Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.11.2005, Az.: 9 ME 178/05

Anbaustraße; natürliche Betrachtungsweise; selbständige Anbaustraße; Straßenausbaubeitrag; unselbständige Zufahrt; Wendeplatz; Zufahrt

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.11.2005
Aktenzeichen
9 ME 178/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50806
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 03.05.2005 - AZ: 1 B 15/05

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Straßenausbaubeitrag

Abgrenzung zwischen unselbständiger Stichstraße und selbständiger Anbaustraße

Gründe

1

Die von der Antragsgegnerin erhobene Beschwerde hat Erfolg.

2

Die Antragsgegnerin wendet sich gegen die vom Verwaltungsgericht angeordnete aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Straßenbaubeitragsbescheid vom 2. Juni 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Januar 2005, mit dem die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu einem Straßenausbaubeitrag für das Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 120/20, 120/22, 120/23, 120/25 der Flur 3, Gemarkung C. über insgesamt 29.487,50 € herangezogen hat. Ursprünglich hatte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 2. Juni 2004 einen Straßenausbaubeitrag in Höhe von 25.377,37 € gegen die Antragstellerin festgesetzt. Nach Einlegung des Widerspruchs hiergegen erhöhte die Antragsgegnerin den festgesetzten Straßenausbaubeitrag im Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2005 unter Berücksichtigung geänderter Berechnungsgrundlagen auf 29.487,50 €. Nur gegen diese Erhöhung um 4.110,13 € erhob die Klägerin am 15. Februar 2005 Klage vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück (1 A 125/05) und suchte am 23. März 2005 insoweit um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach. Mit Beschluss vom 3. Mai 2005 entsprach das Verwaltungsgericht Osnabrück diesem Antrag.

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Die Beschwerde ist begründet. Der Anordnung der aufschiebenden Wirkung in der Höhe des Teilbetrags von 4.110,13 € steht entgegen, dass sich der angefochtene Bescheid vom 2. Juni 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 13. Januar 2005 bei summarischer Prüfung als rechtmäßig erweist. Denn die sachliche Beitragspflicht für das Grundstück der Antragstellerin ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts erst nach der Bekanntmachung der Änderungssatzung vom 2. November 2004 (Abl. Bez.-Reg. Weser - Ems Nr. D. vom 3.12.2004) entstanden. Der Senat folgt dem Verwaltungsgericht nicht in der Einschätzung, bei der in die abgerechnete „E. -Straße“ einmündenden „F. -Straße“ handele es sich um eine selbständige Straße mit der Folge, dass die sachliche Beitragspflicht für die „E. -Straße“ schon zuvor entstanden sei.

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Für die Beantwortung der Frage, ob im Einzelfall eine befahrbare Verkehrsanlage als (nur) mehr oder weniger große unselbständige Zufahrt oder als (schon) selbständige Anbaustraße zu qualifizieren ist, ist nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 9.11.1984 - 8 C 77.83 - BVerwGE 70, 247 = NVwZ 1984, 346 = DVBl 1985, 297; vom 25.1.1985 - 8 C 106.83 - DVBl 1985, 621 = Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 59 = NVwZ 1985, 753; vom 23.6.1995 - 8 C 30.93 - KStZ 1996, 112 = ZMR 1995, 557; u. vom 16.9.1998 - 8 C 8. 97 - Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 109 = DVBl 1999, 395 = KStZ 1999, 154 = NVwZ 1999, 997 = ZMR 1999, 68), der sich der Senat angeschlossen hat (z.B. Urt. vom 24.6.1998 - 9 L 3557/96 - ; Beschlüsse vom 24.6.1999 - 9 M 5308/98 - u. vom 1.12.2004 - 9 ME 92/04 - ), ausschlaggebend abzustellen auf den Gesamteindruck, den die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter von der zu beurteilenden Anlage vermitteln. In diesem Zusammenhang kommt neben der Ausdehnung der Anlage und der Zahl der durch sie erschlossenen Grundstücke vor allem dem Maße der Abhängigkeit zwischen ihr und der Straße, in die sie einmündet, Bedeutung zu. Das Maß der Abhängigkeit ist deshalb von besonderem Gewicht, weil eine Verkehrsanlage ohne Verbindungsfunktion (Sackgasse) ausschließlich auf die Straße angewiesen ist, von der sie abzweigt, sie darin einer unselbständigen Zufahrt ähnelt und deshalb der Eindruck der Unselbständigkeit häufig auch noch bei einer Ausdehnung erhalten bleibt, bei der eine Anlage mit Verbindungsfunktion schon den Eindruck der Selbständigkeit erweckt. Bei Zugrundelegung dieser Kriterien ist davon auszugehen, dass eine öffentliche, für das Befahren mit Kraftfahrzeugen aller Art vorgesehene, bis etwa 100 m lange und nicht verzweigte Sackgasse (Stichstraße), die eine ihrer Ausdehnung nach angemessene Anzahl von Grundstücken erschließt, regelmäßig als erschließungsrechtlich unselbständig zu qualifizieren ist, während eine derartige Sackgasse als selbständig zu beurteilen ist, wenn sie entweder länger als 100 m ist oder vor Erreichen dieser Länge (mehr oder weniger) rechtwinklig abknickt oder sich verzweigt (Beschluss des Senats vom 20.01.2005 - 9 ME 109/04 -).

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Ausgehend von diesen Kriterien ist die „F. -Straße“ keine selbständige Straße i. S. des § 6 Abs. NKAG i. V. m. § 1 Abs. 1 Straßenbaubeitragssatzung der Antragsgegnerin. Denn die Sackgasse hat bis zum Ende der abknickenden Straßenfläche lediglich eine Länge von gerade einmal ca. 43 m, ist allein über den Hauptstraßenzug mit dem öffentlichen Verkehrsnetz verbunden, also vollständig von diesem abhängig, und vermittelt selbst lediglich drei Grundstücken eine Erschließung. Maßgeblich ist nach der zitierten Rechtsprechung das tatsächliche äußere Erscheinungsbild, das sich einem am Beginn der Sackgasse am Hauptstraßenzug stehenden unbefangenen Beobachter bietet. Dieser gewinnt vom maßgeblichen Standort in der Mitte der Einmündung der „F. -Straße“ in die „E. -Straße“ den zutreffenden Eindruck, dass die Straße in einer als Park- und Wendeplatz genutzten breiteren Straßenfläche endet und sich nicht abknickend fortsetzt. Ausweislich der von der Antragsgegnerin vorgelegten Lichtbilder sind vom maßgeblichen Standort parkende Fahrzeuge am Ende der Sackgasse ohne weiteres erkennbar, denn weder die Bebauung auf dem Grundstück Flurstück 108/41 (E. -Straße G.) noch die dort an der „F. -Straße“ befindliche Vegetation verhindern insoweit vollständig den Ausblick auf den Park- und Wendeplatzbereich. Einem Betrachter drängt sich nicht zuletzt aufgrund der Anordnung der Häuser nicht der Eindruck auf, die „F. -Straße“ werde sich nach dem Abknicken weiter fortsetzen. Diesem Eindruck wird auch dadurch entgegengewirkt, dass die Straße in diesem Bereich keinen Gehweg, keinen Radweg und keine Beleuchtung aufweist, was eher für eine unselbständige Zufahrt charakteristisch ist.

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Aus der Feststellung, dass die „F. -Straße“ als unselbständiger Bestandteil der „E. -Straße“ zu werten ist, folgt, dass die sachliche Beitragspflicht für das Grundstück der Antragstellerin erst mit dem Abschnittsbildungsbeschluss des Rats der Antragsgegnerin vom 26. April 2005 entstanden ist und demnach die dann geltende Straßenbaubeitragssatzung in der Fassung vom 2. November 2004 Anwendung findet. Hintergrund dieser Überlegung ist der Ausgangspunkt, dass Straßenausbaubeiträge nur erhoben werden dürfen, wenn der Beitragstatbestand auf der gesamten Länge der ausgebauten Straße verwirklicht worden ist, also die Ausbaumaßnahmen die Straße in voller Länge und mit allen Teileinrichtungen umfassen (Urteil des Senats vom 7.9.1999 - 9 L 393/99 -, Nds.VBl. 2000, 66 m. w. N. zur Rechtsprechung des 9. Senats). Deshalb ist zur Entstehung der sachlichen Beitragspflicht eine Abschnittsbildung erforderlich, wenn nur - wie hier - eine Teilstrecke der Straße im Rechtssinne ausgebaut worden ist. Diese Abschnittsbildung erfolgte erst mit Beschluss des Rates der Antragsgegnerin vom 26. April 2005. Die zu diesem Zeitpunkt anwendbare Straßenbaubeitragssatzung in der Fassung vom 2. November 2004 sieht für die Verteilung des Aufwands nach dem kombinierten Grundstücks- und Geschossflächenmaßstab (§ 5) nunmehr unter § 7 Abs. 4 eine Zugrundelegung der tatsächlich auf dem bebauten Grundstück vorhandenen Geschossflächen für Grundstücke vor, die - wie hier - nicht in einem Bebauungsplangebiet aber ganz oder teilweise innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils im Sinne des § 34 BauGB liegen. Diese im Vergleich zu § 7 Abs. 4 der Straßenbaubeitragssatzung vom 6. Juni 1989 geänderte Bemessungsgrundlage führte zu der Erhöhung des Straßenausbaubeitrages im Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2005, die deshalb rechtlich nicht zu beanstanden ist.