Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 27.06.2007, Az.: L 6 AS 444/07 ER
Persönlicher Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); Ausschluss von erstmalig in der Bundesrepublik Deutschland Arbeit suchenden EU-Bürgern von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.06.2007
- Aktenzeichen
- L 6 AS 444/07 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 37131
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0627.L6AS444.07ER.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- SG Hannover - 27.06.2007 - AZ: S 45 AS 1216/07 ER
Rechtsgrundlage
- § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II
Redaktioneller Leitsatz
§ 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist EU-richtlinienkonform dahin auszulegen, dass von der Regelung nur diejenigen Ausländer betroffen sind, die erstmals in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und dort unmittelbar mit dem Zuzug Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Mit dem Anspruchssausschluss hat der deutsche Gesetzgeber die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates umgesetzt. In den Gründen zu dieser Richtlinie heißt es, dass Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen sollen.
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 27. Juni 2007 wird aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren verpflichtet, diesem zur Sicherung des Lebensunterhalts folgende Leistungen zu gewähren:
Vom 18. Juni 2007 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum 30. November 2007 die Regelleistung für Alleinstehende abzüglich der bereits erbrachten Leistung in Höhe von 30,- EUR (Lebensmittelgutschein vom 25. Juni 2007). Vom 1. August 2007 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens bis zum 30. November 2007 Kosten der Unterkunft in Höhe von kalendertäglich 9,90 EUR.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beider Rechtszüge.
Gründe
I.
Der 1967 geborene Antragsteller ist spanischer Staatsangehöriger. Er ist in B. geboren und in C. aufgewachsen. Er hat eine 23jährige Tochter, die in C. lebt, außerdem weitere Verwandte in D ... Nach seinen Angaben im Verwaltungsverfahren hat er in der Bundesrepublik Deutschland bei der Deutschen Bundespost gearbeitet. Er hat bei der Deutschen Rentenversicherung einen Rentenantrag gestellt, aufgrund dessen ausweislich des Beratungsvermerks der Antragsgegnerin vom 31. Mai 2007 der ärztliche Dienst der Deutschen Rentenversicherung eingeschaltet wurde.
Im Mai 2007 reiste der Antragsteller in das Bundesgebiet ein, nachdem er zuvor mehrere Jahre in Spanien gearbeitet hatte (Angaben des Antragstellers vom 7. Juni 2007, Aktenvermerk vom 15. Juni 2007). Ab dem 29. Mai 2007 wohnt er im E. C ... . Am selben Tag beantragte er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II. Ausweislich der Bescheinigung der Landeshauptstadt C. vom 15. Juni 2007 ist er freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger, weil er glaubhaft gemacht habe, dass er noch nicht mehr als 6 Monate auf Arbeitssuche sei. Mit Bescheid vom 15. Juni 2007 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit der Begründung ab, der Antragsteller sei ausschließlich zum Zwecke der Arbeitssuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und habe deshalb nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen.
Dagegen hat der Antragsteller Widerspruch eingelegt und am 18. Juni 2007 bei dem Sozialgericht (SG) Hannover die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Er sei nicht nur zur Arbeitssuche eingereist, sondern weil er mit seiner Familie zusammen leben wolle. Er habe keinerlei Einkommen. Die von der Antragsgegnerin erhaltenen Vorschüsse (2 x 100,- EUR) seien aufgebraucht. Während des Verfahrens vor dem SG hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller am 25. Juni 2007 einen Lebensmittelgutschein in Höhe von 30,- EUR ausgehändigt.
Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 27. Juni 2007 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II abgelehnt.
Gegen diesen am 7. Juli 2007 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 10. Juli 2007 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Die Antragsgegnerin ist im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erbringen. Nach § 86 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (dh ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) und ein Anordnungsgrund (dh eine Eilbedürftigkeit des Verfahrens) gegeben sind. Vorliegend liegt eine Eilbedürftigkeit für die begehrte vorläufige Regelung vor. Denn der Antragsteller verfügt nicht über die finanziellen Mittel zur Sicherung seiner Existenz. Ein Anordnungsanspruch ist ebenfalls gegeben. Neben der Hilfebedürftigkeit liegen auch die weiteren Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§§ 19 Satz 1 i.V.m. 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) vor: Der Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet. Mangels abweichender Feststellungen der Antragsgegnerin (§§ 8 Abs. 1 i.V.m. 44 a Abs. 1 Satz 1 SGB II) hat der Senat von der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers auszugehen. Diesem ist es auch entsprechend den Anforderungen des § 8 Abs. 2 SGB II erlaubt, eine Beschäftigung aufzunehmen. Denn als Unionsbürger spanischer Staatsangehörigkeit ist er gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt und benötigt keine Arbeitsgenehmigung nach § 284 Abs. 1 SGB III (§§ 2 Abs. 2, 13 Freizügigkeitsgesetz/EU). Angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen ist und familiäre Bindungen bestehen, geht der Senat auch davon aus, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt (wieder) in der Bundesrepublik Deutschland hat.
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin steht § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II einem Anspruch nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift sind von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Es kann dahinstehen, ob der Ausschluss von arbeitsuchenden Unionsbürgern überhaupt mit dem EU-Recht vereinbar ist (vgl dazu LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25. April 2007 L 19 B 116/07 AS ER; Brühl/Schoch in: LPK SGB II 2. Auflage § 7 Rdnrn 19 und 27; Valgolio in: Hauck/Noftz SGB II § 7 Rdnr 30, Winkel, Soziale Sicherheit 3/2006, S 103, 104, Schreiber, ZESAR 11-12/2006, S 423, 430).
Denn der Antragsteller gehört nicht zu dem Personenkreis, der gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen werden soll. Mit der Neufassung des Satz 2 hat der Gesetzgeber Artikel 24 Abs. 2 i.V.m. Artikel 14 Abs. 4 b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 umgesetzt (BT-Drs 16/688 S 13). Nach Artikel 24 Abs. 2 der Richtlinie ist der Aufnahmestaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt und ihren Familienangehörigen während der ersten 3 Monate des Aufenthalts (oder gegebenenfalls während des längeren Aufenthalts nach Artikel 14 Abs. 4 b) einen Anspruch u.a. auf Sozialhilfe zu gewähren. In den Gründen zu der Richtlinie 2004/38/EG heißt es, dass Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen sollen (vgl Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. April 2004, L 158/77ff., 81 Rdnr 10). Hiervon ausgehend ist der Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II richtlinienkonform dahin auszulegen, dass von der Regelung nur diejenigen Ausländer betroffen sind, die erstmals in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und dort unmittelbar mit dem Zuzug Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Diese Auslegung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, der in der Begründung ebenfalls nur einen Leistungsausschluss derjenigen EU-Bürger annahm, die erstmals in der Bundesrepublik Deutschland Arbeit suchen ("Auch die Familienangehörigen eines erstmals in Deutschland arbeitsuchenden EU-Bürgers sind dann vom Bezug von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen"; vgl. auch SG Osnabrück Beschluss vom 27. April 2006 - S 22 AS 263/06 ER - rechtskräftig). Diese Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Denn der Antragsteller hat nicht zum ersten Mal in einem anderen Mitgliedsland Arbeit gesucht, sondern ist nach einem längeren Aufenthalt in das Mitgliedsland zurückgekehrt, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Er hat auch bereits vor der erneuten Einreise im Bundesgebiet gearbeitet und offenbar ausreichende Rentenanwartschaften erworben, da der Rentenversicherer eine Überprüfung des Rentenanspruchs auf medizinischem Gebiet vornimmt.
Da der Antragsteller seit dem Zeitpunkt des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes über keine finanziellen Mittel verfügt, ist seinem Begehren hinsichtlich der Regelleistung ab diesem Zeitpunkt zu entsprechen. Der Wert des nach Antragseingang erhaltenen Lebensmittelgutscheins vom 25. Juni 2007 (30 EUR) ist von der Regelleistung abzuziehen. Hinsichtlich der Mietkosten für den Zeitraum vom 29. Mai bis 31. Juli 2007 hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass ihm insoweit Kosten der Unterkunft entstanden sind. Vielmehr konnte er nach seinen Angaben im Beschwerdeverfahren bis zum 31. Juli 2007 in dem Wohnheim wohnen, ohne Miete zu zahlen. Die Verpflichtung über einen Zeitraum bis November 2007 entspricht der gesetzlichen Regelung des § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).