Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 20.06.2007, Az.: L 4 KR 153/05
Versorgung mit einer beidseitigen Mamma-Reduktionsplastik im Wege der Sachleistung durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV); Begriff der Krankheit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 20.06.2007
- Aktenzeichen
- L 4 KR 153/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 49829
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0620.L4KR153.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 19.03.2004 - AZ: S 6 KR 1126/03
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs. 1 SGB V
- § 12 Abs. 1 SGB V
- § 27 Abs. 1 SGB V
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 19. März 2004 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Versorgung der Klägerin mit einer beidseitigen Mamma-Reduktionsplastik im Wege der Sachleistung.
Die im Mai 1949 geborene Klägerin ist gelernte Krankenschwester und war bis zur Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit als Altenpflegerin tätig. Am 21. Mai 2002 bescheinigte die die Klägerin behandelnde Orthopädin Dr. C., dass bei dieser deutlich vergrößerte Mammae mit begleitendem chronischen Brustwirbelsäulen-(BWS-) Syndrom festzustellen seien. Infolge dessen sei eine beidseitige Reduktionsplastik beider Brüste erforderlich. Die Beklagte veranlasste eine Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN). Dr. D. erläuterte mit Datum vom 27. Juni 2002, dass unter Berücksichtigung der Befunde eine medizinische Notwendigkeit für die vorgesehene Operation nicht bestehe. Die Klägerin wiege bei einer Körpergröße von 159 cm 93 kg. In erster Linie sei eine Reduzierung des Körpergewichts erforderlich.
Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 25. Juli 2002 die Übernahme der Kosten für die operative Reduktion der Brüste der Klägerin ab. Mit ihrem Widerspruch vom 10. August 2002 (eingegangen 14. August 2002) machte die Klägerin geltend, sie wolle zur Reduzierung ihres Körpergewichtes gerne Sport treiben, traue sich aber nirgendwo hin. Sie legte ferner einen Bericht der Senologin Dr. E. vom Städtischen Klinikum Braunschweig vom 29. November 2002 vor. Darin hieß es, die Klägerin wiege bei einer Größe von 162 cm 93 kg. Die BH-Träger seien tief eingeschnitten und im Bereich der Unterbrustfalte seien gerötete Hautabschnitte im Sinne von zur Zeit eher leichten intertriginösen Symptomen auszumachen. Die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und der Brustwirbelsäule seien bei stark vergrößerten Brüsten, wie sei bei der Klägerin festzustellen seien, typisch. Vor diesem Hintergrund sei eine Gewichtsreduktion wünschenswert, würde aber an der Größe der Brüste wenig ändern. Eine Indikation für eine Mammareduktion sei als dringend zu erachten.
Demgegenüber gelangte Dr. F. in seinem für den MDKN gefertigten Gutachten vom 13. März 2003 zu dem Ergebnis, dass eine operative Reduktion der Mammae der Klägerin kontraindiziert sei. Bei dem hohen Körpergewicht der Klägerin bestehe die Gefahr postoperativer Komplikationen durch Wundheilungsstörungen. Vor einer Operation sei eine deutliche Verringerung des Körpergewichts durchzuführen. Die Gewichtsreduktion sei auch notwendig, um ein ästhetisches Gelingen des Eingriffs möglich zu machen. Operiere man die Versicherte jetzt und reduziere sie ihr Gewicht weiter, würden auch die reduzierten Mammae ptotisch und es werde eine erneute Operation erforderlich. Das sei medizinisch unsinnig und unwirtschaftlich und auch im Interesse der Versicherten unbedingt zu vermeiden. Nach seiner Einschätzung sei ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Größe der Brüste der Klägerin und den Wirbelsäulenveränderungen nicht gegeben. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 25. März 2003 die beantragte Leistung erneut ab.
Bei den Akten der Beklagten findet sich ein Attest des Neurologen und Psychiaters G. vom 10. April 2003, wonach bei der Klägerin eine ernst zu nehmende depressive Störung bestehe, die eine Operation notwendig mache. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 18. Juni 2003 zurück.
Mit ihrer am 18. Juli 2003 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, dass die operative Reduzierung ihrer Brüste nach Ansicht der sie behandelnden Ärzte medizinisch erforderlich sei. Das Sozialgericht (SG) Hannover hat Befundberichte des Neurologen und Psychiaters G. vom 26. September 2003 und der Orthopädin Dr. C. vom 29. September 2003 beigezogen und ein Gutachten des Sachverständigen Dr. H. (Sozialmediziner und Chirurg) vom 29. Januar 2004 eingeholt. Der Sachverständige gab an, die Klägerin habe inzwischen 10 kg abgenommen und wiege nunmehr bei einer Körpergröße von 161 cm 84,4 kg. Bei seiner Untersuchung konnte er Hautveränderungen unterhalb der Brüste nicht feststellen, hielt es allerdings angesichts des Befundes für wahrscheinlich, dass solche Erscheinungen langfristig auftreten könnten. Bisher seien die Hautveränderungen durch lokale Behandlungen zu beseitigen gewesen. Eine Reduktion der Brüste sei nicht kontraindiziert, berge aber die Gefahr postoperativer Komplikationen durch Wundheilungsstörungen.
Das SG Hannover hat der Klage durch Urteil vom 19. März 2004 stattgegeben. Die operative Reduktion der Brüste der Klägerin sei wegen ihrer orthopädischen Leiden medizinisch erforderlich. Es sei nicht erforderlich, dass eine medizinisch notwendige Leistung sicher oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führe.
Gegen dieses ihr am 29. März 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27. April 2004 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass das SG das Gutachten des Sachverständigen Dr. H. unrichtig ausgewertet habe. Dem Gutachten könne nicht entnommen werden, dass ein Zusammenhang zwischen der Größe der Brüste der Klägerin und ihren Wirbelsäulenbeschwerden bestehe. Ein krankhaftes Geschehen sei im Bereich der Brüste nicht gegeben. Im übrigen habe der Sachverständige lediglich die Möglichkeit eines Behandlungserfolges durch die Brustoperation in Aussicht stellen können. Behandlungen, deren Erfolg eher zweifelhaft sei, habe die gesetzliche Krankenversicherung nicht zur Verfügung zu stellen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 19. März 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für rechtmäßig. Die Gutachten hätten bestätigt, dass ihre HWS- und BWS-Beschwerden mit der Größe ihrer Brüste in Zusammenhang ständen. Die Beklagte habe daher die Kosten für eine Reduktionsplastik beidseits zu übernehmen.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes Befundberichte von Prof Dr Dr I. vom 13. Juli 2005 und Dr C. vom 24. Juli 2005 angefordert und ein Gutachten des Arztes für Frauenheilkunde Dr. J. vom 24. November 2005 eingeholt. Er hat bei einer Körpergröße der Klägerin von 160 cm ein Gewicht von 87 kg festgestellt. Das entspreche einem Body-Maß-Index von 34,0. Im Bereich der Submamarfalte finde sich ein schmales intertriginöses Ekzem und die BH-Träger seien beidseits tief eingeschnitten. Die Brüste bedingten Behinderungen beim Laufen und bei gymnastischen Übungen und beeinflussten den orthopädischen Befund im Bereich von HWS und BWS ungünstig. Auch seien psychische Beeinträchtigungen gegeben. Die geplante Operation könne nach den bestehenden medizinischen Erkenntnissen die Beschwerden in HWS und BWS bessern. Allerdings werde die Erfolgsprognose durch das Übergewicht der Klägerin eindeutig negativ beeinflusst, weil es zu Störungen in der Wundheilung kommen könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 143 und § 144 Abs. 1 Ziffer 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgelegt eingelegt worden, mithin zulässig.
Nach § 27 Abs. 1 Sozialgesetzbuch -Fünftes Buch- (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach dieser Vorschrift setzt die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung eine "Krankheit" voraus. Damit wird nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand umschrieben, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (vgl. Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 19. Oktober 2004, AZ: B 1 KR 3/03 R mit weiteren Nachweisen). Soweit § 33 Abs. 1 SGB V eine "Behinderung" bzw. eine "drohende Behinderung" genügen lasse, um in Verbindung mit § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V einen Anspruch auf Krankenbehandlung auszulösen, sei nichts wesentlich anderes gemeint; es werde lediglich ein anderer Akzent gesetzt. Indem § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V neben der Heilung ausdrücklich auch die Linderung von Krankheitsbeschwerden zu den möglichen Zielen einer Krankenbehandlung zähle, mache das Gesetz keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Krankheiten im engeren Sinne, bei denen die Betonung auf dem regelmäßig nur vorübergehenden Charakter einer als überwindbar angesehenen Gesundheitsbeeinträchtigung liege, und Behinderungen, die als weitgehend unabänderlich vor allem unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs für eine dauerhaft regelwidrige Körperfunktion die Leistungspflicht begründen könnten (vgl. BSG a.a.O.).
Der erkennende Senat vermag sich nicht die Überzeugung davon zu bilden, dass die von der Klägerin begehrte beidseitige Mamma-Reduktionsplastik unter Berücksichtigung der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit der in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringenden Leistungen (§ 12 Abs. 1 SGB V) und der Eigenverantwortung der Versicherten (§ 2 Abs. 1 SGB V) von der Beklagten zur Verfügung zu stellen ist. Keiner der medizinischen Gutachter und Sachverständigen hat eine Erkrankung im Bereich der Brüste der Klägerin feststellen können. Der vom Senat als Sachverständiger bestellte Dr. J. hat in seinem Gutachten vom 24. November 2005 im einzelnen dargestellt, dass die Brüste der Klägerin organisch als gesund zu betrachten sind. Er hat diese Feststellung auch auf die Befunderhebung mittels Mammographie stützen können. Die Beschaffenheit der Brüste selbst geben deshalb keine Veranlassung für den erstrebten operativen Eingriff.
Die medizinische Notwendigkeit für den Eingriff lässt sich auch nicht unter Berücksichtigung dermatologischer Gesichtspunkte rechtfertigen. Zwar haben Dr. E. in ihrem Bericht vom 29. November 2002 und auch der Sachverständige Dr. J. in seinem Gutachten vom 24. November 2005 diskrete intertriginöse Symptome im Bereich der Submamarfalten beschrieben. Sie erreichen aber offenbar kein Ausmaß, das sich nicht durch anderweitige Behandlung therapieren ließe. Diese Schlussfolgerung stützt der Senat darauf, dass der Sachverständige Dr. H. bei seiner Untersuchung der Klägerin am 23. Januar 2004 derartige Hautveränderungen nicht feststellen konnte.
Die zahlreichen medizinischen Berichte, Stellungnahmen und Gutachten machen deutlich, dass bei der Klägerin im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates degenerative Veränderungen bestehen, die zu entsprechenden Beschwerden führen. Dr. H. hat in diesem Zusammenhang unter Hinweis auf wissenschaftliche Veröffentlichungen dargelegt, dass der Zusammenhang zwischen Wirbelsäulenbeschwerden und der Größe der weiblichen Brust kontrovers beurteilt werde. Dies gelte vor allem dann, wenn bei der Frau - wie hier auch bei der Klägerin - insgesamt ein erhebliches Übergewicht bestehe. Eine Brustreduktion könne möglicherweise zu einer Linderung von Wirbelsäulenbeschwerden im Schulter-Nacken-Bereich führen; bei 75% normalgewichtiger Frauen sei dies wahrscheinlich, bei übergewichtigen Frauen wie der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit geringer, ohne dass dieses Ausmaß zahlenmäßig fassbar gemacht werden könne.
Ähnliche Schlussfolgerungen zieht auch der Sachverständige Dr. J ... Beide Sachverständige haben auch zur Darstellung gebracht, dass die Wirbelsäulenbeschwerden einer umfangreichen weiteren Behandlung durch physikalische, medikamentöse und krankengymnastische Maßnahmen bedürfen. Wenn bedacht wird, dass der Eingriff unter Berücksichtigung des Übergewichts der Klägerin mit einem erhöhten Risiko von Wundheilungsstörungen verbunden und der erstrebte Erfolg eher vage zu beurteilen ist, hält der Senat einen Anspruch auf die erstrebte operative Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht für gegeben. Er lässt sich dabei auch davon leiten, dass die Klägerin in der Zeit vom 6. Mai 1996 bis 27. Juni 1996 in der Klinik K. eine Rehabilitationsmaßnahme bezogen auf ihre Beschwerden im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates durchlaufen hat, die ausweislich des Kurentlassungsberichts zu positiven Ergebnissen geführt hatte. Die dort durchgeführten krankengymnastischen Übungen hat sie damals gut vertragen und es ist nicht zur Darstellung gelangt, dass die Beschaffenheit der Brüste der Klägerin die Durchführung dieser Übungen behindert hätten. Das relativiert die Darstellung, dass die Beschaffenheit der Brüste der Klägerin diese an der Durchführung entsprechender Maßnahme hindern.
Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass die durch den BH der Klägerin verursachten Einschnürungen im Schulterbereich die medizinische Notwendigkeit für eine operative Verkleinerung der Brüste zu begründen vermögen. Insoweit ist nicht ersichtlich, dass die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten durch Tragen von Spezial-BH's bereits ausgeschöpft wurden.
Die von dem Neurologen und Psychiater G. mit Datum vom 10. April 2003 attestierte ernstzunehmende depressive Störung mit gestörtem Selbstwertgefühl und Rückzugstendenzen löst einen Anspruch auf eine operative Verkleinerung der Brüste der Klägerin ebenfalls nicht aus. Der erkennende Senat hat wiederholt entschieden, dass die Krankenkasse lediglich in den Fällen zur Leistung verpflichtet ist, in denen die Krankenbehandlung unmittelbar an der eigentlichen Krankheit ansetzt. Liegt eine psychische Störung vor, so ist sie mit Mitteln der Psychiatrie oder Psychotherapie zu behandeln. Die Leistungspflicht der Krankenkasse umfasst grundsätzlich nicht die Kosten für operative Eingriffe in einen regelrechten Körperzustand, um auf diesem Wege eine psychische Störung zu beheben oder zu lindern (vgl. Senatsurteil vom 12. Juli 2000, AZ: L 4 KR 193/99 mit weiteren Nachweisen). Diese Auffassung entspricht höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004, AZ: B 1 KR 9/04 R, veröffentlicht auf der Internetseite des BSG).
Ferner hat sich der Senat bei Inaugenscheinnahme der Klägerin nicht die Überzeugung zu bilden vermocht, dass die Beschaffenheit der Brüste der Klägerin entstellende Wirkung hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.