Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 08.04.2003, Az.: 13 B 4768/02

ADS-Therapie; Eignung; Jugendhilfeträger; Träger der Jugendhilfe

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
08.04.2003
Aktenzeichen
13 B 4768/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48546
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Einzelfall vorläufigen Rechtsschutzes, in dem durch einstweilige Anordnung festgestellt wird, dass der Träger der Kinder- und Jugendhilfe eine Anbieterin ambulanter Therapie für Kinder mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom wegen des Grundrechts von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG bis zur Entscheidung in der Hauptsache als geeignet behandeln muss.

Tenor:

Es wird im Wege der einstweiligen Anordnung festgestellt, dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin bis zur Entscheidung des Gerichts in dem Hauptsacheverfahren 13 A 4767/02 als geeignet für die Durchführung von Therapien von Kindern mit dem Aufmerksamkeitsdefizitssyndrom zu behandeln hat.

Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

Der nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beurteilende Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg, soweit die Antragstellerin begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, mit der Antragstellerin eine Kostenvereinbarung nach § 77 SGB VIII für eine Leistungserbringung gemäß § 35 a SGB VIII abzuschließen (Schriftsatz vom 1. April 2003). Diesem Begehren steht das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO entgegen. Dem Wesen und dem Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur auf beschränkte Zeit und unter Vorbehalt einer Entscheidung in der Hauptsache, das gewähren, was er nur im Hauptsacheverfahren erreichen kann. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das grundsätzliche Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO jedoch dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist. Dies setzt voraus, dass die ohne diese Entscheidung zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht. Letzteres ist hier nicht der Fall. Einerseits steht der Behörde bei der Frage, mit welchem Inhalt sie für ambulante Hilfen nach § 35 a SGB VIII mit einem Träger der freien Jugendhilfe eine Vereinbarung gemäß § 77 SGB VIII schließt, möglicherweise ein Entschließungsermessen zu (s. Wiesner, SGB VIII, § 77 Rn. 6). Dies kann insbesondere die Frage betreffen, welche Anforderungen der Träger der Jugendhilfe an die Eignung des Trägers der freien Hilfe stellt. Es scheint jedenfalls nicht von vorneherein fehlsam zu sein, dass die Antragsgegnerin für eine Leistungs- und Entgeltvereinbarung für Hilfeleistungen für Kinder und Jugendliche, bei denen die Voraussetzungen von § 35 a SGB VIII erfüllt sind, bei dem Anbieter eine abgeschlossene Berufsausbildung, die zu dem Gebiet der Behandlung hinführt, verlangt. Jedenfalls ist das Gericht zur Entscheidung, ob und welche Voraussetzungen für einen Anspruch auf Abschluss einer solchen Vereinbarung im Hinblick auf die Eignung des Anbieters zu stellen sind, im Falle der Klägerin auf ein Sachverständigengutachten angewiesen (Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. März 2003 - 12 ME 75/03 -). Dessen Ergebnis kann die Kammer naturgemäß im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht vorwegnehmen.

2

Hinzu kommt, dass die von der Antragstellerin begehrte generelle Zusage der Antragsgegnerin, die Kosten "ihrer" ADS-Therapien zu übernehmen, materiell nicht eine Vereinbarung nach § 77 SGB VIII voraussetzt. Das Wunsch- und Wahlrecht für eine solche Therapie ist nicht von vornherein darauf beschränkt, nur solche Einrichtungen und Dienste, mit denen die Antragsgegnerin Vereinbarungen nach § 77 SGB VIII abgeschlossen hat, in Anspruch zu nehmen (Beschluss der Kammer vom 4. Februar 2003 - 13 B 4770/02 -; bestätigt durch Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. März 2003 - 12 ME 75/03 -).

3

Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin ist allerdings entsprechend seinem Hilfsantrag in dem Umfang des Tenors begründet. Insofern hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch - den materiell-rechtlichen Anspruch auf die begehrte Leistung - und einen Anordnungsgrund - die Dringlichkeit der begehrten gerichtlichen Entscheidung - glaubhaft gemacht.

4

Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass die Antragstellerin glaubhaft vorträgt, ohne eine solche allgemeine Zusage der Antragsgegnerin, in geeigneten Fällen die Kosten der Therapie eines Kindes mit ADS bei der Antragstellerin zu übernehmen, würden keine Patienten mehr zu ihr kommen. Dies erscheint deshalb naheliegend, weil in diesem Falle die Eltern der Kinder die Kosten der Therapie aus eigenen Mitteln bezahlen oder zumindest vorstrecken müssten. Es liegt auf der Hand, dass durch das Ausbleiben von Patienten die wirtschaftliche Existenz der Antragstellerin gefährdet ist; es ist ihr nicht zumutbar, sich durch Zuwendungen ihrer Eltern auf deutlich niedrigerem Niveau als bisher "über Wasser zu halten" und dadurch für eine nicht absehbare Zeit ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit (wieder) zu verlieren.

5

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus Art. 12 Abs. 1 GG. Die Praxis der Antragsgegnerin, die Kosten einer Therapie von "ADS-Kindern" bei der Antragstellerin wegen des Fehlens einer Vereinbarung gemäß § 77 SGB VIII und des fehlenden berufsqualifizierenden Abschlusses der Antragstellerin nicht zu übernehmen, greift in das Grundrecht der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 GG ein und ist wegen Fehlens einer gesetzlichen Grundlage rechtswidrig.

6

Die Berufsfreiheit von Art. 12 Abs. 1 GG umfasst die freie unternehmerische Betätigung einschließlich des Verhaltens der Unternehmer im Wettbewerb. Diese Wettbewerbsfreiheit kann beeinträchtigt sein, wenn die öffentliche Hand durch berufs- oder wirtschaftslenkende Maßnahmen den freien Wettbewerb einschränkt oder in anderer Weise behindert. Dabei setzt die Annahme eines solchen Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht voraus, dass der Eingriff bezweckt, die Wettbewerbsfreiheit zu beschränken. Ein hoheitliches Handeln greift bereits dann in den Schutzbereich der Berufsfreiheit ein, wenn es aufgrund seiner tatsächlichen Auswirkungen die Berufsfreiheit zumindest mittelbar beeinträchtigt und es erkennbar berufsregelnde Tendenz oder eine voraussehbare oder in Kauf genommene schwerwiegende Beeinträchtigung der beruflichen Betätigungsfreiheit aufweist. So ist insbesondere in dem Ausschluss von Maßnahmen der staatlichen Wirtschaftsförderung, die ausgeschlossene Wettbewerber erheblich benachteiligen, ein Eingriff in die Berufsfreiheit gesehen worden (s. zu alledem BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1991, BVerwGE 89, 281 f. m.w.N.).

7

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe stellt die generelle Weigerung der Antragsgegnerin, die Kosten einer Therapie von "ADS-Kindern" durch die Antragstellerin zu übernehmen, einen Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerin dar. Die Antragsgegnerin nimmt der Antragstellerin dadurch wesentliche Chancen im Wettbewerb um potentielle Auftraggeber. Im Ergebnis werden Erziehungsberechtigte nur ausnahmsweise bereit sein, die Kosten einer Therapie eines Kindes bei der Antragstellerin selbst zu tragen oder vorzustrecken. Stattdessen werden sie ihr Kind bei einem Anbieter, dessen Kosten die Antragsgegnerin übernimmt, therapieren lassen. Nach Überzeugung der Kammer dient diese Praxis außer der Beratung der anfragenden Eltern von "ADS-Kindern" auf weitergehend berufsregelnden Zwecken. Mit dieser Beschränkung der Kostenübernahme auf Therapeuten mit einem berufsqualifizierenden Abschluss und einer Vereinbarung nach § 77 SGB VIII will die Antragsgegnerin auch Therapeuten, die sie ganz allgemein für ungeeignet hält, von der Beauftragung durch Eltern fernzuhalten. Außerdem betreibt die Antragsgegnerin durch diese Verfahrensweise tendenziell eine Zuteilung von Therapeuten auf "ADS-Kinder" und schränkt dadurch den freien Wettbewerb erheblich ein. Die Antragsgegnerin benennt nach ihren Angaben Eltern von "ADS-Kindern" nicht alle Anbieter von Therapien, sondern nur diejenigen, mit denen sie eine Vereinbarung gemäß § 77 SGB VIII abgeschlossen hat.

8

Die Antragstellerin, die von der Antragsgegnerin demzufolge nicht mehr als eine Anbietern von Therapien von "ADS-Kinder" benannt wird, erleidet dadurch einen Nachteil, der  hinreichend gewichtig ist, um als Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerin gewertet zu werden. Zwar ist sie "an sich" nicht an der Therapie von ADS-Kindern gehindert; der ihr aus dem Verhalten der Antragsgegnerin drohende Schaden ist aber in seiner Tragweite schwerwiegend. Aus den vorgenannten Gründen dürfte ein Großteil der Erziehungsberechtigten von "ADS-Kindern" aus finanziellen Gründen nicht (mehr) bereit sein, die Dienste der Antragstellerin in Anspruch zu nehmen.

9

Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG sind hoheitliche Eingriffe in die Berufsfreiheit nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung zulässig; diese muss Umfang und Grenzen des Eingriffs deutlich erkennen lassen (BVerwGE 82, 209, 224 [BVerwG 06.07.1989 - BVerwG 5 C 51/87]). Es fehlt eine gesetzliche Regelung, die die Antragsgegnerin ermächtigt, in der erwähnten Weise Therapeuten von "ADS-Kindern" weitgehend vom Wettbewerb vom Patienten auszuschalten und die Marktchancen im Wesentlichen nur unter Therapeuten, mit denen die Antragsgegnerin eine Vereinbarung nach § 77 SGB VIII abgeschlossen hat, zu "erteilen". Die gesetzlichen Regelungen zur Eingliederungshilfe für Kinder, die die Voraussetzungen von § 35 a SGB VIII aufweisen, erfüllen diese Voraussetzungen nicht. Zwar ist ihnen (selbstverständlich) zu entnehmen, dass die Hilfen, deren Kosten der Träger der Jugendhilfe zu übernehmen hat, geeignet sein müssen. Daraus folgt aber nicht, dass der Träger der freien Jugendhilfe, der diese Hilfe anbietet, über einen berufsqualifizierenden Abschluss verfügen muss. Dazu hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 17. März 2003 - 12 ME 77/03 - festgestellt:

10

"Es kann nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht festgestellt werden, dass die vom Antragsteller gewünschte Frau P. für eine Hilfe zur Erziehung gemäß § 35a SGB VIII nicht geeignet sein soll. Der Begriff des Therapeuten für ADS-Therapien ist durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber nicht definiert oder geschützt; ein festgelegtes Berufsbild besteht nicht. Die von der Antragsgegnerin vorgelegte Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter über das Fachkräftegebot des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (Stand: März 1995), die im November 1996 beschlossen worden ist, sieht für Eingliederungsbeihilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche folgende berufliche Voraussetzungen vor:

11

"Allgemein sind die für erzieherische und beratende Tätigkeiten zu fordernden Kompetenzen notwendig.

12

Insbesondere für die Erbringung behindertenspezifischer Leistungen geeignet sind AbsolventInnen entsprechender heilpädagogischer Ausbildungsgänge, DiplompädagogInnen und DiplompsychologInnen oder ÄrztInnen mit den erforderlichen Kompetenzen."

13

Zwar hat Frau P. keinen der dort aufgeführten Ausbildungsgänge abgeschlossen. Die Empfehlungen selbst machen aber deutlich, dass sie diese Grundberufe nur als "insbesondere für geeignet" erachten; damit wird zugleich klar, dass Leistungsanbieter mit anderen Bildungsvoraussetzungen nicht ausgeschlossen werden sollen. Unter dem Abschnitt "erforderliche Kompetenzen" wird in der Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (S. 19) weiterhin ausgeführt, dass neben Gesetzeskenntnissen gründliche sozialpädagogische Fachkenntnisse und allgemeine psychische Grundkenntnisse und für die behindertenspezifische Leistungserbringung differenzierte Kenntnisse über die verschiedenen Behinderungsarten wichtig seien. Erforderlich seien Kompetenzen für einen fachgerechten Umgang mit den Betroffenen und die Entwicklung von Eingliederungsperspektiven insbesondere in integrativen Angeboten erforderlich. Nach diesen Maßstäben kann eine Geeignetheit der vom Antragsteller gewünschten Therapeutin Frau P. nicht ausgeschlossen werden."

14

Nach Überzeugung des Gerichts gebietet es die Besonderheit des Einzelfalls, einen letztlich in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG wurzelnden "Vertrauensschutz" für die Antragstellerin bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens und der darin enthaltenen Überprüfung ihrer Eignung durch einen Gutachter zu gewährleisten. Dieser Anspruch auf "Vertrauensschutz" begründet sich insbesondere darin, dass die Antragstellerin auch ohne berufsqualifizierenden Abschluss zehn Jahre lang als Therapeutin von "ADS-Kindern" erfolgreich, jedenfalls aber unbeanstandet tätig gewesen ist und die Antragsgegnerin im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII die Kosten von Therapien bei der Antragstellerin übernommen hat. Es ist bei der Bewertung dieses Sachverhalts insbesondere und maßgeblich in den Blick zu nehmen, dass die Antragstellerin in diesem Zeitraum von sachverständigen Stellen - wie dem Sozialpädiatrischen Zentrum der Diakonie in Oldenburg - regelmäßig als besonders geeignet für die Therapie von ADS-Kindern empfohlen worden ist. Hierzu führt der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. März 2003 - 12 ME 77/03 - weiter aus:

15

"Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Frau P. nach ihren eigenen Angaben (Bl. 175 ff und Bl. 187 ff. der beigezogenen GA des VG 13 A 4767/02) zehn Semester Humanmedizin studiert und ihr Hauptstudium in Psychologie mit der Gesamtnote "sehr gut" abgeschlossen hat und bereits seit über zehn Jahren in dem Bereich der Kinder- und Jugendtherapie tätig ist. In der Vergangenheit hat sie nach ihren eigenen Angaben bislang etwa 160 Kinder mit diagnostiziertem ADS-Syndrom weitgehend erfolgreich betreut und diese ambulanten therapeutischen Leistungen u.a. auch mit dem Jugendamt der Antragsgegnerin abgerechnet. Demgegenüber hat die Antragsgegnerin nicht dezidiert dargelegt, warum sie Bedenken gegen eine - außerhalb der in en Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft aufgenommenen Grundberufe erworbene - hinreichende Qualifikation im Hinblick auf die Erfahrungen der Therapeutin Frau P. und ihrer jahrelangen Zusammenarbeit mit der Antragsgegnerin habe. Allerdings kann Frau P. spezifische Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen und eine Mitgliedschaft in Berufsverbänden nicht vorweisen. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, muss deshalb eine Überprüfung der Eignung der Therapeutin Frau P. ggf. durch einen Sachverständigen wegen der Dringlichkeit dieses Eilverfahrens dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Einstweilen hat der Senat nach der hier gebotenen summarischen Prüfung keine Bedenken, dass der Bedarf des Antragstellers an Eingliederungshilfe durch Übernahme angemessener Kosten der Therapie auch durch Frau P. gedeckt werden kann.

16

Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Hinblick auf § 72 Abs. 1 SGB VIII, der zwar nur die Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, indirekt aber auch die Praxis der freien Jugendhilfe bestimmt, da bei der Kostenübernahme aufgrund einer Inanspruchnahme von Einrichtungen der freien Jugendhilfe im Einzelfall (§ /7 SGB VIII) von gleichwertigen Standards ausgegangen wird (Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2000, § 72 Rn. 15). Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe hauptberuflich nur Personen beschäftigen, die sich für die jeweilige Aufgabe nach ihrer Persönlichkeit eignen und eine dieser Aufgabe entsprechende Ausbildung haben (Fachkräfte) oder aufgrund besonderer Erfahrungen in der sozialen Arbeit in der Lage sind, die Aufgabe zu erfüllen. Danach ist zwar der Einsatz von Fachkräften der Regelfall, besondere Erfahrungen in der Sozialarbeit, aufgrund derer Kenntnisse erworben worden sind, die solchen aus einer entsprechenden fachlichen Ausbildung zumindest vergleichbar sind, erfüllen diese Ansprüche jedoch auch (Wiesner u.a., a.a.O., Rn. 10). Die oben ausgeführten therapeutischen Erfahrungen der Frau P. lassen sie auch nach diesem Maßstab nicht von vornherein als ungeeignet für die Arbeit als Therapeutin erscheinen."

17

Bei diesen Erwägungen verkennt das Gericht nicht, dass die Antragsgegnerin als Trägerin der Jugendhilfe die Aufgabe hat, "Scharlatane" von Therapien im Schutzbereich von § 35 a SGB VIII fernzuhalten. Dies berechtigt sie aber nicht dazu, die Grundrechte von Therapeuten, die den tatsächlichen Bedarf von Kindern an Eingliederungshilfe - wie die Antragstellerin - decken können, einzuschränken. § 35 a SGB VIII ist im übrigen auch zu unbestimmt, um in die Berufsfreiheit von möglicherweise geeigneten Therapeuten einzugreifen. Diese Vorschrift lässt den Inhalt und die Grenzen eines solchen Eingriffs nicht erkennen. Geringere Anforderungen an die Bestimmtheit lassen sich nicht aus den Erwägungen herleiten, mit denen das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise die allgemeine polizeiliche Aufgabennorm als hinreichende gesetzliche Grundlage für den Eingriff, der in einer polizeilichen Sammlung von Informationen und Erkenntnissen liegen kann, angesehen hat (BVerwG, Urteile vom 20. Februar 1990 - 1 C 29.86 und 1 C 30.86 - Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 46 und 47). Ein entsprechend herkömmliches Verständnis ist für den hier zu beurteilenden Fall, dass die Antragsgegnerin eine Therapeutin langjährig als geeignet angesehen hat und demzufolge die Kosten von Therapien bei ihr übernommen hat, nunmehr aber durch eine Änderung ihrer Verwaltungspraxis diese Therapeutin wegen eines fehlenden berufsqualifizierenden Abschlusses nicht mehr berücksichtigen will, gerade nicht vorhanden. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei klargestellt, dass auf der Grundlage von § 35 a SGB VIII nicht "jeder" als geeigneter Träger von Hilfemaßnahmen angesehen werden darf.

18

Da der Antragstellerin vorläufiger Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO bereits im Hinblick auf ihre Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu gewähren ist, braucht nicht vertieft zu werden, dass ihr Begehren möglicherweise auch durch Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt wäre. Es sprechen beachtliche Gesichtspunkte dafür, dass es vor der Feststellung der mangelnden Eignung der Antragstellerin für die Tätigkeit einer Therapeutin von "ADS-Kindern" sachlich nicht gerechtfertigt ist, sie von dem "Markt" der durch die Antragsgegnerin aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe finanzierten Therapien fernzuhalten. Weder macht die Antragsgegnerin geltend, dass diese Tätigkeit der Antragstellerin nunmehr konkret zu beanstanden sei, noch ist die Antragsgegnerin berechtigt, das Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 5 SGB VIII für die Eltern von "ADS-Kindern" auf Therapeuten, mit denen die Antragsgegnerin eine Vereinbarung für die ambulante Behandlung von Kindern im Bereich von § 35 a SGB VIII abgeschlossen hat, zu beschränken. Nach dem Kenntnisstand des Gerichtes aus diesem Verfahren sowie aus dem Hauptsacheverfahren 13 A 4867/02 sieht die Antragsgegnerin bei unveränderter Sachlage lediglich die Antragstellerin aus dem Kreis der Anbieter solcher ambulanten Therapien als nunmehr ungeeignet an. Möglicherweise ist dies mit einem auch durch Art. 3 Abs. 1 GG gewährleisteten Vertrauensschutz der Antragstellerin jedenfalls bis zur erstinstanzlichen Entscheidung des Rechtsstreits in der Hauptsache nicht vereinbar (vgl. hierzu auch OVG Hamburg, Beschluss vom 23. Juni 1999 - 5 BS 118/99 -, NJW 1999, 2754; durch diesen Beschluss wurde abweichend von den Übergangsregelungen des PsychThG eine vorläufige Probation einer Psychotherapeutin ausgesprochen).

19

Um die Rechte der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 GG zu gewährleisten, ist die im Tenor getroffene einstweilige Anordnung erforderlich und ausreichend. Insbesondere nimmt sie nicht die Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache vorweg. Mit ihr ist weder die Feststellung verbunden, dass die Antragstellerin auf Dauer für die Therapie von "ADS-Kindern" geeignet ist, noch wird die Antragsgegnerin verpflichtet, mit der Antragstellerin eine Vereinbarung nach § 77 SGB VIII abzuschließen. Insofern steht die Entscheidung einer einstweiligen Anordnung gleich, durch die der Behörde bei einem Streit über die Versetzung eines Schülers in die nächsthöhere Klasse aufgegeben wird, den Schüler bis auf weiteres am Unterricht der Klasse teilnehmen zu lassen, was unstreitig eine einstweilige Anordnung ohne Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache darstellt (s. Kopp/Schenke, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Auflage 2003, § 123 Rz. 13). Freilich verkennt das Gericht nicht, dass seine Entscheidung Elemente des Begehrens der Antragstellerin in der Hauptsache für den Zeitraum der ersten Instanz im Klageverfahren vorwegnimmt. Eine solche Entscheidung ist im Rahmen eines Verfahrens gemäß § 123 Abs. 1 VwGO indes weder generell ausgeschlossen noch hier vermeidbar. Die im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes für die Antragstellerin gemäß Art. 19 Abs. 4 GG vorzunehmende Folgenabwägung ergibt, dass ihre rechtlich geschützten Interessen an einer einstweiligen Regelung wie durch diesen Beschluss gegenüber den entgegenstehenden öffentlichen Interessen Vorrang genießen müssen. Denn die wirtschaftliche Existenz der Antragstellerin ist ernstlich bedroht, wenn sie nicht vorläufig als geeignet für die Durchführung von Therapien mit ADS-Kindern gelten muss. Es besteht die Gefahr, dass für den Fall eines Erfolgs ihres Begehrens in der Hauptsache sie ohne den hier gewährten vorläufigen Rechtsschutz zu lange nicht als Therapeutin, deren Arbeit aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe gleichsam bezahlt wird, in Erscheinung tritt und mithin große Schwierigkeiten haben wird, dann wieder in diesem Markt chancenreich konkurrieren zu können. Vorrangige öffentliche Interessen, die selbst unter Berücksichtigung eines Obsiegens der Antragstellerin im Klageverfahren das Versagen vorläufigen Rechtsschutzes rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Wird die Klägerin als Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache nicht als geeignete Therapeutin gelten und kann sie bis zu diesem Zeitpunkt gleichwohl "ADS-Kinder" therapieren, sind angesichts der dargelegten schwerwiegenden Folgen für die Antragstellerin auch unter Berücksichtigung dieser Möglichkeit nicht überwiegende öffentliche Interessen ersichtlich, die dem von der Kammer gewährten vorläufigen Rechtsschutz entgegenstehen. Bezüglich des Schutzes der "ADS-Kinder" vor unqualifizierten Therapeuten ergibt sich dies aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin trotz mehrfacher Nachfrage in beiden Instanzen des Verfahrens zu 13 B 4770/02 / 12 ME 75/03 konkrete Mängel der therapeutischen Tätigkeit der Antragstellerin nicht dargetan oder gar belegt hat.

20

Zur Vermeidung von Missverständnissen weist die Kammer darauf hin, dass diese Entscheidung nicht den Grundsatz, dass ein Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe allein dem jeweiligen Hilfeempfänger zusteht, berührt (s. beispielsweise Beschluss der Kammer vom 24. April 2002 - 13 B 930/02 -, bestätigt durch Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 29. Mai 2002 - 12 ME 431/02 -). Die Antragsgegnerin wird durch die einstweilige Anordnung gerade nicht verpflichtet, einen eigenständigen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe für die Antragstellerin anzuerkennen. Die getroffene Regelung soll lediglich Wettbewerbsnachteile der Antragstellerin für die Zeit bis zur Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache verhindern.