abschiebungsschutz auf der bisherigen Grundlage des § 53 Abs. 1 bis 4 und 6 AuslG und jetzt des § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG ist nach der ausdrücklichen Aussage des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes dagegen genauso wenig Regelungsgegenstand des Bescheides und damit Streitgegenstand der Beanstandungsklage wie der (ebenfalls fehlende) Ausspruch über eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung. Das Begehren auf vorrangigen Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 51 Abs. 1 AuslG) einerseits und nachrangigen Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG (§ 53 Abs. 1, 2, 4 und 6 AuslG) andererseits ist auch nach dem jetzigen Normkonzept des Aufenthaltsgesetzes weiterhin teilbar und abtrennbar und kann daher im Fall der hier gegebenen Beanstandungsklage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen die Gewährung vorrangigen Abschiebungsschutzes immer noch nicht "automatisch" zum Gegenstand des Rechtsstreits werden.

166

Die Beigeladene hat daher auch zu Recht sowohl in erster als auch in zweiter Instanz davon abgesehen, einen auf die Gewährung von nachrangigem Abschiebungsschutz auf der Grundlage von § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG gerichteten Antrag zu stellen.

167

Durch diese Begrenzung des Streitgegenstandes des gerichtlichen Verfahrens wird die Beigeladene nicht schutzlos gestellt. Denn nach rechtskräftiger Aufhebung des einen vorrangigen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG/§ 60 Abs. 1 AufenthG zusprechenden Bescheides des Bundesamtes vom 17. Mai 1999 wird das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nunmehr nach § 39 AsylVfG von Amts wegen nicht nur über die Abschiebungsandrohung, sondern auch über Gründe für die Gewährung von nachrangigem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG erstmals durch rechtsmittelfähigen Bescheid zu befinden haben.

168

b) Aber selbst wenn man etwa mit Blick auf den im Asylverfahren von der Rechtsprechung zum Teil betonten Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung anderer Ansicht wäre, wäre für die Beigeladene nichts gewonnen. Denn sie hat Gründe für die Gewährung von nachrangigem Abschiebungsschutz auf der Grundlage von § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG weder hinsichtlich Syrien noch in Bezug auf die Türkei vorgetragen; solche sind auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen der von der Beigeladenen befürchteten Blutrache seitens der Angehörigen des bei dem angeblichen Verkehrsunfalls getöteten moslemischen Mädchens nicht erfüllt, da nach dem oben Gesagten ihr diesbezüglicher Vortrag unglaubwürdig ist.

169

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

170

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.