Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 02.10.2002, Az.: 11 A 4440/00
Ausweisung; Ausweisungsschutz; Beistandsgemeinschaft; Betäubungsmittelstraftaten; Drogentherapie; herabgestufte Regelausweisung; Ist-Ausweisung; Regel-Ausweisung; schwerwiegende Ausweisungsgründe; Soziales Wohnverhalten; Therapiebereitschaft; türkischer Staatsangehöriger
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 02.10.2002
- Aktenzeichen
- 11 A 4440/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 43649
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 47 Abs 1 Nr 1 AuslG
- § 47 Abs 1 Nr 2 AuslG
- § 48 Abs 1 Nr 2 AuslG
- § 48 Abs 1 Nr 4 AuslG
- Art 8 MRK
- Art 6 EWGAssRBes 1/80
- Art 7 EWGAssRBes 1/80
- Art 14 EWGAssRBes 1/80
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen
Tatbestand:
Der am 21.November 1974 in N. geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er erhielt am 17.Dezember 1990 eine unbefristete Aufenthalterlaubnis. Er ist nichtehelicher Vater der beiden 1997 bzw. 1999 geborenen Kinder seiner früheren deutschen Freundin . Der Kläger verfügt über keine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung und war bei wechselnden Arbeitgebern beschäftigt bzw. lebte von Sozialhilfe.
Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr trat der Kläger wiederholt wegen Eigentums- und Körperverletzungsdelikten in Erscheinung (vgl. im Einzelnen Aufstellung in dem Widerspruchsbescheid). Mit Schreiben vom 12.November 1998 teilte ihm der seinerzeit zuständige Landkreis V. mit, dass ausnahmsweise noch einmal von der Ausweisung wegen zuvor begangener Straftaten abgesehen werden, und warnte ihn vor der Begehung weiterer Straftaten. Zuletzt verurteilte ihn das Amtsgericht N. durch Urteil vom 4.März 1999, das nach Maßgabe des Urteils des Landgerichts O. vom 27. August 1999 am 11. Februar 2000 Rechtskraft erlangte, zu vier Jahren Freiheitsstrafe wegen Raubes, gewerbsmäßiger Hehlerei, in Tateinheit mit gewerbsmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Heroin und Kokain), gewerbsmäßigen Betruges in zehn Fällen, versuchten gewerbsmäßigen Betruges in zwei Fällen, gewerbsmäßigen Diebstahls, unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in zehn Fällen sowie gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 24 Fällen.
Nach Anhörung wies die Beklagte als die für den Haftort zuständige Ausländerbehörde den Kläger durch Bescheid vom 9. Juni 2000 wegen der letztgenannten Straftat aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm seine Abschiebung aus der Haft heraus in die Türkei an. Für den Fall einer vorzeitigen Haftentlassung forderte sie ihn zugleich unter Fristsetzung und Abschiebungsandrohung zur freiwilligen Ausreise in die Türkei auf.
Seinen Widerspruch vom 10. Juli 2000 wies die Bezirksregierung W. durch Bescheid vom 1. November 2000 zurück. Dem Kläger, dem infolge seiner Geburt im Bundesgebiet und seiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis sowie Zusammenlebens mit seinen minderjährigen deutschen Kindern besonderer Ausweisungsschutz zukomme, sei nach § 47 Abs.1 Nr.1 und 2, Abs.3 S.1 i.V.m. § 48 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AuslG gem. der gesetzlichen Regel auszuweisen, zumal auch unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, seiner positiven Entwicklung in der Haft sowie seiner Therapiebemühungen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung seine Ausweisung geböten und sich kein atypischer Fall annehmen lasse. Den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 6, 7 und 14 ARB Nr. 1/80 oder Art. 3 Abs. 3 ENA könne er nicht in Anspruch nehmen. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geböten keine andere Entscheidung. Gem. § 49 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 50 Abs. 5 AuslG könne die Abschiebung des Klägers aus der Haft in die Türkei angedroht werden. Die vorsorgliche Abschiebungsandrohung für den Fall der vorzeitigen Haftentlassung ergehe nach §§ 49 Abs. 1, 50 Abs. 1 AuslG.
Der Kläger hat am 4. Dezember 2000 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, unter Berücksichtigung sämtlicher Besonderheiten sei die Regelausweisung rechtswidrig. Er sei im Bundesgebiet geboren, hier unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen und sozial geprägt worden. Sein Vater sei seit Jahrzehnten im Bundesgebiet berufstätig und sämtliche Geschwister lebten hier. Er kümmere sich nach Kräften um seine minderjährigen Kinder und halte Kontakt zu ihnen (vgl. Bescheinigung der JVA O. vom 23. November 2000). Der besondere Schutz familiärer Lebensbeziehungen, der sich aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und dem neuen Kindschaftsrechtsreformgesetz ergebe und in der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR betont werde, müsse stärker berücksichtigt werden. Seine Straftaten hingen im Wesentlichen mit seiner Drogenabhängigkeit zusammen. Eine Wiederholungsgefahr bestehe nicht, da er sich von der Drogenkarriere sehr distanziert habe und sich nachhaltig um eine erfolgreiche Drogentherapie bemühe. Seit dem 3. März 1999 sei er fortlaufend mit dem Medikament „Nemexim“ substituiert worden. Der seit dem 28. März 2001 begonnene stationäre Maßregelvollzug im LKH M. verlaufe erfolgversprechend (Stellungnahmen des Nds. LKH M. vom 4. Mai, 25. Mai und 9. Juni 2001 sowie 19. September 2002 sowie Erläuterungen des Psychologen L. in der mündlichen Verhandlung).
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung W. vom 1. November 2000 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen
Sie bezieht sich auf die angefochtenen Bescheide und erwidert ergänzend, bereits durch die Herabstufung der Ist-Ausweisung zur Regelausweisung werde hinreichend berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren sei, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis inne gehabt habe und (möglicherweise) mit nichtehelichen deutschen Kindern in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt habe. Ein Nachweis über seine Vaterschaft stehe noch aus. Die vom Bevollmächtigten des Klägers angeführte Rechtsprechung sei nicht einschlägig, da sie keine Ausweisungsfälle betreffe. Den Stellungnahmen des LKH M. ließen sich konkrete Aussagen zur künftigen Ungefährlichkeit des Klägers nicht entnehmen. Eine solche sei auch zweifelhaft, da der stationäre Entzug als Maßregel nach § 64 StGB angeordnet worden sei. Im Übrigen könnten die nachträglichen Umstände nicht bei der Beurteilung der Ausweisung, sondern allenfalls im Rahmen eines nach Ausreise gestellten Antrags auf Aufenthaltsgenehmigung Berücksichtigung finden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die übersandten Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Ausweisung und die Abschiebungsandrohungen in dem Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung W. vom 1. November 2000 erweisen sich als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Maßgebend ist hierbei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Mai 2001 -1 B 125.00 - InfAuslR 2001, 312, 313 und Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8.96 - InfAuslR 1999, 54; Nds. OVG, Urteil vom 23. Mai 2002 - 11 LB 3586/01 -) mit der Folge, dass nach Erlass des Widerspruchsbescheides eingetretene Umstände grundsätzlich außer Betracht zu bleiben haben und ggf. als Gründe für eine - nach vorheriger Ausreise des Ausländers - zu beantragende nachträgliche Befristung der Ausweisung vorgetragen werden müssten.
Zutreffend gehen die angefochtenen Bescheide zunächst davon aus, dass als rechtliche Grundlage für die Ausweisung des Klägers auf § 47 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 4 AuslG abzustellen ist. Denn der Kläger hat infolge seiner Verurteilung durch das Amtsgericht N. vom 4. März 1999, die mit Urteil des Landgerichts O. vom 27. August 1999 Rechtskraft erlangt hat, die Tatbestände einer zwingenden Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 (rechtskräftige Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren) und nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG (vorsätzliche Straftaten nach dem BTMG zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung) verwirklicht. Ebenso zutreffend wird angenommen, dass nach § 48 Abs. 1 und 2 und 4 AuslG die Ist-Ausweisung zur Regel-Ausweisung herabzustufen gewesen ist, weil der Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaß, im Bundesgebiet geboren wurde und er vor seiner Inhaftierung mit seinen nichtehelichen deutschen Kindern in familiärer Lebensgemeinschaft lebte. Damit ist seine Ausweisung nicht mehr als zwingende, sondern nur als eine in der Regel eintretende Folge der Straftaten (§ 47 Abs. 3 S. 1 AuslG) zu behandeln gewesen; zudem erfordert sie das Vorliegen schwerwiegende Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (§ 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG).
Das bei türkischen Staatsangehörigen zu beachtende Assoziationsrecht steht einer Anwendung der genannten Vorschriften nicht entgegen. Unabhängig davon, ob sich der Kläger überhaupt auf die Niederlassung- bzw. Dienstleistungsfreiheit berufen kann (was hier nicht der Fall sein dürfte), verstößt jedenfalls die Anwendung der eine Ausweisung für den Regelfall vorsehenden Vorschriften des §§ 47 Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AuslG auf einen wegen einer Straftat nach dem BTMG zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilten türkischen Staatsangehörigen nicht gegen das Verschlechterungsverbot („Stillhalteklausel“) in Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei (BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2002 - 1 C 21.00 - InfAuslR 2002, 338 bei einer dreijährigen Freiheitsstrafe; vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 23. Januar 2002 - 11 MA 4254/01 - m.w.N.). Denn diese Vorschriften des AuslG 1990, die eine Ausweisung im Regelfall vorsehen und nur für Ausnahmefälle eine Ermessensentscheidung gebieten, wirken sich für türkische Staatsangehörige in solchen Fällen tatsächlich nicht als Verschlechterung gegenüber der Rechtslage nach dem AuslG 1965 aus, welches im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls und seiner „Stillhalteklausel“ galt. Vielmehr ist die frühere Praxis insoweit nur typisierend gesetzlich festgeschrieben worden (im Einzelnen: BVerwG, a.a.O.). Aus den gleichen Gründen könnte - unabhängig davon, ob der Kläger überhaupt als privilegierter Familienangehöriger eines Arbeitnehmers anzusehen ist - auch das Verschlechterungsverbot (Stillstandklausel) aus Art. 13 ARB 1/80 die Geltung der herangezogenen (aktuellen) Ausweisungsvorschriften nicht beeinträchtigen.
Die Ausländerbehörden haben auch die aus dem anzuwendenden Vorschriften folgende doppelte Privilegierung hinreichend beachtet:
Zunächst haben sie berücksichtigt, dass der Kläger - unabhängig von der Herabstufung zur Regelausweisung - nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 AuslG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden darf. Solche Gründe liegen vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers vor Ausweisung ein deutliches Übergewicht hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2002 - 1 C 21.00 - InfAuslR 2002, 338 m.w.N.). Bei einer Ausweisung zu spezialpräventiven Zwecken ist ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht erforderlich, was sich bei Straftaten insbesondere aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt. Zum anderen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Straftaten des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 AuslG vor. Diese durch das Änderungsgesetz vom 29. Oktober 1997 eingefügte Bestimmung hat nach dem Willen des Gesetzgebers präzisierende und klarstellende Funktion (vgl. BT-Drucks 13/4948). Der Ausweisungszweck ist dafür maßgeblich, inwieweit die persönlichen Verhältnisse des Ausländers in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sind. So können etwa familiäre, wirtschaftliche und sonstige Bindungen zu erwägen sein, soweit sie für die Gefahrenprognose von Bedeutung sind. Fehlt es - etwa bei einer Ausweisung zu generalpräventiven Zwecken - an einer solchen Bedeutung, so können derartige Bindungen gegebenenfalls erst bei der Prüfung berücksichtigt werden, ob eine Ausnahme von der Regel des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG vorliegt.
Die angefochtenen Bescheide gehen erkennbar von den dargestellten Grundsätzen aus und halten ohne Rechtsfehler schwerwiegende Ausweisungsgründe der o.g. Art sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen für gegeben. Nach eingehender Prüfung kann - auch zur Vermeidung von Wiederholungen - auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen werden, die hinreichend auf die Einwände des Klägers eingehen.
Im Rahmen der spezialpräventiven Erwägungen wurden zum einen ausgiebig Art, Schwere und Häufigkeit der zugrunde liegenden Straftaten gewürdigt. Zutreffend wurden die vielen seit 1990 gegangenen Straftaten in den Blick genommen und wurde hervorgehoben, dass er sich häufig unterlegene Opfer gesucht hatte und seine Drogensucht bereits strafmildernd bei der Strafzumessung berücksichtigt worden ist. Es ist auch allgemein anerkannt, dass wegen Drogenabhängigkeit begangene Straftaten grundsätzlich keinen Ausnahmecharakter haben (vgl. etwa Nds. OVG, Beschlüsse vom 3. November 2000 - 11 M 3354/00 - und 12. Oktober 2000 - 11 M 2933/00 -; Hess. VGH, Beschluss vom 22. Juni 1998 - 13 TZ 1875/98 - InfAuslR 1998, 437 [VGH Baden-Württemberg 24.06.1998 - 13 S 1099/96]). Das im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung behauptetet Bemühen des Klägers, sich einer Drogentherapie zu unterziehen, begründet ebenfalls keine Ausnahmesituation, die das Absehen von der Ausweisung rechtfertigen könnte. Abgesehen davon, dass Beginn und Erfolg einer Therapie seinerzeit völlig ungewiss erschienen, könnte eine ernsthafte Veränderung seiner Persönlichkeitsstrukturen therapiebedingt auch erst nach Abschluss der „harten“ Entzugs- und Eingewöhnungsphasen in ein straffreies Leben in Freiheit angenommen werden. Zudem ist es nicht außergewöhnlich und war dem Gesetzgeber auch nicht unbekannt, dass Rauschgift-Straftäter zu einem erheblichen Teil drogenabhängig sind und sich auch um Therapien bemühen. Gleichwohl hat der Gesetzgeber für therapiewillige Straftäter keine Ausnahme von der Regelausweisung vorgesehen, sondern die Therapiebereitschaft grundsätzlich nur im Rahmen der Ermessensausweisung des § 45 Abs. 1 AuslG nach Maßgabe des § 46 Nr. 4 AuslG honoriert (vgl. Nds. OVG, Beschlüsse vom 3. November 2000 - 11 M 3354/00 - und 6. März 2000 - 11 M 393/00 -). Insofern kommt es nicht darauf an, ob die erst nach der Widerspruchsentscheidung gerichtlich angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB überhaupt in diesem Verfahren berücksichtigt werden kann und welche Erkenntnisse zur künftigen Gefährlichkeit des Klägers aus den überreichten Stellungnahmen des LKH M. zu ziehen wären. Angesichts der Regelaussage des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG kommt es zugleich für die Entscheidung nicht darauf an, ob der Antragsteller seine Therapiebemühungen in der Türkei fortsetzen kann (vgl. Nds. OVG, a.a.O.). In Übereinstimmung mit obergerichtlicher Rechtsprechung (BVerwG, Beschluss vom 29. September 1993 - 1 B 62.93 - InfAuslR 1994, 45, 46; BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 - NVwZ 2001, 67, 68 f.; BerlVerfGH, Beschluss vom 8. März 2000 - VerfGH 12 A /00, 12/00 - NVwZ-RR 2001, 60, 61 [FG Bremen 01.02.2000 - 299283 K 2]) ist schließlich davon auszugehen, dass soziales Wohlverhalten unter dem Eindruck des Strafvollzugs für sich genommen keinen außergewöhnlichen, die Rechtmäßigkeit der Ausweisung in Frage stellenden Ausnahmefall begründet und dies selbst im Hinblick auf eine Aussetzung der weiteren Strafvollstreckung nach 2/3 der verbüßten Haftstrafe gilt.
Die - zum anderen - bei den spezialpräventiven Erwägungen angestellte Prognose hinsichtlich der Gefahren durch künftige Straftaten des Klägers ist ebenso wenig zu beanstanden. Insoweit sind die vom Kläger betonten familiären, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen sowie die zu erwartenden Eingewöhnungsschwierigkeiten bei einer Ausreise in die Türkei angemessen berücksichtigt worden. Auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid wird insoweit verwiesen. In der Tat wird bereits durch die Herabstufung der Ist-Ausweisung zur Regelausweisung berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren wurde, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis inne hatte und mit nichtehelichen deutschen Kindern in familiärer Lebensgemeinschaft lebte. Insofern relativieren sich die Aussagen in der jüngsten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Vater-Kind-Beziehungen (BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. v. 30. Januar 2001 - 2 BvR 231/00 - InfAuslR 2002, 171 und v. 7. März 2001 - 2 BvR 2108/00 - InfAuslR 2001, 431) im Ausweisungsrecht. Eine atypische Besonderheit des Verhältnisses des Klägers zu seinen Kindern, die eine weitergehende Berücksichtigung erfordern könnte, ist schon vom Tatsächlichen her zweifelhaft. Der Bescheinigung der JVA O. vom 23. November 2000, die Rückschlüsse auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung zulässt, ist zu entnehmen, dass die Freundin und Kinder des Klägers in der Zeit vom 3. Juni 1999 bis 23. November 2000 lediglich vier Mal in der JVA zu Besuch waren. Mittelbar geht aus ihr hervor, dass sich die Freundin ihrerseits bisweilen längere Zeit nicht bei ihm gemeldet hat und dass es bei Versuchen geblieben ist, wieder einen Kontakt herzustellen oder den Kindern ein Geburtstagsgeschenk zukommen zu lassen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus seinen Bekundungen in der mündlichen Verhandlung. Die einseitig betonte Wichtigkeit der familiären Beziehung zu den Kindern belegt kein außergewöhnliches Aufeinander-Angewiesensein.
Daneben greifen hier auch die angestellten generalpräventive Erwägungen durch. Die Betäubungsmittelstraftaten wiegt nach Häufigkeit und den Umständen der Tatbegehung schwer und geben Anlass zur Ausweisung, um andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 1999 - 1 C 11.99 - InfAuslR 2000, 105, 108). Der Kläger hat in zahlreichen Fällen nicht nur harte Drogen (Heroin und Kokain) zum eigenen Konsum erworben, sondern auch gewerbsmäßig mit diesen Betäubungsmitteln Handel betrieben. Art und Menge des umgesetzten Rauschgiftes sind keineswegs unbedeutend. Er hat über Jahre unbeeindruckt zunächst jugend-, später strafgerichtlich verhängter Maßnahmen seinen „schädlichen Neigung“ Ausdruck verliehen und dabei ohne Rücksicht auf andere Personen gehandelt und diese durch die Veräußerung von Betäubungsmittel gleichfalls erheblich gefährdet. Dementsprechend besteht ein gewichtiges ordnungsrechtliches Bedürfnis zu verdeutlichen, dass ein derartiges Rauschgiftgeschäft nicht zu den "Alltagsdelikten" gehört, die ohne aufenthaltsrechtliche Folgen bleiben.
Ohne Rechtsfehler haben die Ausländerbehörden auch entschieden, dass hier keine Ausnahme von der Regel des § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG zu machen ist. Regelfälle im Sinne dieser Vorschrift sind solche, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Ein Ausnahmefall liegt ferner vor, wenn der Ausweisung unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG höherrangiges Recht entgegensteht, diese insbesondere mit Verfassungsrecht (z.B. mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG) nicht vereinbar ist. Ob ein Ausnahmefall gegeben ist, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung, bei der alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen, namentlich auch die in § 45 Abs. 2 AuslG an sich für Ermessensentscheidungen der Ausländerbehörden umschriebenen, zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2002 - 1 C 21.00 - InfAuslR 2002, 338 m.w.N.).
Auch diese Grundsätze haben die Ausländerbehörden beachtet und unter Berücksichtigung der Umstände, die den schwerwiegenden Ausweisungsgrund begründen, die Annahme eines Ausnahmefalles abgelehnt. Dies ist um so weniger zu beanstanden, weil bereits auf dieser Ebene die familiären, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Klägers berücksichtigt wurden.
Die Erwägungen zum besonderen Ausweisungsschutz nach dem Assoziationsbeschluss Nr. 1/80 zwischen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (ARB 1/80) sind ebenso wenig rechtlich zu beanstanden. Zwar können türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 oder 7 ARB 1/80 innehaben, nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausgewiesen werden, so dass eine generalpräventive Ausweisung ausscheidet und eine spezialpräventive Ausweisung sich an den genannten Schranken des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 messen lassen muss. Eine derartige Rechtsstellung hatte der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausweisung aber nicht inne. Selbst wenn er - wofür nichts vorgetragen ist - zum Ausweisungszeitpunkt ein Jahr ordnungsgemäß bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt gewesen wäre, würden die daraus folgenden Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 infolge seiner Strafhaft erloschen sein. Zutreffend wird im Widerspruchsbescheid auch ausgeführt, dass der Kläger keine Rechtsstellung nach Art. 7 S. 1 ARB 1/80 erlangt hat, weil er nach dem maßgeblichen Familienbegriff infolge seines Alters im Ausweisungszeitpunkt (25 Jahre), Verselbständigung durch eigene Familiengründung und mangels Unterhaltsleistungen seiner Eltern nicht als privilegierter Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers anzusehen ist. Auf Art. 7 S. 2 ARB 1/80 (Privilegierung von Kindern türkischer Arbeitnehmer, die eine Ausbildung abgeschlossen haben) kann sich der Kläger mangels einer abgeschlossenen Berufsausbildung nicht mit Erfolg berufen. Insofern kann der Kläger aus dem Umstand, dass sich seine Eltern geraume Zeit im Bundesgebiet als Arbeitnehmer aufhalten, nichts ableiten. Zutreffend weist die Bezirksregierung Weser-Ems auch hilfsweise daraufhin, dass das Assoziationsrecht keinesfalls die Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen ausschlösse, weil diese wegen der begangenen Straftaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit im Sinne von Art. 14 ARB 1/80 gerechtfertigt wäre.
Aus den letztgenannten Erwägungen kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg auf Art. 3 Abs. 3 ENA berufen.
Schließlich kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg auf Art. 8 EMRK berufen. Ergänzend zu den angefochtenen Bescheiden ist Folgendes auszuführen:
Zwar ist der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK insoweit weiter als der des Art. 6 GG, als er über die Kernfamilie zwischen Eltern und minderjährigen Kindern hinaus auch die volljährigen Kinder und Familienangehörigen im weiteren Sinne erfasst (vgl. Richter, Die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht, NVwz 1999, 726 f.), doch kommt ein unverhältnismäßiger Eingriff in von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Rechtsgüter nur dann in Betracht, wenn neben den engen und auch tatsächlich praktizierten Familienleben zwischen Eltern und erwachsenen Kindern eine Beistandsgemeinschaft im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 6 Abs. 1 GG besteht (Nds. OVG, Beschluss vom 14. August 2001 - 11 LA 564/01 - Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AuslG Rdn. 57 c) und d); Renner, Ausländerrecht Deutschland, S. 800 ff. m. Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR). Ein derartiger Fall ist hier aber nicht gegeben. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger selbst oder seine Eltern auf die Lebenshilfe des jeweils anderen Familienmitglieds angewiesen sind. Auch haben ihn seine Eltern in den vergangenen Jahren nicht von seinen zahlreichen Straftaten abhalten können. Die von ihm behauptete Beziehung zu seiner Freundin, die seinerzeit wohl noch bestand, unterfällt nicht dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 21. Februar 2001 - 11 MA 583/01 -).
Eine Verletzung des in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann aber auch dann in Betracht kommen, wenn es sich um Ausländer handelt, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheit des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8.96 - InfAuslR 1999, 54). Ein solcher Fall liegt hier indessen nicht vor. Der Kläger ist zwar am 21. November 1974 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Auch leben seine Eltern und seine Geschwister im Bundesgebiet. Ein Eingewöhnen in die Verhältnisse der Türkei wird ihm daher voraussichtlich nicht leicht fallen. Andererseits ist zu seinen Ungunsten die bei den von ihm begangenen Straftaten deutlich gewordene erhebliche kriminelle Energie und die sich daraus ergebende Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Außerdem fehlte es ihm im maßgeblichen Beurteilungszeitraum an einer ausreichenden Integration in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Denn er verfügt über keine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung und war bei wechselnden Arbeitgebern beschäftigt, sofern er nicht von Sozialhilfe lebte. Ebenso wenig hat er sich vom türkischen Kulturkreis gelöst. Er wuchs in einer türkischen Großfamilie im Bundesgebiet auf und ist nach eigenen früheren Angaben hierdurch geprägt worden. Insofern ist auch wenig glaubhaft, dass er der türkischen Sprache nur unzureichend mächtig sein will. Die Bindung an seine damalige deutsche Freundin und die gemeinsamen Kinder hat keine Intensität erreicht, dass er faktisch als Inländer angesehen werden könnte.
Schließlich geben die gem. § 49 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 50 Abs. 5 AuslG angedrohte Abschiebung des Klägers aus der Haft in die Türkei und die vorsorgliche Abschiebungsandrohung für den Fall seiner vorzeitigen Haftentlassung nach §§ 49 Abs. 1, 50 Abs. 1 AuslG keinerlei Anlass zu rechtlichen Beanstandungen.