Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 29.06.2005, Az.: 1 A 212/02

administrative Haftstrafe; Asyl; beachtliche Wahrscheinlichkeit; Beurteilungszeitpunkt; Buddhismus; Durchentscheiden; Einschätzung; Folter; Gesamtbild; Gesamtschau; Haftstrafe; Nachfluchtgrund; prognostische Einschätzung; Schwellenwertüberschreitung; Verfolgung; Vietnam; Wiederaufgreifen

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
29.06.2005
Aktenzeichen
1 A 212/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50744
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Klägerin geht es um die Feststellung eines Abschiebungsverbots bzw. von Abschiebungshindernissen gem. § 60 AufenthG.

2

Die 1955 geborene Klägerin vietnamesischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens kam - nach einem Aufenthalt in der CSFR (1988-1991) - im Sept. 1991 auf dem Landweg in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag mit der Begründung, sie und ihre Familie sei in Vietnam unterdrückt worden, weil ihr Ehemann noch als Offizier für das alte Regime gearbeitet habe, weshalb er in ein Umerziehungslage gekommen sei, sie alle schließlich keine Kommunisten gewesen seien. Sie suche ein Land mit Freiheit und Demokratie. Sie werde im Falle der Rückkehr wegen illegaler Flucht nach Deutschland bestraft. Ihr Antrag wurde nach einer Anhörung durch Bescheid vom 22. Mai 1992 abgelehnt. Die dagegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg (rechtskräftiges Urt. des Verwaltungsgerichts Lüneburg v. 3.3.1994 - 1 A 596/92 -).

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Am 13. Juni 2002 stellte die Klägerin mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, sie sei Mitglied im „Verein der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V.“, der regelmäßig Besprechungen und Sitzungen durchführe, in vielen Ländern der Welt systemkritisch aktiv sei, eine exilpolitische Zeitung herausgebe und in Vietnam verboten sei, so dass dessen Mitglieder in Vietnam bedroht, inhaftiert, gefoltert und verfolgt würden. Außerdem sei sie in Deutschland in vielfacher Weise und sehr engagiert exilpolitisch aktiv, was sie mit Fotos und Unterlagen belegen könne (Bl. 8 ff. der VerwV). So sei sie im Mai 2002 Beauftragte des gen. Vereins für Soziales in Winsen/L. geworden. Ohne weitere Anhörung lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 3. Juli 2002 - per Übergabe-Einschreiben zugestellt (abgesandt am 4.7. 02) - die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen; zugleich wurde die Klägerin aufgefordert, das Bundesgebiet binnen 1 Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei ihr die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass die Frist nicht eingehalten werde.

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Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 10. Juli 2002 bei der erkennenden Kammer Klage erhoben und zugleich - erfolgreich - um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (1 B 42/02). Zur Begründung erweitert und vertieft sie ihren Standpunkt, im Falle einer Rückkehr nach Vietnam werde sie als Andersdenkende, Abweichlerin, Dissidentin, letztlich als Regimegegnerin verhaftet und wohl auch umgebracht.

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Die Klägerin beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 3. Juli 2002 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sind.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es der Klägerin gemäß ihrem Antrag (nur) noch um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.

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Im Übrigen - wegen der ursprünglich begehrten Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16 a Abs. 1 GG - ist die Klage nach der Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).

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1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist jener der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG, für den eine Gleichsetzung nur retrospektiv-politischer Verfolgung iSv Art. 16 a GG mit einer prognostischen Bedrohung iSv § 60 AufenthG nicht möglich ist: Der zeitliche Unterschied zwischen einer weit zurückliegenden Verfolgungssituation und der prognostischen Einschätzung einer künftigen Bedrohung ist hier - von inhaltlichen Differenzen abgesehen - derart groß, dass eine Gleichsetzung nicht in Betracht kommt.

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2. Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention, § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass der Klägerin bei einer Überstellung oder Rückführung in ihren Heimatstaat (§ 13 Abs. 1 AsylVfG) bei prognostischer Einschätzung eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Denn gem. § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung der in den Art. 3, 4, 7 und 8 EMRK genannten Rechtsgüter oder aber der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004; BVerwGE 89, 296; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 51 AuslG, Rdn. 4 m.w.N.). Die Verfolgung kann vom Staat ausgehen, aber auch von anderen Akteuren (§ 60 AufenthG).

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Mit § 60 AufenthG und seiner Bezugnahme auf die Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (§ 60 Abs. 5 AufenthG) sowie seiner Anerkennung einer Mehrzahl von „Verfolgern“ (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) hat sich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 - L 304/12 - ein Perspektivwechsel weg von der Täter- hin zu einer Opferbetrachtung vollzogen, der sich dem Sinn und Zweck der gen. Richtlinie entsprechend auch inhaltlich auswirkt. Vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.:

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„Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 I AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“, ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 I der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 I AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 I S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 I AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - „Inter-Environnement Wallonie ASBL“, Slg. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der „politischen Verfolgung“ i.S. der sog. „Zurechnungslehre“, sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff i.S. der sog. „Schutztheorie“ aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).“

17

Soweit § 60 Abs. 1 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer im Herkunftsland in diesem Sinne "bedroht" ist, lässt er erkennen, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muss. Es ist im Rahmen der erforderlichen Prognose unter Ver- und Bewertung entsprechender Fakten nicht etwa eine „Sicherheit“ für den Eintritt künftiger asylrelevanter Schädigungen erforderlich. Da inzwischen die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist (am 20. Tag nach ihrer am 30. September 2004 - L 304/12 - erfolgten Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union / Art. 39 der Richtlinie), sind heute in Übereinstimmung mit dem gen. Urteil des VG Stuttgart auch deren Standards im Wege der Auslegung beachtlich (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff), obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (dazu Hoffmann im Asylmagazin 4/2005):

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„In einem Beschluss vom 29.12.2004 hatte der VGH Hessen sogar darüber hinausgehend und bezogen auf die sog. "Freizügigkeitsrichtlinie" nochmals ausdrücklich festgestellt, dass sich aus der Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der gemeinschaftsrechtliche Stand der Freizügigkeitsrechte entnehmen ließe (VGH Hessen, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 CG 3649/04 -).“

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Mit dem VG Stuttgart sowie dem VG Karlsruhe (Urt. v. 14.3.2005 - A 2 K 10264/03 -), aber auch dem VG Braunschweig ist daher davon auszugehen, dass die gen. Richtlinie bereits heranzuziehen ist. Vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -:

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„Nach der bei der Anwendung des § 60 AufenthG zu berücksichtigenden Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. 4. 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatenangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt EU 2004 L 304/12 vom 30.09.2004) ist der gebotene Schutz vor Verfolgungshandlungen von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einem wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, generell gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG).“

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Soweit diese Richtlinie in Art. 2 c) und Art. 4 Abs. 4 die subjektive „Furcht des Antragstellers vor Verfolgung“ zum Ausgangspunkt nimmt und auf diese Weise in § 60 Abs. 1 AufenthG ein - schon früher in § 51 Abs. 1 AuslG enthaltenes (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. § 51 AuslG Rdn. 4) - subjektives Element trägt, ist es so, dass auch diese Furcht sachlich - anhand von Fakten - „begründet“ sein muss (Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie). Auch der in der gen. Richtlinie angesprochene Wille, nicht in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren (Art. 2 c), muss auf eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ zurückgehen.

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Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist somit aufgrund einer individuellen Prüfung und Wertung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen unter Wertungsgesichtspunkten qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ).

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Solche beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Menschenwürde- und Freiheitsrechten der Klägerin ist hier auf der Grundlage einer entsprechenden Würdigung und Bewertung der Sach- und Rechtslage gegeben.

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2.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass der neu angefügte Abs. 2 des § 28 AsylVfG die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren vermag, wenn ausnahmslos rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden. In allen anderen Fällen, vornehmlich schon dann, wenn subjektive und objektive Nachfluchtgründe nur miteinander verwoben sind, kommt der allgemeine Grundsatz des Art. 5 Abs. 2 der gen. Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU v. 30.9.04 / L 304/12) zur Geltung (ohne den mit „insbesondere“ eingeleiteten Beispielsfall). Denn die Regelung des AufenthG stellt sich als Ausnahme iSv Art. 5 Abs. 3 der gen Richtlinie 2004/83/EG dar und ist nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen eng auszulegen. Demzufolge ist auch die in § 28 Abs. 2 AufenthG enthaltene Regel eng auszulegen und jede von ihr abweichende Ausnahme - gemäß dem Grundsatz der gen. Richtlinie in Art. 5 - großzügig und weit.

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Davon abgesehen ist auch gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG die Berücksichtigung selbstgeschaffener Nachfluchtgründe durchaus möglich - wenn auch nur ausnahmsweise. Das gilt im Lichte der Regel des Art. 5 Abs. 2 der gen. Richtlinie in ganz besonderer Weise. Letztlich maßgeblich sind daher die Umstände des Einzelfalles.

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Im Übrigen stellt es einen objektiven Nachfluchttatbestand dar, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Derartige „Umstände“ und Veränderungen sind selbstverständlich nicht „aus eigenem Entschluss geschaffen“ (§ 28 Abs. 1 AsylVfG); der Asylbewerber hat auf sie gar keinen Einfluss. Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen bis hin zu Repressionen im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.

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Im vorliegenden Fall liegt es aber auch so, dass die Klägerin als Tochter eines hochrangigen Beamten im ehem. Ministerium für Landwirtschaft - Entwicklung und Aufbau - und einer Lehrerin in Vietnam „immer schon gegen Kommunisten“ war, vor allem deshalb, weil sie und ihre Familie von ihnen „unterdrückt“ wurde (Anhörung v. 17.10.1991, S. 3; Protokoll v. 29.6.05, S. 2). Die Klägerin musste ihr Studium abbrechen, weil sie nicht in den „neuen Wirtschaftszonen“ Zwangsarbeit verrichten wollte, erhielt danach in Vietnam keine Arbeitsstelle mehr und „musste ins Ausland gehen“. Sie ist - ebenso wie ihr Ehemann - in Vietnam ausgegrenzt worden, da sie „keine Kommunisten waren und unter der alten Regierung gearbeitet“ hatten (Anhörung v. 17.10.1991, S. 4). Ihre Familie war „immer schon gegen eine kommunistische Diktatur“ (Protokoll v. 29.6.05, S. 2). Damit handelt es sich bei ihrer exilpolitischen Betätigung in Deutschland nicht um einen erst „nach Verlassen ihres Herkunftslandes aus eigenem Entschluss“ (neu) geschaffenen Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine „Überzeugung“ (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. „Ausrichtung“ (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die ohne jeden Zweifel bereits in Vietnam ihre Wurzeln hat („Ausdruck und Fortsetzung“ einer entsprd. „Ausrichtung“, Art. 5 Abs. 2).

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Somit kann hier gar keine Rede davon sein, dass die Klägerin ihr Folgevorbringen etwa auf „Umstände“ iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG stützt, die überhaupt erst nach Ablehnung ihres früheren Antrages (neu) entstanden sind (§ 28 Abs. 2 AsylVfG) und die sich als solche darstellen, die sie nach Verlassen des Herkunftslandes „aus eigenem Entschluss“ sich selbst geschaffen hat (§ 28 Abs. 1 AsylVfG).

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2.2 Soweit die ablehnenden Entscheidungen des Bundesamtes darauf zurückgehen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 VwVfG für ein Wiederaufgreifen nicht erfüllt seien, ist der Klägerin zuzubilligen, dass entsprechende Gründe selbstverständlich auch noch während des gerichtlichen Verfahrens jederzeit nachgeschoben werden können (und deshalb nicht etwa noch bei der Beklagten jeweils erneut gesonderte Folgeanträge zu stellen wären). Denn das gerichtliche Verfahren ist für derartige Gründe offen, § 77 AsylVfG. Dabei sind einzelne Wiederaufnahmegründe wie auch Dauersachverhalte - z.B. die Mitgliedschaft in einer Organisation oder Verschärfungen im Heimatland - zwar im Verwaltungsverfahren innerhalb von 3 Monaten nach deren Eintritt oder Beginn geltend zu machen, bei Verschärfungen oder Neueinschätzungen 3 Monate nach einer entsprechenden Neubewertung. Sachverhalte aber, die sich als Fortsetzung rechtzeitig eingeführter Grundsachverhalte darstellen, sind nicht einmal im Verwaltungsverfahren in der dargestellten Weise fristgebunden. Hier genügt es, wenn der Grundsachverhalt schon einmal fristgemäß vorgetragen wurde. Das ist hier der Fall (vgl. Anhörung v. 17.10.91).

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Im Übrigen ist es so, dass bei nicht durchgreifenden Gründen iSv § 51 Abs. 1 VwVfG (und damit dem Fehlen eines Anspruchs auf ein Wiederaufgreifen) die Verwaltungsbehörde daneben stets ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege gem. §§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG zu prüfen hat und sie bei hinreichend schwerwiegenden Gründen dazu auch iSe Ermessenreduzierung verpflichtet ist (Kopp/Ramsauer, VwVfG-Kommentar, 8. Aufl. § 51 Rdn. 24 m.w.N.; BVerwGE 111, 77; BVerwG, Beschl. v. 15.1.2001 - 9 B 475.00 -). Blendet eine Behörde naheliegende Erkenntnisse einfach aus, kann eine Ermessensreduzierung auf Null mit der Folge eines Anspruches auf ein Wiederaufgreifen aus Gründen der Ermessensschrumpfung gegeben sein (Kopp/Ramsauer, aaO, § 48 Rdn. 55 m.w.N.).

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Die Beklagte hätte sich angesichts der erheblichen Veränderungen in Vietnam sowie der veränderten Rechtslage einem Wiederaufgreifen im Ermessenswege (§§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG) nicht entziehen können.

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2.3. In diesem Fall, dass nämlich die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG erfüllt sind, ist in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.) davon auszugehen, daß eine Zurückverweisung des Verfahrens an das Bundesamt nicht mehr in Betracht kommt, vielmehr das Verwaltungsgericht selbst in der Sache durchzuentscheiden hat (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO).

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2.4. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - im Jahre 2005 - stellt sich die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Verwaltungsentscheidung so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam deutlich verschärft haben. Weiterhin ist inzwischen die Richtlinie 2004/83/EG und daneben das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.

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Bei der somit gebotenen individuellen Prüfung aller Angaben der Klägerin sowie der allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich, dass die Klägerin sich offenkundig um einen kohärenten und plausiblen Vortrag hinsichtlich ihres Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte sowie für Religionsfreiheit in Vietnam bemüht hat, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit der Klägerin festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Damit bedürfen die Angaben und Aussagen der Klägerin, die in der mündlichen Verhandlungen vom 29. Juni 2005 einen überzeugenden Eindruck hinterließ, keines weiteren, über die Aussagen noch hinausgehenden Nachweises (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. auch BVerwGE 55, 82).

35

2.4.1 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen, kommt es stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG) einschließlich der EMRK sowie der Richtlinie 2004/83/EG im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Insoweit heißt es im Sinne einer aktuellen Lagebeschreibung im Report der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ - GfbV - v. 28.4.2005:

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„Die vietnamesische Staatsführung reagiert nicht nur gereizt auf jede internationale Kritik an der katastrophalen Menschenrechtslage und weist schroff Berichte des US-Außenministeriums über die fortgesetzte Verletzung der Religions-. Meinungs- und Versammlungsfreiheit als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Vietnams zurück. Auch in den Vereinten Nationen zeigt Hanoi keine Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog über die Defizite bei der Durchsetzung der Menschenrechte im eigenen Land. Ganz im Gegenteil, kaum ein Staat reagiert in der UN-Menschenrechtskommission so entrüstet auf Kritik an der Menschenrechtslage.“

37

Übereinstimmend hiermit berichtet die FR in der Ausgabe v. 29.4.2005, S. 1:

38

„Die Kommunisten lassen keine Meinungs-, Versammlungs- oder Gewerkschaftsfreiheit zu, unterdrücken jede Opposition, kontrollieren Medien und Internet. ´Vietnams elende Menschenrechtslage ist in neue Tiefen gesunken´, schrieb 2003 die Organisation Human Rights Watch. 2004 berichtete HRW, die Lage habe sich noch verschlimmert. Dissidenten würden verhaftet, manche gefoltert. Besonders gefährlich lebten Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten, vor allem Buddhisten und Christen im Hochland“.

39

Das politische Engagement eines Einzelnen ist nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche Registrierungen, (Gegen-) Aktionen, Reaktionen und Repressionen. „Dissidenten sind Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt“ (so auch der Lagebericht AA v. 12.2. 2005, S. 5). Insoweit ist heute - 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (so D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):

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„Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)

41

Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen (vgl. AA Lagebericht v. 12.02.2005) alle aktiven Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“ bzw. solche, die nur dafür gehalten werden, inhaftiert oder bestraft werden und hieran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lagebericht, aaO., S. 5). In Vietnam werden demgemäß „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (Lagebericht, aaO. S. 6). Viele Journalisten üben „Selbstzensur“. Versuche, mit politischen Flugblättern oder Zeitungen Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht, aaO. S. 6). Im Report der GfbV v. 28.4.2005 heißt es dementsprechend:

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„In der weltweiten Rangliste zum Stand der Pressefreiheit der Organisation "Reporter ohne Grenzen" bildet Vietnam fast das Schlusslicht und belegt Platz 161 von 167 vergebenen Plätzen. Bei der Zusammenstellung der Rangliste wurden gewalttätige Übergriffe, Morde und Verhaftungen von Journalisten sowie staatliche Zensur und Kontrolle der Medien berücksichtigt.“

43

Im IGFM-Jahresbericht 2004 (v. Febr. 2004, zu Pkt. 1) heißt es u.a.:

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„Spionagetätigkeiten werden in Vietnam mit hohen Strafen - auch mit der Todesstrafe geahndet. Die IGFM zweifelt an dem Rechtfertigungscharakter dieses Vorwurfs, weil er sehr weit ausgelegt und in den letzten Monaten exzessiv gegen Dissidenten angewandt wurde, die Informationen über das Internet verbreitet hatten. Für die vietnamesische Strafverfolgung ist nicht die Art, sondern allein der Nutzungszweck der übermittelnden Informationen relevant. Allein das Ansammeln und Weiterleiten von Informationen aus öffentlichen bzw. offiziellen Q.llen, die der Empfänger für seine Kritik an der Politik des vietnamesischen Staates nutzen könnte, erfüllen den Tatbestand "Spionage". N. Khac Toan, P. H. S. und N. V. B. wurden sogar für Kontakte mit vietnamesischen Oppositionellen im Exil bestraft. Der Fall von den drei Verwandten des katholischen Pfarrers N. Van L., die kurz nach seiner Verhaftung im Juni 2001 ebenfalls festgenommen wurden, verdeutlicht die Willkür und den politischen Charakter dieser Verfolgung. Ihnen wurde anfangs Spionage vorgeworfen, weil sie Berichte über die Verfolgung der Religionsgemeinschaften in Vietnam an einen Radiosender und eine Menschenrechtsorganisation in den USA weitergegeben hatten. Infolge weltweiter Proteste wurde der Prozess zweimal verschoben, die Anklage wegen Spionage später fallen gelassen und auf "Missbrauch der freiheitlich demokratischen Rechte" (mit Strafmaß zwischen sechs Monaten und sieben Jahren) umgeändert. Im Revisionsverfahren im November 2003 wurden die im September 2003 verhängten Haftstrafen von drei, vier und fünf Jahren auf entsprechend vier Monate, und zwei mal 32 Monate reduziert. In einem weiteren Revisionsverfahren im August 2003 wurde die Strafe von Dr. P. H. S. nach weltweiten Protesten auf fünf Jahre Haft und drei Jahre Hausarrest reduziert.“

45

Dabei schreckt die vietnamesische Polizei und Justiz auch vor Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK / Verbot der Folter) keineswegs zurück, wie die Meldung der IGFM (kath.net) v. 17.12. 2004 zeigt:

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„Mindestens fünf der sechs inhaftierten mennonitischen Christen in Vietnam sind im Gefängnis fortgesetzt misshandelt worden. Zwei vor kurzem freigelassene Mennoniten berichteten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), dass auch die infolge von Misshandlung psychisch krank gewordene Le Thi H. Lien vor Schlägen nicht verschont blieb. Die IGFM wirft der vietnamesische Polizei vor, dass sie in allen ihren Gefängnissen die Gewalt bewusst eingesetzt hat, um falsche Geständnisse zu erzwingen. Die sechs Mennoniten um Pastor N. H. Q. waren Mitte November wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" zu Haftstrafen zwischen neun Monaten und drei Jahren verurteilt worden. Die Brüder N. Huu Nghia und N. Thanh Nhan kamen am 2. bzw. 3. Dezember frei, nachdem sie am 2. März dieses Jahres verhaftet worden waren. Ihre Zeugenaussagen, die der in Frankfurt ansässigen IGFM vorliegen, belegen die Gewaltanwendungspraxis der vietnamesischen Polizei und der Justizbehörden.

47

Polizei und Staatsanwalt hatten versucht, die Gefangenen zu zwingen, Pastor Q. als Anstifter und Radelsführer der März-Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Mennoniten zu denunzieren. Sie wurden zum Verhör bestellt, meist nachdem kriminelle Häftlinge sie schwer geschlagen hatten. Den Brüdern wurden vorgefertigte Verhörprotokolle zur Unterschrift vorgelegt, in dem sie ihre angeblichen Straftaten zugeben und Reue zeigen. Weil die Gefangenen dies nicht taten, wurden sie misshandelt. Heute können die beiden Brüder infolge der Misshandlungen nicht mehr arbeiten. Im Gefängnis wurden sie mehrmals ins Gesicht bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Ihre Nasenbeine wurden gebrochen. Nhan wurde gezwungen, vier Monate lang auf Zehenspitzen zu hocken. Das lange Sitzen und die Schläge auf die Wirbelsäule im Lendenbereich haben zur Nervenschädigung geführt. Das linke Bein von Nhan ist heute gelähmt und er kann nicht mehr schmerzfrei sitzen. Zwei Monate verbrachte er in Isolationshaft, in einer kleinen Zelle ohne Fenster und Belüftung. Zweimal wurde er bewusstlos aus der Zelle getragen. Sein Bruder Nghia leidet infolge von Schlägen und T.tten auf Brust und Kopf an schweren Atembeschwerden, chronischen Schwindelgefühlen und Kopfschmerzen. Die Gefängniswärter sollen kriminelle Mitgefangene angestiftet haben, ihn zu misshandeln. Bis zu seiner Freilassung wurde er fast zwei Monate lang in der Krankenstation des Gefängnis Chi Hoa behandelt. Übereinstimmend berichteten Nhan und Nghia von weiteren Misshandlungen an zwei anderen inhaftierten Mennoniten, P. Ngoc Thach und N. Van Phuong, ihre Schmerzschreie und Hilferufe seien in allen Gefängniszellen zu hören gewesen. Nhan und Nghia trafen die Mennonitin Le Thi H. Lien zum ersten Mal wieder am Prozesstag 12.11.2004. Frau Lien war in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen Verfassung. Sie redete nicht und weinte andauernd.“

48

Gegen diese äußerst negative Gesamteinschätzung spricht nicht, dass der vietnamesische Pater N. Van L. - Shalompreisträger des Jahres 2004 -, der sich beharrlich für Religions- und Meinungsfreiheit in Vietnam eingesetzt hat und seit 1983 wiederholt willkürlich angeklagt und verurteilt wurde, jetzt (2005) offenbar vorzeitig aus der Haft entlassen wurde - einer Haft, die er zeitweise unter menschenunwürdigen Bedingungen in Isolationshaft verbringen musste (so die Eichstätter Ortsgruppe von ai v. Febr. 2005). Denn die allgemeine Menschenrechtslage, wie sie von sachkundigen Beobachtern der Lage in Vietnam beurteilt wird, hat sich dadurch nicht grundlegend verändert.

49

Gleiches gilt für die jüngst erfolgte Freilassung der 21-jährigen Christin Le Thi H. Lien in Ho Chi Minh Stadt zum 30. April 2005 (vgl. die Pressemitteilung der IGFM v. 27.4.2005 ; siehe dazu auch obige Meldung der IGFM v. 17.12.2004):

50

„Die durch Folter psychisch schwer erkrankte Christin Le Thi H. Lien soll nach Informationen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) am 30. April aus vietnamesischer Haft freikommen. Die mennonitische Lehrerin war im November zusammen mit anderen Christen zu zwölf Monaten Haft verurteilt worden. Der IGFM liegen Augenzeugenberichte vor, daß die Verurteilten wiederholt gefoltert wurden, oft bis zur Bewußtlosigkeit. Die IGFM führt die Freilassung auf internationale Proteste zurück. idea und die IGFM hatten die 21jährige im Dezember als „Gefangene des Monats“ benannt“ (Evangeliums-Rundfunk Österreich - ERF/ Evangelische Nachrichtenagentur, idea v. 3.5.2005).

51

Das Schicksal der Freigelassenen belegt vielmehr die drastische vietnamesische Verfolgungspraxis gegen Oppositionelle bzw. gegen solche Menschen, die dafür vom Staat gehalten werden - einschließlich menschenrechtswidriger Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK).

52

Indiz dafür, dass es vielmehr sogar eine bis nach Deutschland reichende, gezielte Verfolgung von Regimegegnern aus Vietnam gibt, ist die aus Vietnam bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg am 17. März 2005 eingegangene Anzeige gegen einen vietnamesischen Staatsbürger, der hier als Flüchtling anerkannt wurde (Az. der Staatsanwaltschaft Lüneburg: 1107 Js 6546/05).

53

Dass in Vietnam nach wie vor kritische bzw. abweichende Meinungen mit Härte unterdrückt und ggf. verfolgt werden, ergibt sich auch aus dem Jahresbericht 2005 von amn. Intern. - ai - (Vietnam, S. 356 ff.), wo dargestellt ist, dass unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern sogar der Zugang zum Land verweigert wird (S. 357 r. Spalte). Die am 1. Juli 2004 in Kraft getretene neue Strafprozessordnung Vietnams richtet sich mit einem „ganzen Bündel neuer Bestimmungen“ gegen die Nutzung des Internets und vor allem gegen den Zugang zu Websites vietnamesischer Oppositionsgruppen. Damit wird fortgesetzt, was sich schon im August 2004 angekündigt hatte (Report GfbV v. 28.4.2005):

54

„Im August 2004 wurde nach chinesischem Vorbild eine Internet-Polizei eingerichtet, die unter anderem auch den Missbrauch des Internets für Kritik an der Regierungspolitik ahnden soll. Schon zwei Wochen später ordnete die neue Polizei-Einheit die Schließung von 65 Internet Cafés im Süden Vietnams an. Vietnam gilt angesichts dieser repressiven Politik weltweit als einer der Staaten, in der der freie Zugang zum Internet am meisten behindert wird.“

55

Sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. „nationale Sicherheit Vietnams“ zur Last gelegt werden, sind seit kurzem sogar per Erlass als „Staatsgeheimnisse“ eingestuft - was für sich spricht. Im letzten Jahr wurden offiziell (mind.) 88 Todesurteile verhängt, davon 64 vollstreckt. Informationen hierüber sind inzwischen ebenfalls zum „Staatsgeheimnis“ erklärt worden (ai-Jahresbericht 2005, S. 359), so dass darüber nicht berichtet werden darf.

56

Auch die von einem Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2005 (in der Sache 1 A 70/02) vorgelegte Polizeizeitung vom 23. März 2005, in der eine Kooperation zwischen China und Vietnam hinsichtlich der „Sabotage der feindlichen Gruppierungen im In- und Ausland“ gefordert wird, ist deutlicher Beleg dafür, dass von der vietnamesischen Parteilinie abweichende Meinungen mit aller Härte verfolgt werden sollen.

57

Denn Meinungs- und Gesinnungsfreiheit wird in Vietnam als Gefährdung des Staates verstanden. Schon öffentliche Stellungnahmen im Internet für „Demokratie“ und „hoffnungsvolle Anzeichen“ dafür werden mit unverhältnismäßig hohen (Verfolgungs-)Strafen belegt (vgl. dazu den Country Report des Englischen „Home Office“ v. April 2004), etwa mit 13-jähriger Gefängnisstrafe, die vom vietnam. Supreme court auf dann immer noch 5 Jahre herabgesetzt wurde. Für die Richtigkeit dieser Nachricht spricht die Meldung von news (heise-online v. 26.8. 2003):

58

„Ein vietnamesisches Berufungsgericht hat die Haft für einen Dissidenten, der einen Artikel über Demokratie im Internet veröffentlicht hatte, von 13 auf 5 Jahre verringert. Das teilte ein Justiz-Sprecher am Dienstag in der Hauptstadt Hanoi mit. Phan H. S. war im Juni nach den Gesetzen des kommunistischen Landes der Spionage für schuldig befunden worden, weil er einen Aufsatz des US- Außenministeriums mit dem Titel "Was ist Demokratie?" übersetzt und ins Netz gestellt hatte. Der Haftstrafe soll sich allerdings ein dreijähriger Hausarrest anschließen, sagte der Sprecher.

59

Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch rief die vietnamesische Führung auf, S. umgehend freizulassen. Das Verfahren sei nicht fair und widerspreche internationalen Vereinbarungen über die Menschenrechte. "Verteidiger können nichts ausrichten, weil es ein politischer Prozess ist", sagte Regionaldirektor B. A.. Die vietnamesische Regierung blockiert bereits den Zugriff auf rund 2000 Webseiten, von denen die meisten politischen oder pornografischen Inhalt haben. Sämtliche Medien des Landes unterliegen strikter Kontrolle des Staates.“

60

Die Stellungnahme des „Arbeitskreises für Gerechtigkeit und Frieden an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt“ v. Juni 2004 bestätigt das, der zufolge nämlich

61

„Menschenrechtsverletzungen an Andersdenkenden und Intellektuellen sowie die Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten ... an der Tagesordnung sind“.

62

Nach einer Meldung von amnesty international v. 2.1.2004 wurde beispielsweise Dr. N. D. Q. lediglich aufgrund einer Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit festgenommen, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte (vgl. dazu auch ai-Jahresbericht 2004, S. 416). Für das Menschenrechtsdefizit spricht auch die Verweigerung der Einreise von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. „N-Listen“ beim Nds. Landeskriminalamt und die Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.)

63

2.4.2 Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer erhöhten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, entspricht das zum einen nicht mehr den neueren Tatsachen, wie sie aus Vietnam von Sachverständigen berichtet werden (s.o.) und steht das zum andern im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es „unerheblich“ sein soll,

64

„ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.“

65

Gegenüber den Verhältnissen des Jahres 1994 haben sich somit die maßgeblichen Entscheidungskomponenten gerade in den letzten Jahren gravierend verändert - was bei Betrachtung der Nachrichtenlage und der geltenden Vorschriften offenkundig ist.

66

2.4.3 Die der Klägerin als einer „Andersdenkenden“ bzw. Dissidentin bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften ihre leibliche Unversehrtheit, die physische Freiheit sowie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit und vor allem ihre „politische Überzeugung“ zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Sie ist in Deutschland in vielfacher und mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (Bl. 38 ff u. Bl. 61 ff GA), was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte. Sie ist seit vielen Jahren Mitglied des „Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg“. Sie hat an sehr vielen exilpolitischen Tätigkeiten teilgenommen und war bei vielen Demonstrationen dabei (vgl. die Belege in den GA, Protokoll der mündlichen Verhandlung v. 29.6.2005, S. 2). In den letzten Jahren war sie regelmäßig an Demonstrationen vor der vietnamesischen Botschaft in Berlin beteiligt, wo sie gefilmt und registriert wurde. Auf diese Weise ist sie den vietnamesischen Sicherheitskräften bekannt, ist sie als Dissidentin bereits datentechnisch erfasst und registriert.

67

Hierbei ist es unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie an sich „unerheblich“, ob die Klägerin aufgrund ihrer „Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung“ in irgendeiner Weise „tätig geworden ist“ (2.4.2). Auch die politische Überzeugung Andersdenkender ist gem. Art. 10 der Richtlinie 2004/ 83/EG schon als solche geschützt. Dabei ist davon auszugehen, dass der gesamte Vortrag der Klägerin eine politische Überzeugung widerspiegelt, die auf die Wahrnehmung von Menschen- und Freiheitsgrundrechten zurückgeht:

68

„Politische Überzeugung“ sollte im weitesten Sinn verstanden werden und jede Meinung zu jeder Angelegenheit einschließen, auf die der Staatsapparat, die Regierung, die Gesellschaft oder die Politik Einfluss nehmen. Dazu kann auch eine Meinung zu den Rollenbildern der Geschlechter gehören. Auch unangepasstes Verhalten, das den Verfolger veranlasst, der Person eine politische Überzeugung zuzuschreiben, fällt in diese Kategorie. An sich gibt es in diesem Sinn keine immanent politische oder immanent unpolitische Tätigkeit, doch kann ihr Wesen anhand des Gesamtbildes des Falles bestimmt werden. Ein mit politischer Überzeugung begründeter Antrag setzt hingegen voraus, dass der Antragsteller oder die Antragstellerin Auffassungen vertritt oder vermeintlich vertritt, die von den Behörden oder der Gesellschaft nicht toleriert werden, da sie Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber ihrer Politik, Tradition oder Methodik sind. Voraussetzung ist ferner, dass diese Ansichten den Behörden oder den betreffenden Teilen der Gesellschaft zur Kenntnis gelangt sind oder gelangen könnten oder von diesen den Antragstellenden unterstellt werden. Eine solche Meinung muss nicht unbedingt zum Ausdruck gebracht worden sein, und es ist auch nicht erforderlich, dass bereits irgendeine Form von Diskriminierung oder Verfolgung stattgefunden hat. Unter diesen Umständen müssten bei der Entscheidung, ob begründete Furcht vorliegt oder nicht, die Folgen berücksichtigt werden, die Antragstellende mit einer bestimmten politischen Einstellung zu tragen hätten, wenn sie in dieses Land zurückkehren würden.“

69

(UNHCR Richtlinie zum internationalen Schutz v. 7.5.2002 / HCR/GIP/ 02/01 Rdn. 32):

70

Bei einer derartigen Folgenbetrachtung ist hier für die Klägerin einzubeziehen, dass in Vietnam gerade die (politische) Gesinnung, das Denken, die Einstellung äußerst genau kontrolliert und akribisch überwacht wird. Die Aktivitäten haben - entgegen der Auffassung der Beklagten - weniger Gewicht und können nicht an einer beliebig ansetzbaren „Schwelle“ gemessen werden. Ein Staatsbürger, der bereits durch abweichendes Verhalten, durch Verfassen von kritischen Zeitungsartikeln und durch sonstige exilpolitische Aktivitäten aufgefallen ist und der sich sehr engagiert betätigt hat, dürfte in Vietnam mit sehr großer Wahrscheinlichkeit aus Gründen seiner abweichenden politischen Gesinnung und Einstellung erheblich diskriminiert, verfolgt und ggf. auch gefoltert, zumindest mit Härte „umerzogen“ werden.

71

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vom 29. Juni 2005 sehr glaubwürdig dargestellt, dass ihr Engagement und ihre Teilnahme an Demonstrationen (vgl. die diversen Bescheinigungen in den Akten und Beiakten) letztlich darauf abzielen, mehr Menschenrechte und mehr Freiheit in Vietnam zu erreichen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass all diese Tätigkeiten der engagierten Klägerin als eine „zersetzende Propaganda“ eingeschätzt werden dürfte, die zum einen den Sicherheitsorganen bekannt geworden ist und die zum anderen harte Strafen nach sich ziehen werden. Zu Recht ist die Klägerin daher der Meinung, dass man ihr diese Aktivitäten bei einer Rückführung nach Vietnam vorhalten und sie auch entsprd. behandeln werde (Protokoll v. 29.6.05, S. 3). Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die Klägerin bei Demonstrationen vor der vietnamesischen Botschaft in Berlin gefilmt worden ist, die Botschaft also weiß, wer sie ist und was sie denkt. Aus so beschafften Informationen dürften in Vietnam dann auch Konsequenzen gezogen werden. Als überzeugte Anhängerin einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsform ist sie daher im Falle einer Rückkehr nach Vietnam in einem sehr hohen Maße gefährdet. Ihre Meinung angepasst zurückzuhalten, kann ihr nicht angesonnen werden. Die Klägerin wird im Hinblick auf ihr Demonstrationsverhalten in Vergangenheit und Gegenwart wie im Übrigen auch durch ihre AsylantragsteIlung somit als aktive Regimegegner, als Andersdenkende, als Dissidentin angesehen werden.

72

Denn politische Betätigung - ob nun im In- oder Ausland - wird in Vietnam nach wie vor regelmäßig verfolgt und hart bestraft. Vgl. dazu das Gutachten von G. Will v. 2. Mai 2003:

73

„2. Bis zu dem oben unter 1) geforderten Beweis des Gegenteils muss davon ausgegangen werden, dass Verfasser regimekritischer Internetbeiträge wie Verfasser regimekritischer Zeitschriftenbeiträge im Falle einer Rückkehr nach Vietnam mit einer Bestrafung rechnen müssen. Die entsprechenden Artikel des vietnamesischen StGB lassen hier keine Zweifel zu. Für die Erhebung einer Anklage spielt das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist vielmehr, ob der oder die Beschuldigte gute Beziehungen zu hohen Führungspersönlichkeiten hat, die bereit sind, ihn zu schützen oder ob der oder die Beschuldigte selbst zur Nomenklatura gehört bzw. gehört hatte, sodass eine Anklageerhebung und Verurteilung zu unerwünschten politischen Folgen führen könnten. Das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten wird allenfalls bei der Zumessung des Strafmaßes Berücksichtigung finden.

74

...-Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, so hat eine Reihe von wütenden Angriffen auf regimekritische Internetbeiträge, die Mitte April dieses Jahres in der Armee-Zeitung erschienen sind, deutlich gemacht, dass die vietnamesische Führung entschlossen ist, gegen "feindliche Kräfte", ganz gleich ob sie im Inland oder vom Ausland aus sich des Internets bedienen, um ihre regimekritischen Vorstellungen zu verbreiten, mit aller Härte vorgehen und die Kontrolle über das Internet weiter verschärfen wollen.“

75

Somit ist es für Verfolgungsmaßnahmen in Vietnam unerheblich, in welchem Maße exilpolitische Betätigungen vorliegen und ob sie eine bestimmte - mehr oder weniger hohe - „Schwelle“ überschreiten. Allein entscheidend ist die abweichende, nicht mehr „linientreue“ Gesinnung, die hinter den entsprechenden Aktivitäten mehr oder minder großen Umfangs steht. Hierbei sind unbekannte und weniger prominente Bürger - wie die Klägerin - sehr viel eher gefährdet als Personen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen (VG München, Asylmagazin 2003, 30; Dr. Weggel, Stellungn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt). Für Verfolgungsmaßnahmen in Vietnam selbst sind dann (Partei-)Beziehungen entscheidend, über welche die Klägerin nicht verfügt (vgl. Anhörung v. 17.10.1991, S. 4), oder aber Zufälligkeiten anderer Art.

76

2.4.4 Verfolgungsmaßnahmen könnten der Klägerin aber auch wegen ihres buddhistischen Glaubens drohen: Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die deutlich erkennbar gewordenen Tendenzen religiöser Orientierung in Nord-, Nordwest- und Mittelvietnam „als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen“ (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Das hat sich bis heute ganz erheblich verschärft (Report der GfbV v. 28.4.2005):

77

„Zwei Jahre nach dem Beginn des kurzen politischen Frühlings in Hanoi und der vorsichtigen Annäherung zwischen der Staatsführung und den regimekritischen Buddhisten ist die Verfolgung oppositioneller Buddhisten in Vietnam heute schlimmer denn je zuvor. Dringend bat das stellvertretende Oberhaupt der UBCV, T. Q. Do, in einem im April 2005 an die UN-Menschenrechts-kommission, sich für ein Ende der religiösen Verfolgung in Vietnam einzusetzen. Der auf Kassetten aufgezeichnete Appell war von einem Mönch aus der streng bewachten Pagode herausgeschmuggelt worden. Der Mönch wird seither von vietnamesischen Sicherheitskräften in Gewahrsam gehalten.“

78

„Die Unruhen im zentralen Hochland Vietnams im Februar 2001 müssen im Kontext dieses religiösen Konflikts gesehen werden...“ (AA Lagebericht v. 12.2.2005). Die Bedrohungslage ergibt sich dabei auch aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten, vor allem soziale, unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002). Inzwischen ist ein neuer „Religionserlass“ in Kraft getreten, der als „Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens“ verstanden und kritisiert werden kann (ai-Jahresbericht 2005, S. 358). Denn die sozialen Probleme haben zugenommen, so dass sich die Menschen den Religionsgemeinschaften zuwenden (vgl. schon Lagebericht AA v. 9.7.2001, S. 6 unten). Vgl. dazu schon Dr. Will vom 16. Juni 1999:

79

„Die vietnamesische Regierung sah sich daher auch veranlaßt, am 19.4.1999 ein Dekret über die Zulässigkeit religiöser Aktivitäten zu erlassen, in dem gefordert wird, die entsprechenden Vorschriften rigoros anzuwenden, um jeden Mißbrauch der Religion im Kampf gegen die Volksmacht zu unterbinden.“

80

Nach einer Pressemitteilung der IGFM v. 13.12.2001 sind im Laufe des Jahres 2001 alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam - ohne Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften seien von der Volkspolizei und der Armee „brutal aufgelöst“ worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben sich im Jahre 2001 zwei Buddhisten selbst verbrannt, weitere Selbstverbrennungen sind angekündigt worden. Der Klägerin dürfte deshalb im Falle seiner Rückkehr allein wegen seines buddhistischen Glaubens inzwischen einer deutlichen Gefährdung ausgesetzt sein. Nach einer IGFM-Pressemit-teilung vom 18.7.2001 häufen sich die Berichte aus Vietnam über Misshandlungen, Schikanen und Folter der Behörden gegenüber Gläubigen. Schüler eines Pfarrers seien wegen ihres Engagements „bereits mehrmals verhaftet, zusammengeschlagen und gefoltert“ worden, „um falsche Geständnisse zu erpressen“. Vgl. insoweit auch den Report der GfbV v. 28.4.2005:

81

„Bezeichnend für die Härte, mit der die vietnamesischen Behörden regimekritische Buddhisten verfolgen, ist das Schicksal des früheren buddhistischen Mönches T. T. L.. Der heute 51 Jahre alte Buddhist wurde 1992 ohne Anklage zehn Monate in Haft gehalten, weil er gegen die Verfolgung der Buddhisten protestiert hatte. Im November 1994 wurde erneut verhaftet, weil er an einem Hilfseinsatz für Flutopfer im Mekong-Delta teilgenommen hatte. Im August 1995 wurde er daraufhin zu zweieinhalb Jahren Haft und einer fünfjährigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er die "Demokratie ausgenutzt habe, um den Interessen des Staates und seiner Bürger zu schaden". Immer wieder wurde er unter Hausarrest gestellt oder festgenommen, bis er schließlich Anfang 2002 in das Nachbarland Kambodscha floh. Dort wurde er im Juni 2002 von dem UN-Hoch-kommissar für Flüchtlinge (UNHCR) als politischer Flüchtling anerkannt. Doch wie viele vietname-sische Flüchtlinge wurde auch er in Kambodscha bedrängt. Vietnam arbeitet eng mit den kambodschanischen Sicherheitsbehörden zusammen, so dass vietnamesische Flüchtlinge dort nicht sicher vor ihren Verfolgern sind. Auf offener Straße wurde er am 25. Juli 2002 von kambod-schanischen und vietnamesischen Sicherheitskräften überwältigt, in ein Auto gezerrt und ge-schlagen. Die kambodschanische Sicherheitspolizei kümmerte sich nicht um seinen Status als anerkannter politischer Flüchtling und fuhr ihn am folgenden Tag nach einem Verhör zur viet-namesischen Grenze, wo er seinen Verfolgern übergeben wurde. Am 12. März 2004 wurde er in Ho-Chi-Minh-Stadt wegen "Verletzung der nationalen Einheit" und "Kontakt zu feindlichen Gruppen, die die innere Sicherheit gefährden", zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach An-rechnung seiner Haftzeit wurde er bereits am 26. März 2004 freigelassen und konnte schließlich am 23. Juni 2004 in ein skandinavisches Land ausreisen, dass ihm Zuflucht gewährte.“

82

Angesichts der dargestellten Menschenrechtslage in Vietnam ist daher bei einer prognostischen Bewertung zu erwarten, dass die Klägerin auch aus diesem Grunde ihres religiös motivierten Engagements erheblichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird. Sämtliche Gesetze, die (allerdings nur) theoretisch eine Religionsfreiheit garantieren, stehen in Vietnam unter dem Vorbehalt, dass die Freiheit nicht dazu missbraucht werden dürfe, den oft unbestimmt gehaltenen Gesetzen und der Politik Vietnams - einer Diktatur - zuwiderzuhandeln. Derartige Klauseln einschließlich ihrer politisch motivierten Auslegung stellen von jeglicher Gesetzesbindung frei und erlauben in der Praxis eine „weitgehende Einschränkung“ des entsprd. Rechts auf Religionsfreiheit (AA Lagebericht v. 12.2.2005). Politisches, soziales oder sonstiges Engagement ist den Religionsgemeinschaften daher inzwischen strikt untersagt und wird staatlich verfolgt.

83

Vgl. dazu Amnesty international im Länderbericht Vietnam v. Juni 2001:

84

„Die Artikel 69 und 70 der vietnamesischen Verfassung von 1992 garantieren Meinungs- und Religionsfreiheit. Die Verfassung besagt aber auch, dass "niemand die Religion missbrauchen darf, um Gesetze und Praktiken des Staats zu verletzen". Diese Einschränkung der freien Religionsausübung wird von der vietnamesischen Regierung eingesetzt, um religiöse Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen. Einige religiöse Gruppen, wie z.B. die buddhistische Unified Buddhist Church of Viet Nam (UBCV), die buddhistische Religionsgemeinschaft Hoa Hao, der katholische Orden Congregation of the Mother Co-Redemptrix (CMC) oder Protestanten aus dem Norden des Landes, versuchen, unabhängig vom Staat zu wirken. Mitgliedern dieser Gruppen drohen Verfolgung und Inhaftierung. Von Inhaftierungen sind sowohl Angehörige des Klerus, als auch Laien betroffen.“

85

Vgl. dazu auch den Sachverständigen Dr. Will in seiner Stellungnahme v. 16.6.1999 an das VG Freiburg:

86

“Im vietnamesischen StGB werden die in der Verfassung aufgeführten Prinzipien präzisiert. So gibt es in Art. 81 c der vietnamesischen StGB den Straftatbestand “Verbreitung von Zwietracht zwischen religiös Gläubigen und Nicht-Gläubigen sowie zwischen religiös Gläubigen und der Volksmacht sowie den gesellschaftlichen Organisationen”. Für diesen Straftatbestand ist eine Gefängnisstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren vorgesehen; in minder schweren Fällen zwischen zwei und sieben Jahren. Außerdem wird in Art. 199 des vietnaniesischen StGB der Straftatbestand: “Betreiben abergläubischer Praktiken” aufgeführt, für den eine Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und drei Jahren, in besonders schweren Fällen zwischen zwei und zehn Jahren vorgesehen ist. Angesichts der in Vietnam praktizierten oftmals sehr weitgehenden Auslegung von Bestimmungen des StGB stehen hiermit genügend Möglichkeiten zur Verfügung, um die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften und deren Mitgliedern durch strafrechtliche Maßnahmen stark einzuschränken.

87

Vgl. dazu auch ai-Jahresbericht 2004 S. 417:

88

„Ungeachtet aller Bemühungen der Regierung, die Verbreitung unliebsamer Informationen zu verhindern, wurden immer wieder Vorwürfe über repressive Maßnahmen publik: So sollen vor allem im Zentralen Hochland Mitglieder verbotener protestantischer Kirchen bei Dorfversammlungen zur Abgabe von Erklärungen über den Verzicht auf ihren Glauben gezwungen worden sein.“

89

Die Klägerin wird im Hinblick auf ihr auch religiös motiviertes Demonstrationsverhalten in Vergangenheit und Gegenwart wie im Übrigen auch durch ihre AsylantragsteIlung in Vietnam somit als aktive Regimegegnerin, als Andersdenkende, als Dissidentin angesehen werden.

90

2.4.5 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Die Präsidenten der „Volkskomitees“ auf Provinzebene dürfen hiernach jede Person bis zu 2 Jahren ohne Gerichtsverfahren inhaftieren - und auch verbannen (AA Lagebericht v. 12.2. 2005, S. 6). Es ist allerdings unklar, welche Personen aufgrund welcher Erkenntnisse in die unstreitig existierenden Arbeits- und Verbannungslager verbracht und dort - durch welche Methoden auch immer - „abgestraft“ werden. Erkenntnisse über die vietnamesische Praxis in diesem Bereich sind „nur schwer zu erhalten“ (so Lagebericht des AA v. 26.2. 1999),. In der FAZ v. 21.1.1999 heißt es insoweit:

91

„Ein im Westen ausgebildeter Jurist war mehr als zehn Jahre in Haft, auf Grund administrativer Entscheidungen und ohne je ein Gericht gesehen zu haben. „Sie schlagen nicht, sie stecken dich in Einzelhaft oder in ein Arbeitslager - bis du die Gesetze des Klassenkampfs endlich eingesehen hast“, sagt er... „(FAZ v. 21.1. 1999).

92

Angesichts des engagierten Verhaltens der Klägerin bei Demonstrationen in Deutschland liegt es unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten sehr nahe, dass die Klägerin bei einer Rückkehr - wie befürchtet - mit einer längeren Administrativhaft oder vergleichbaren Maßnahmen belegt werden wird.

93

Amnesty International geht davon aus, dass politisch Andersdenkende („Illoyale“) und Oppositionelle, die ihre abweichende Gesinnung einmal offenbart hätten, mit Mitteln staatlicher Maßnahmen aller Art, des Strafrechts sowie durch Haft - ohne jeden Prozess - in Vietnam drastisch verfolgt werden. Auch durch die ai-Stellungnahme gegenüber dem VG Neustadt/Wstr. vom 7.1.1997 wird bestätigt, dass „regimekritisches“ Verhalten, wozu in Einzelfällen auch schon humanitäre Hilfsaktionen zugunsten von Überschwemmungsopfern im Mekong-Delta zählen können (siehe FR v. 17.8.1995), ggf. hart bestraft wird, u.zw. auf der Grundlage der Staatsschutzvorschriften oder administrativer Haft (s.o.). Auch andere Erkenntnisquellen belegen diese Tendenz der harten Bestrafung „antisozialistischer Tätigkeit“ (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5; ai-Jahresbericht 2004, S. 414 f.; ai-Stellungn. v. 2.2.1999, ai-Schr. v. 5.11.1996 an VG Frankf./Oder; Prof. Lulei, Schr. v. 24.2.1998 an VG Frankfurt/Oder; Stellungn. Dr. G. Will an VG Berlin v. 17. Nov. 1999).

94

Nach einem Artikel des Sicherheitsministers in der Parteizeitung Nhân Dân vom 18.8. 2000 müsse die Regierung den „feindlichen Kräften unter den im Ausland lebenden Vietnamesen“ mit der ganzen Härte des Gesetzes begegnen. Von einer Schwelle exilpolitischer Betätigung oder Exponiertheit als Voraussetzung für staatliche Maßnahmen ist hier keineswegs die Rede gewesen, so dass potentiell jeder engagiert Andersdenkende, der das einmal gezeigt hat, betroffen sein kann.

95

Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass durch administrative Maßnahmen der in Vietnam ausdrücklich zugelassenen Art (vgl. AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5) gegen Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) verstoßen wird, zumal aus der RegierungsVO Nr. 31-CP nicht hervorgeht, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen administrative Haftstrafen verhängt werden dürfen. Derartige Maßnahmen „unterminieren die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte“ (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5).

96

Der vietnamesische Dissident Doan Viet Hoat warnte im Februar 1999 denn auch davor zu glauben, dass ein wirtschaftlich prosperierendes Land automatisch schon demokratische Strukturen entfalte; bei einer Abschiebung regierungskritischer Vietnamesen drohe ihnen vielmehr Unterdrückung (so FR v. 6.2.1999). Schon das „Lesen“ regierungskritischer Zeitungen kann Verfolgungsmaßnahmen des vietnamesischen Staates auf der Grundlage der Administrativhaft nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des AA v. 1.4.2003), so dass Meinungsbekundungen und das öffentliche Eintreten dafür - wie es die Klägerin getan hat - erst recht dazu führen dürften. Auf eine „breite Öffentlichkeitswirkung“ kommt es in Vietnam nicht an. Aktive und überzeugte Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP sind stets gefährdet und werden als „politische Straftäter“ härter als andere abgestraft (durch Isolationshaft, Limitierung von Besuchen, Briefzensur), vgl. dazu den Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 8. Da Vietnam bislang nicht der VN-Anti-Folterkonvention beigetreten ist, können zudem Folterungen bzw. „einzelne Übergriffe von Sicherheitsorganen“ (Lagebericht AA v. 12.2.2005) in keiner Weise ausgeschlossen werden. Für harte, völlig überzogene Strafen reicht schon das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten aus (so ai -Jahresbericht 2002, S. 604) oder aber „häufiges Agitieren auf Versammlungen“ einer Volksgruppe (so ai- Jahresbericht 2005, S. 358) - was immer dann auch „Agitieren“ sein mag.

97

2.4.6 Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden bei der Anwendung des vietStGB und der Befugnis zur administrativen Haft nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. Es ist dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv „behandelt“ , schikaniert, gefoltert oder abgestraft wird. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das ohnehin nur formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht einmal eingehalten wird (so im Verfahren gegen Pfarrer L., vgl. IGFM-Pressemitt. v. 22.10. 2001; so auch der Einzelentscheider-Brief Febr. 1999). Eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden abzugeben, ist im Einzelfall völlig unmöglich:

98

„Da das Vorgehen der vietnamesischen Behörden und auch der Justiz, wie oben bereits ausgeführt, ganz wesentlich politisch beeinflußt und im übrigen in hohem Maße korrupt ist, ist eine objektive Beurteilung, ob sich die zuständigen Stellen von den...geschilderten Erwägungen bei der Entscheidung über das Ob und Wie einer Bestrafung des Betroffenen leiten lassen, praktisch unmöglich.“ - ai-Stellungnahme v. 2.2.1999 (ASA 41-97.145).

99

Staatliche Repressionen hängen dabei oft noch von lokalen Gegebenheiten ab (Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 9). Allein der Besitz antikommunistischer Flugblätter kann für eine Verurteilung ausreichen, Kritiker der regierungsamtlichen Politik werden willkürlich verfolgt, ausgegrenzt und schikaniert (ai-Jahresbericht 2002, S. 604). Vgl. den IGFM-Jahresbericht 2004:

100

„In den letzten zwei Jahren wurden die politischen Dissidenten wie bei einer Entführung festgenommen. Die Familien der Opfer wurden von der Verhaftung nicht informiert und erhielten monatelang weder Information über den Verhaftungsgrund noch den Haftort.

101

Die Untersuchungshaft überschreitet in der Regel die vom Gesetz vorgegebene Frist. Während der Untersuchungshaft (in einigen Fällen bis zu 16 Monaten) durften die politischen Gefangenen ihre Familien nicht sehen, um den Druck auf sie zu verstärken. So durften die Ehefrauen von Dr. P. H. S. und Herrn N. V. B. ihre Ehemänner 15 bzw. 16 Monaten lang nicht besuchen.

102

Selten stimmten die bei der Verhaftung angegebenen Gründe mit der Anklage überein, in manchen Fällen wurden sie während der Untersuchungshaft mehrmals geändert, so dass der Eindruck entstand, Anklage und Urteilspruch würden politisch diktiert. Die Verteidigung wurde in ihrer Arbeit vehement gehindert, in einzelnen Fällen konnte sie ihren Mandanten nur wenige Stunden vor Beginn der Verhandlung treffen und die Akten einsehen. Die meisten Prozesse gegen Dissidenten dauerten nicht länger als ein paar Stunden unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Meistens durfte nur ein enger Verwandter des Angeklagten an dem Prozess teilnehmen.“

103

Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt zur Lage in Vietnam gutachterlich geäußert (Stellgn. v. 14.9.2000 an VG München, S. 3):

104

„Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerte Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwerwiegende Bestrafungen nach sich ziehen können.“

105

Die Gefahr einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG besteht dabei generell für Personen, die in Opposition zur gegenwärtigen Regierung und herrschenden Ideologie stehen und öffentlich Aktivitäten unternehmen bzw. (wie vor allem die Klägerin) bereits unternommen haben. Im Falle eines inhaltlich regimekritischen, von der Partei- und Staatsdoktrin abweichenden Verhaltens kann die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung - mit der erforderlichen Beachtlichkeit - ohne weiteres angenommen werden (vgl. dazu OVG Saarland, aaO.; vgl. die Äußerungen des vietn. Dissidenten Doan Viet Hoat lt. FR v. 6.2.1999; vgl die ai-Stellungnahme v. 2.2.1999).

106

Somit ist es unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände hier (prognostisch) beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Vietnam „bedroht“ ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG).

107

Die Klägerin ist folglich nach allem als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen. Es ist festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

108

3. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG analog).

109

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.