Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 22.09.2005, Az.: 3 A 205/05
Abschiebungshindernis; Abschiebungsschutz; Antriebslosigkeit; Asylantragsteller; Asylbewerber; Asylsuchender; Depression; Erkrankung; Familie; Familienzusammenhalt; Kosovo; Krankheit; Medikament; Montenegro; Schizophrenie; Serbien; Verelendung; Verfall; Zielstrebigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 22.09.2005
- Aktenzeichen
- 3 A 205/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 51047
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 2 AufenthG 2004
- § 60 Abs 7 S 1 AufenthG 2004
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ist bei einer schizophrenen Erkrankung eines Asylsuchenden aus Serbien und Montenegro zu befürchten, dass er, wenn er in sein Heimatland zurückkehrte, infolge Verlustes von Antrieb und Zielstrebigkeit ohne seine Familie die erforderlichen Medikamente nicht mehr nimmt und in seelische und körperliche Verelendung verfallen würde, begründet dies einen Anspruch auf Abschiebungsschutz.
Tatbestand:
Der Kläger ist Staatsangehöriger von Serbien und Montenegro.
Der Kläger kam 1992 nach Deutschland. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 14. Januar 1994 wurde sein Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt, und es wurde festgestellt, dass die Voraussetzung des § 51 Abs. 1 und § 53 Ausländergesetz nicht vorliegen. Weiter wurde der Kläger aufgefordert, Deutschland zu verlassen, und ihm wurde die Abschiebung angedroht. Die Asylklage hatte vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg Erfolg (Urteil vom 22.10.1996 - 7 A 649/94 -), auf die zugelassene Berufung wurde die Klage im vollen Umfang abgewiesen (Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 13.02.2002 - 8 LB 6/02 -).
Im Februar 2002 beantragte der Kläger, das Verfahren hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Ausländergesetz wieder aufzugreifen, weil er an einer Schizophrenie leide.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 14. Mai 2003 wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 14. Januar 1994 bezüglich der Feststellung zu § 53 Ausländergesetz abgelehnt.
Der Kläger hat am 23. Mai 2003 Klage erhoben, weil er an Schizophrenie erkrankt sei und im Falle einer Abschiebung nach Serbien und Montenegro oder in den Kosovo nicht betreut werden könnte.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes vom 14. Mai 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihren Bescheid vom 14. Januar 1994 hinsichtlich seiner Ziffer 3 abzuändern und festzustellen, dass hinsichtlich seiner Person und hinsichtlich Serbien und Montenegro einschließlich des Kosovo Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 14. Mai 2003 ist aufzuheben. Die Beklagte ist verpflichtet, den Bescheid des Bundesamtes vom 14. Januar 1994 hinsichtlich seiner Ziffer 3 abzuändern und festzustellen, dass hinsichtlich des Klägers und hinsichtlich Serbien und Montenegro einschließlich des Kosovo Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz vorliegen.
1. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass sein rechtskräftig abgeschlossenes Asylverfahren (Bescheid vom 14.01.1994 und die dazu ergangenen Gerichtsentscheidungen) wieder aufgegriffen wird.
a) Zum Anspruch auf Wiederaufgreifen gilt allgemein:
Ist in einem ersten Asylverfahren unanfechtbar festgestellt worden, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG a.F. (jetzt: § 60 Abs. 2 - 7 Aufenthaltsgesetz) nicht bestehen, kann auf einen Asylfolgeantrag des Ausländers hin eine erneute Prüfung und Entscheidung des Bundesamtes zum Abschiebungsschutz nur unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG erfolgen (Wiederaufgreifen des Verfahrens). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, hat die Behörde das Verfahren wieder aufzugreifen und eine neue Entscheidung in der Sache zu treffen. Liegen dagegen die Voraussetzungen nicht vor, hat das Bundesamt nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG nach pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden, ob die bestandskräftige frühere Entscheidung zurückgenommen oder widerrufen wird. Insoweit besteht ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Das Ermessen ist zu Gunsten des Ausländers regelmäßig auf Null reduziert, wenn er im Zielstaat der drohenden Abschiebung einer extremen individuellen Gefahr ausgesetzt wäre, mit anderen Worten eine Gefährdung mit besonderer Intensität zu erwarten ist (BVerwG, Beschluss vom 15.01.2001 - 9 B 475.00 -, Buchholz 402.240 § 53 Ausländergesetz Nr. 42; Urteil vom 20.10.2004 - 1 C 15.03 -).
b) Daraus folgt für den vorliegenden Fall: Der Kläger hat einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens.
Im ersten Asylverfahren des Klägers wurde unanfechtbar festgestellt, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG a.F. nicht bestehen. Diese Feststellung hat das Bundesamt im Bescheid vom 14. Januar 1994 getroffen. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat die Asylklage in vollem Umfang abgewiesen (Beschluss vom 13.02.2002 - 8 LB 6/02 -) und damit im Ergebnis das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG a.F. verneint.
aa) Allerdings sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG nicht gegeben, weil sich die Sach- und Rechtslage nach Abschluss des ersten Asylverfahrens nicht geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) und der Kläger die Gründe für den Abschiebungsschutz schon im ersten Asylverfahren hätte geltend machen können (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Die Krankheit, auf die sich der Kläger als Abschiebungshindernis beruft, ist bei ihm schon länger gegeben. Die ersten ärztlichen Gutachten über die schizophrene Erkrankung des Klägers stammen aus dem Jahre 2000, und die Gutachten hätte der Kläger schon in dem erst im Februar 2002 abgeschlossenen ersten Asylverfahren vorbringen können.
bb) Gleichwohl ist das Verfahren auf Abschiebungsschutz zwingend wieder aufzunehmen, da ein Festhalten an der ursprünglichen ablehnenden Entscheidung des Bundesamtes über § 53 AuslG a.F. zu einem unerträglichen Ergebnis führen würde, und das Ermessen der Beklagten, ob sie das Verfahren wieder aufnimmt, auf Null reduziert ist. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in den Gründen seiner Entscheidung eine Auseinandersetzung mit § 53 AuslG a.F. nicht geführt und sich mit den Krankheitsgründen des Klägers nicht auseinandergesetzt. Die inhaltliche Würdigung seiner Krankheit ist für den Kläger aber von eminenter, ja existentieller Bedeutung. Die Berufung auf die Unanfechtbarkeit einer früheren Entscheidung zu § 53 AuslG a.F., ohne dass insoweit eine inhaltliche Sachprüfung stattgefunden hat, würde am Maßstab der Gerechtigkeit orientiert zu einer schlecht hin unerträglichen Lage für den Kläger führen, weil dieser Anspruch auf Abschiebungsschutz tatsächlich gegeben ist (GK-AsylVfG, § 71 Randnr. 214).
2. Die Beklagte ist verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich des Klägers und hinsichtlich Serbien und Montenegro einschließlich des Kosovo vorliegen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das Abschiebungshindernis setzt eine aus den besonderen Umständen des Einzelfalles sich ergebende erhebliche, individuelle konkrete Gefahr voraus. Ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Krankheit in dem Heimatstaat des Ausländers verschlimmern wird, etwa weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVWZ 1998 Seite 524). Die Gefährdungslage kann auch darin bestehen, dass der Ausländer aus besonderen individuellen Gründen nicht in der Lage ist, sich medizinisch hinreichend zu versorgen und deshalb an Seele, Leib oder Leben Schaden nehmen müsste.
Ein solcher Ausnahmefall ist in der Person des Klägers gegeben. Der Einzelrichter ist davon überzeugt, dass der Kläger an einer schizophrenen Erkrankung leidet und er bei einer Rückkehr nach Serbien, Montenegro oder in den Kosovo die für ihn notwendige medizinische Versorgung nicht sicherstellen könnte.
Der Kläger leidet an halluzinatorischer Schizophrenie. Dies ist belegt durch zahlreiche medizinische Gutachten. Wegen seiner Krankheit wurde er im Jahre 1997 für zwei Monate und dann von 1999 - 2000 drei Monate im Landeskrankenhaus Lüneburg stationär behandelt. Er nimmt Medikamente. Nach dem Nervenärztlichen Befundbericht des Dr. K. vom 15. März 2001 ist das Denken des Klägers ungeordnet, sein Verhalten ziellos, und er neigt zur Isolierung. Ziel- und Planlosigkeit treffen beim Kläger im besonderen Maße zu. Der Kläger bedarf der intensiven Hilfe und Unterstützung der Familie. Ohne Medikamente, aber auch ohne seinen festen Bezugsrahmen wird der Kläger die notwendige medikamentöse Behandlung verweigern, und eine bedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist anzunehmen. Eine zwangsweise Behandlung in einer geschlossenen Klinik würde zu einer totalen Verweigerung der Behandlung führen. Nach dem Bericht des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Lüneburg vom 12. April 2000 hat der Kläger bei einer einwöchigen Belastungsprobe zu Hause im März 2001 vereinzelt seine Medikamente nicht eingenommen, sodass er stationär ins Krankenhaus aufgenommen werden musste. Dr. K. hat in Befundberichten vom November 2003 und Juni 2005 ergänzt, dass bei einer unregelmäßigen Einnahme oder bei Weglassen der Medikamente eine sofortige Verschlechterung des Zustandsbildes mit der Gefahr einer psychischen Dekompensation befürchtet werden muss.
Die vom Kläger benötigten Medikamente sind im Kosovo zwar zu erhalten, jedoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger seine Medizin, wenn er in seinem Heimatland leben sollte, regelmäßig nimmt. Die Familie, die die Medikamenteneinnahme des Klägers sicherstellt, lebt in Deutschland und kann den Kläger in seiner ursprünglichen Heimat nicht zur Einnahme der Medizin anhalten. Die Betreuung eines vermögenslosen und auf sich alleingestellten Patienten, der allein nicht in der Lage ist, die erforderlichen Medikamenteneinnahme zu bewerkstelligen, ist im Kosovo nur in Krankenhäusern gewährleistet, ambulante Pflegedienste existieren im Kosovo nicht (Botschaftsbericht vom 03.07.2003). Es ist die Familie, die für die regelmäßige Medikamenteneinnahme Sorge tragen muss, falls kein regelmäßiger Klinikbesuch möglich ist (Auswärtiges Amt vom 06.06.2001). Konkret hinsichtlich des Klägers ist vom Zentrum des Universitätsklinikums Prishtina am 13. April 2001 (in den Verwaltungsvorgängen Blatt 36 in der Übersetzung) ausgeführt worden, dass die Behandlung des Klägers durch die Ambulanz durchgeführt werden kann, aber ohne jegliche Möglichkeit, außerhalb der Station begleitet zu werden (keine Begleitung, keine Betreuung und keine Rehabilitationsmöglichkeit). Auch der UNHCR (vom 29.09.2003 an VG Koblenz) weist darauf hin, dass die Großfamilie Schutz und Unterstützung in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht gewährt, und es erwartet wird, dass betreuungsbedürftige Personen durch den Familienverbund betreut werden. Staatliche oder gesellschaftliche Institutionen, die hier einspringen könnten, gebe es im Kosovo nicht.
Aufgrund der Gesamtsituation und der besonderen Verhältnisse im Einzelfall ist zu befürchten, dass der Kläger, wenn er in sein Heimatland zurückkehrte, infolge Verlustes von Antrieb und Zielstrebigkeit ohne seine Familie die Medikamente nicht mehr nimmt und in seelische und körperliche Verelendung verfallen würde. Das begründet seinen mit der Klage geltend gemachten Anspruch.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.